»Moby Dick« auf dem Kindle
Jena, 27. Februar 2014, 17:16 | von Guest Star(Ein Erlebnisbericht von Konrad Linke,
noch als kleiner Nachtrag zur
Friedrich-Forssman-Debatte neulich.)
Weihnachten 2011 wünschte ich mir also ein Kindle. Meine Mutter schenkte es mir gern: ein Stück Technologie, das offensichtlich der sinnvollen Beschäftigung diente. Gemäß meinem Wunsch »a regular Kindle for a regular guy« bekam ich die Standardvariante, Schwarzweißbildschirm, ohne Touchscreen. Mein Plan war, zunächst einige Klassiker der Weltliteratur zu lesen, die es angeblich kostenlos zum Download gab.
Da ich damals zu Hause kein Internet hatte, gerieten aber das Kindle und der damit verknüpfte Plan schnell aus meinem Blickfeld. Zum Glück ging irgendwann meine Waschmaschine kaputt. Der örtliche Waschsalon – »Steffen´s Waschsalon« – verfügt über ein freies WLAN und da erinnerte ich mich auch wieder an mein Kindle. Etwa ein Jahr, nachdem ich das Gerät erhalten hatte (meine Waschmaschine ging erst Ende 2012 kaputt), war ich endlich damit online.
Als erstes Buch lud ich mir »Moby Dick: or, the White Whale« von Herman Melville herunter. Es war tatsächlich kostenfrei, allerdings war es natürlich keine kritische Edition, sondern die Sparvariante aus irgendeinem E-Text-Korpus. Ein Inhaltsverzeichnis gab es nicht, die Anmerkungen des Autors hingegen hatte man mitdigitalisiert.
Statt Seitenzahlen befand sich am unteren Ende des Displays eine Prozentleiste, nach rund zehnmal umblättern ging es einen Prozentpunkt weiter. Nach einer Woche war ich bei Kapitel 4 bzw. zwei Prozent angelangt.
Die ersten Kapitel waren unterhaltsam, und zudem lernte ich ein paar neue Wörter, wie ›vertebra‹ (›Wirbel‹) und ›descry‹ (›erspähen‹, üblicherweise in der Kollokation »a ship was descried«). Außerdem gefiel mir die Möglichkeit, Textpassagen zu markieren und abzuspeichern. Die Textpassagen haben dann sogar eine Seitenangabe, zum Beispiel:
Like a nob of young collegians, they are full of fight, fun, and wickedness, tumbling round the world at such a reckless, rollicking rate, that no prudent underwriter would insure them anymore than he would a riotous lad at Yale or Harward. Seite 372 | Pos. 5706-8.
Oder:
And thus there seems a reason in all things, even in law. Seite 392 | Pos. 6009-12.
Oder:
Would that I could keep squeezing that sperm for ever! Seite 393 | Pos. 6015-16.
Derartig geistreiche Passagen sind natürlich schön, sonst jedoch passierte im Buch nicht viel. Bei 60 Prozent verließ mich die Motivation. Was auch daran lag, dass ich mich damals nicht mehr regelmäßig über die neuesten Marotten des Käpt’n Ahab austauschen konnte, wie ich das sonst mit einer Mitdoktorandin während der Mittagspause immer getan hatte. Da sie aber kurz vor der Abgabe ihrer Dissertation stand, musste sie ihre »Moby Dick«-Lektüre unterbrechen.
Zum Glück lernte ich zu dieser Zeit auf der Hochzeit meines besten Freundes eine chinesische Germanistin kennen, die mir auf der Heimfahrt erzählte, dass man Zugang zu »Moby Dick« über Gilles Deleuze erhielt. Deleuze! Das weckte mein Interesse. Kurz nach unserem Gespräch schickte sie mir »Sacher-Masoch und der Masochismus« und später dann sogar auch noch den Text, den sie eigentlich gemeint hatte.
Das half. Der Deleuze-Schwung trug mich etwa 30 Prozent weiter bei meiner Lektüre des »Moby Dick«, bis ich bei 90 Prozent erneut feststeckte. Wiederum war nicht viel passiert, die Pequod schipperte noch immer im Pazifik, vom Weißen Wal fehlte jede Spur. Doch eines Nachts wachte ich gegen 2 Uhr auf, nahm das Kindle zur Hand und las weiter. Bei 92 Prozent kam ein Kapitel namens »The Chase – First Day«. Wenn das nicht der Anfang eines epischen Endes war, was dann?
Und tatsächlich! Bei 97 Prozent wurde Ahab – Achtung, Spoiler! – von Moby Dick in die Tiefe gerissen.
Was für ein Ende! Ja, die Lektüre war teils ein zähes Ringen um Prozentpunkte, aber die letzten Seiten rissen alles wieder raus. Rasch blätterte ich mich durch die verbliebenen 3 Prozent – ein ausführliches Etymologie-Kapitel, in dem Wal-Referenzen in der Weltliteratur ausgelistet standen (Plutarch, Rabelais, Shakespeare etc.). Als ich die letzte Seite erreicht hatte (99 Prozent) und umblätterte, las ich jedoch Folgendes:
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– David Copperfield (Illustrated) von Charles Dickens
[…]
Das nur mal zur etwas, äh, problematischen Aura des Literaturwerks im Zeitalter seiner technischen E-Book-barkeit. Ohne, dass ich jetzt gleich mit Friedrich Forssman komme: »Zur Ästhetik des E-Books kann ich gar nichts schreiben, denn es gibt sie nicht.«
Am 28. Februar 2014 um 17:26 Uhr
Wunderbar.
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Bücher halten hunderte Jahre – wie lange hält so ein Gerät? Nächstes Jahr ist es technisch überholt, und in zwei Jahren liegt’s in der Ecke weil’s kaputt ist und man vielleicht doch lieber die Papierbücher mit ins Bett oder auf die Couch nimmt und dann ins Regal stellt.
Irgendwann gibt’s viereckige Räder als neuestes, schickes, „spannendes“ „Gadget“ (ja, so nennt man sowas heute) und auch dafür werden sich wieder zig Leute finden und den Quatsch kaufen.
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Im Regal sieht ein E-Book Scheiße aus.
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Wenn ein Tisch wackelt ist ein richtiges Buch hilfreich.
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Alles, was englisch betitelt ist, ist sowieso ein Schmarrn.