100-Seiten-Bücher – Teil 185
Olga Tokarczuk: »Spiel auf vielen Trommeln« (2001)
München, 25. November 2019, 10:45 | von Josik
Es ist ganz wunderbar, wie antiblumig Olga Tokarczuk, die Literaturnobelpreisträgerin des Jahres 2018, in ihren Erzählungen, sobald sie das Wetter schildern möchte, einfach schreibt: »[D]as Wetter war schön« (S. 9). Zum Vergleich: Der Schriftsteller Hugo Bettauer hat in der Wiener Zeitung »Der Tag« vom 27. April 1924 über seinen ehemaligen Klassenkameraden Karl Kraus ziemlich belustigt notiert: »Es ging ihm nicht aus der Feder, zu schreiben: ›Die herrliche Frühlingssonne beleuchtete einen lieblichen Sonntag.‹ Er hätte sich sicher damit begnügt, zu sagen: ›Es war Frühling und die Sonne schien.‹ Es war direkt zum Verzweifeln«.
Nun ist das Wetter aber das langweiligste und unergiebigste aller Themen, deshalb ist es ja so erfrischend, dass Olga Tokarczuk sich diesem albernen Wetterbeschreibungsweltliteraturcontest einfach verweigert. Stattdessen heißt es bei ihr hyperlakonisch: »Und das Wetter war herrlich, wie es im Mai so ist« (S. 24). Oder bei einer Szene, die Anfang Januar spielt: »Der Abend kam sehr schnell, wie es um die Jahreszeit üblich ist« (S. 43). Und in einer weiteren Erzählung heißt es kurz: »Damit begann dann ein seichtes Gespräch über das Wetter« (S. 125). Genial!
Olga Tokarczuk: Spiel auf vielen Trommeln. Erzählungen. Aus dem Polnischen von Esther Kinsky. Mit einem Nachwort von Katharina Döbler. Berlin: Matthes & Seitz Verlag 2006. S. 3–135 (= 133 Textseiten).
(Einführung ins 100-Seiten-Projekt hier. Übersicht über alle Bände hier.)