Derrida
Lille, 15. September 2016, 22:44 | von NiwoabylWie schon erwähnt lese ich gerade »Für immer in Honig« und habe eben Seite 600 erreicht. Vor zwei, drei Tagen war ich bei einem Kapitel angekommen, in dem zwei »Denker« vorkommen, und zwar tragen sie die Vornamen Jacques und Jürgen. Hahaha! (So hervorragend und empfehlenswert es ist, klingt »FiiH« leider ab und zu ein bisschen nach Jugendwerk, Dath kann oft nicht einfach aufhören, wenn’s gut und witzig ist, sondern muss immer wieder eins drauflegen, und dann kommt irgendwas Plumpes gegen Postmoderne und so.)
Das hat mich dann an Horzon erinnert, bei dem Derrida ja auch eine prominente Rolle spielt, direkt im ersten Kapitel vom »Weissen Buch«, als Haupterlebnis seiner Pariser Zeit (als PDF auf suhrkamp.de, S. 11–13). Und damit dachte ich dann wiederum sofort an Gespräche mit Österreichern, denen ich erklären musste, dass ich ja wirklich Franzose bin, aber mit Derrida nichts anfangen kann, und sie sagten, wie ist das möglich.
Da fiel mir auf: Ich habe eigentlich bislang überhaupt nur mit Deutschen und Österreichern über Derrida geredet (d. h., eigentlich sie von Derrida erzählen hören), und einmal vielleicht noch mit Amerikanern, aber auf jeden Fall nie mit Franzosen. Ich glaube, mein einziges Derrida-Gespräch auf Französisch fand 2003 statt, ich war gerade eben nach Paris gewechselt, als mir jemand erzählte, im Telefonbuch der ENSianer stehe Derridas private Telefonnummer (was auch stimmte, allerdings unter seinem bürgerlichen Namen Jackie Derrida). Sonst ging es irgendwie nie um ihn.
Als junge Studenten unterhielten wir uns über Foucault, wir lasen Deleuze und zitierten ihn nächtelang, wir führten Debatten über Strukturalismus in seiner Softcore- (Barthes) wie in seiner Hardcore-Prägung (Lévi-Strauss). Die ganz Philosophischen entdeckten auch Wittgenstein und Quine und die Sprachphilosophie für sich, die weniger Philosophischen versuchten es halt mit den politischen Autoren, alle mussten irgendwie für oder gegen Bourdieu sein. Wir waren also im Kopf Zeitgenossen unserer Lehrer.
Aber die eigentliche Postmoderne, Derrida und Lyotard, fand bei uns einfach nicht statt. Der vielleicht größte Star der Clique, der in Deutschland und den USA andauernd zitierte, wurde nicht zur Kenntnis genommen. Niemand las das oder wollte das lesen, das war kein Thema und gehörte schlicht und ergreifend nicht zum Kanon. Schwierigkeit könnte natürlich ein Grund sein, aber irgendwie auch nicht, denn einige – ich nicht – waren durchaus auch auf dem Weg zur Lacan-Kennerschaft, und unleserlicher kann selbst Derrida eigentlich nicht sein.