100-Seiten-Bücher – Teil 117
César Aira: »Der Beweis« (1992)
Buenos Aires, 15. Januar 2016, 16:06 | von Paco
In diesem Buch geht es um: den ultimativen Liebesbeweis, ausgeführt als Splatterorgie in einem »Disco«-Supermarkt in Flores, Stadtteil von Buenos Aires, zu Ende der Achtzigerjahre. Doch zunächst spaziert die übergewichtige und 16-jährige Marcia die 15 Cuadras von Caballito aus (also etwa der Subte-Station Primera Junta) die Avenida Rivadavia entlang zur Plaza Flores. Dort wird sie von zwei Punks aufgerissen, »zwei in Schwarz gekleideten jungen Mädchen (…) mit blassen Kindergesichtern«. Die eine heißt Mao und hat sich angeblich spontan in Marcia verliebt, die andere heißt Lenin. Insgesamt ist das also wieder eine dieser typischen Genderüberraschungen bei Aira.
»¿Querés coger?« lautet Maos Eingangsfrage an die vorbeispazierende Marcia (im Erstdruck war das zweite Verb noch teilzensiert, hier die Fußnote 10), und das ist gleichzeitig der erste Satz der Erzählung und unerwarteterweise auch der Beginn eines schönen Gesprächs über die riesengroßen Themen, das Leben, die Liebe. Das frisch zusammengestellte Teenagertriumvirat betritt als Zwischenstation eine Fastfoodkette (»Pumper Nic«, gibt’s heute nicht mehr), wo neben den philosophischen Diskussionen auch ein paar Angestellte angebrüllt werden, »scheiß Missgeburt« und so, wozu ist man schließlich Punk. Und dann geht’s eben in den »Disco«-Supermarkt, die Kette gibt’s heute noch, eine Filiale ist drei Querstraßen von der Plaza Flores entfernt und also eventuell Schauplatz dessen, was dann geschieht.
Der Supermarkt ist ja (wie auch die Fastfoodkette) ein postmoderner Normalfall, in Airas Hundertseiter wandelt sich der universale Einkaufsort in ein postreligiöses Inferno. Ich weiß nicht, ob die aktuelle Supermarktforschung (Supermarktblog?) das Buch kennt. Aber genau wie David Wagners »Vier Äpfel« sollte es einen angestammten Platz in den noch auszurufenden Literary Supermarket Studies finden. Bevor der Splatter beginnt – die Plünderung der Kassen, der grauslige Mord an einigen der 400 anwesenden Kunden und Angestellten, einige schön zu lesenden Explosionen – ertönt der Schlachtruf des Teenager: »Este supermercado ha sido tomado por el Comando del Amor.« Am Ende fliehen sie mit Beute und bewiesener Liebe hinaus in die Nacht von Flores, wo sie, wenn sie nicht gestorben sind, auch heute noch irgendwo sein müssen, Marcia, Mao und Lenin.