Ein Tisch namens »Fabian« oder Das hässlichste Wort Hessens
Frankfurt/M., 20. Juli 2018, 18:03 | von CharlemagneImmer, wenn es in Frankfurt so unerträglich heiß wird, dass Apfelwein als Erfrischungsgetränk seinen alternativlosen Höhepunkt erreicht, fährt Jens Becker in den Sommerurlaub und sperrt seine Apfelweinhandlung für zwei bis drei Wochen zu.
Obwohl er das stets Wochen vorher ankündigt, stehe ich in diesem Zeitraum trotzdem zuverlässig und regelmäßig mindestens einmal wie zufällig vor der verlassenen Eingangstür und blicke, halb verzweifelt, halb hoffend, in den dunklen Raum hinein, ohne Chance auf Einlass, der Meister ist immer noch auf Reisen. Gehe ich dann langsam weiter, beschleicht mich das Gefühl, dass der dunkle Raum auch in mich hinein blickt. Vielleicht liegt es am Hausschoppenentzug; vielleicht liegt es aber auch am karogemusterten Tisch, der in der Mitte des dunklen Raumes steht, eine Sonderedition aus der Maison Kitsuné-Serie von e15 namens »Fabian«.
Ein Tisch namens »Fabian«. Was für ein seltsamer Name für einen Tisch, und was für eine seltsame Assoziation, denn plötzlich habe ich ein Bild von Christian Kracht vor Augen, wie er, es war damals zur Hochzeit der sonderbaren »Imperium«-Debatte, in Leipzig bei der Verleihung des Buchpreises steht und ein Buch von Erich Kästner in der Hand hat.
Christian Kracht. Das passt, denn nur ein paar Wochen vorher hat er in seiner Frankfurter Poetikvorlesung den Wunsch geäußert, den »Klang der deutschen Sprache nur durch die Ferne gefiltert wahr[zu]nehmen«, und genau so geht es mir seitdem mit dem hässlichsten Wort Hessens, dem »Äppler«.
Ursprünglich als Kunstwort zur Umsatzsteigerung vom Unternehmen Possmann in den 90er-Jahren eingeführt (siehe hierzu auch die entsprechende Notiz in »Die Grammatik von als und wie« von Frederike Eggs), hat es sich mittlerweile fast flächendeckend in Hessen als umgangssprachliche Bezeichnung für Apfelwein ausgebreitet, und jedes Mal, wenn irgendwo das Wort auftaucht, sträuben sich mir die Nackenhaare und ich verlasse fluchtartig den Ort des Grauens.
Nicht nur, dass das Wort, geschrieben und/oder ausgesprochen, unglaublich dumpf und obszön daherkommt; es ist auch schlichtweg falsch, wie mir es der Wirt der Gaststätte Zu den drei Steubern in der Dreieichstraße, Wolfgang Wagner, vor vielen Jahren einmal in seinem unnachahmlichen Idiom erklärt hat. Nachdem ihm ein Gast mit der Aufschrift »Äppler Crew« auf dem T-Shirt ins Auge gefallen war, schaute er mich kopfschüttelnd an und fragte: »Äppler? Weißt Du, was ein Äppler ist?« Ich verneinte, neugierig. »Ein Äppler ist ein alter, geiler Bock, der versucht, Frauen ungefragt an die Äppel zu fassen, und sonst nichts. Äppler Crew, haha.«
Wie gesagt, dumpf und obszön, dieses hässlichste Wort Hessens.
Am 8. Mai 2019 um 19:44 Uhr
Der Kampf gegen das häß(!)lichste Wort Hessens – ich schreibe es erst gar nicht – spricht mir aus der Seele. Horribile dictu. Was macht übrigens Wolfgang Wagner aus den Drei Steubern? Nach acht Jahren in und bei Lissabon komme ich im Sommer 2019 hoffentlich mal wieder nach Mitteleuropa. Herzlichst Euer Eberhard Axel WILHELM, von 1968 bis 1975 während des Studiums in Alt-Sachsenhausen sausender Hobby-Lokalreporter.
Am 16. Mai 2019 um 11:25 Uhr
Wolfgang Wagner steht auch weiterhin noch täglich hinterm Tresen und geht seiner Lebensaufgabe nach. Bis zum Sommer dann, auf einen Schoppen.
Am 8. Juni 2021 um 19:54 Uhr
Der Wirt des Alt-Sachsenhäuser Ebbelweilokales »Zu den drei Steubern«, Wolfgang Wagner (geb. am 24.10.1932), ist am 26.5.2021 verstorben.
Am 10. Juni 2021 um 10:05 Uhr
Lieber Eberhard Axel Wilhelm,
vorgestern wurde Wolfgang Wagner beerdigt und, so habe ich es mir gestern beim Apfelwein berichten lassen, mehr als würdig verabschiedet: es liefen seine liebsten Schlager, bereits am Grab gab es Apfelwein und im Anschluss einen mobilen Ausschank vor den Drei Steubern, organisiert von Jens Becker aus der gleichnamigen Apfelweinhandlung.
Wolfgang Wagner hätte es sehr gefallen!
Ihr
Charlemagne