100-Seiten-Bücher – Teil 125
Marguerite Duras: »Sommer 1980« (1980)
München, 5. Dezember 2018, 10:10 | von Josik
Marguerite Durasʼ »Sommer 1980« ist der Prototyp des Feuilletonismus: Es geht buchstäblich um gar nichts, aber das wird in einem Ton vermittelt, als ginge es um alles. Das kam so: Serge July, der Gründer der Libération, fragte Marguerite Duras, ob sie nicht Lust hätte, für seine Zeitung eine Chronik zu schreiben, »die nicht von der politischen Aktualität oder irgend etwas Aktuellem handelt, sondern von einer anderen Gegenwart, die parallel dazu verläuft, Ereignissen, die mich [= Duras] interessieren und in der normalen Berichterstattung kaum vorkommen« (S. 9). Es dauerte etwas, bis die beiden sich auf die Modalitäten einigen konnten, aber dann stand der Plan: Eine Dreimonatschronik des Sommers 1980 sollte es werden.
Die einzigen Dinge, die nun passieren, sind folgende. Erstens: Marguerite Duras verbringt den Sommer im Küstenstädtchen Trouville, das, weil grade Hochsaison ist, von Touristen überrannt wird. Zweitens: In Durasʼ Häuschen gibt es einen Fernseher, den sie manchmal einschaltet. Sonst passiert nichts. Auf diese Weise entsteht der hanebüchenste Anfang der Weltliteratur: »So schreibe ich denn für Libération. Ich habe kein Sujet. Aber vielleicht braucht es das gar nicht. Ich glaube, ich werde über den Regen schreiben. Es regnet.« (S. 12). Duras schickt also ihre zehn Berichte an Libération, schildert wie vereinbart ihre extrem unaufregenden Erlebnisse und verknust das Ganze mit ein paar Gedanken zur Lage im allgemeinen: Es regnet, Touristen kommen, die Olympischen Spiele in Moskau beginnen, in Trouville regnet’s, Sadat führt den Leichenzug des Schahs von Persien an, Touristen Touristen Touristen, Faschismus nein danke, es regnet.
Aber dann! In ihrem sechsten Bericht bricht Duras in eine unbeschreibliche Euphorie aus. Es beginnen nämlich die Streiks auf der Danziger Werft:
»Ich rufe die Auskunft an, ich erkundige mich nach dem genauen Namen der polnischen Fluggesellschaft. Sogleich antwortet ein junger Mann: LOT, gibt mir die Adresse und Telephonnummer. Er sagt: Sie werden keinen Platz in den Flugzeugen nach Danzig bekommen … Wir unterhalten uns einige Minuten lang. Er ist für den Streik … endlich kann ich mit jemandem über Danzig sprechen … Es ist ein Uhr morgens, auch er hat Lust, sich zu unterhalten … Er fragt mich: wer sind Sie, eine Journalistin? Ich sage: nein, nichts dergleichen, ich hätte nur Lust gehabt, mit jemandem über Danzig zu sprechen. Ach so. Ja, sag ich. Er sagt, es komme oft vor in der Nacht, daß die Leute reden wollten …« (S. 63f.)
Und das ist doch einfach geil, dass die Libération und der Suhrkamp Verlag drucken, wie Marguerite Duras sich dafür abfeiert, dass sie nachts um eins die Auskunft mit der Frage nach dem genauen Namen der polnischen Fluggesellschaft prankt, nur um endlich mit irgendjemandem, und sei es der Auskunftheini, über den Streik auf der Danziger Werft politisieren zu können, und let’s face it, Leute, auch daran, an dieser publizistischen Großtat, ist der Sozialismus letztlich zugrunde gegangen!