100-Seiten-Bücher – Teil 209
Marie Darrieussecq: »Hiersein ist herrlich. Das Leben der Paula Modersohn-Becker« (2016)
München, 25. August 2020, 12:15 | von Josik
Biografien liest man bekanntlich nicht, um etwas über das Leben der Person zu erfahren, über die die Biografie geschrieben wurde. Wenn man etwas über das Leben von mehr oder weniger prominenten Personen erfahren möchte, kuckt man einfach auf Wikipedia nach. Biografien liest man natürlich nur, um etwas über die Person zu erfahren, die die Biografie geschrieben hat: Wer ist sie? Wo kommt sie her? Was denkt sie? Interessiert sie sich für die Person, über die sie die Biografie geschrieben hat? Usw.
Diese Biografie der supersten Malerin Paula Modersohn-Becker stammt von Marie Darrieussecq, die aus Frankreich kommt und für ihr Buch u. a. in Norddeutschland recherchiert hat, danach aber wieder nach Hause gereist ist, wie wir erfahren: »Von Bremen nach Paris fliegt man in nur anderthalb Stunden« (S. 26). Eines ihrer Rechercheergebnisse über Paula Modersohn-Becker lautet: »Paula Becker ist der Name eines Mädchens, dessen Vater Becker hieß und dem man den Vornamen Paula gegeben hat« (S. 33).
Es geht in diesem Buch nicht nur um Paula Becker und Otto Modersohn, sondern auch um die mit ihnen befreundeten Pärchen Clara Westhoff und Rainer Maria Rilke sowie Martha und Heinrich Vogeler. Die Autorin stellt allerdings klar: »Sie nenne ich Paula, ihn nenne ich Rilke. Ich bringe es nicht fertig, ihn Rainer Maria zu nennen« (S. 33). Danach dauert es noch sechs Seiten, bis Marie Darrieussecq über ihren Schatten springt und es in einem schier übermenschlichen Kraftakt bewundernswerterweise dann doch fertigbringt, Rilke nicht Rilke zu nennen: »1901 ist das Jahr der Hochzeiten. Paula und Otto, Clara und Rainer Maria, Heinrich Vogeler und Martha« (S. 39). Die Tatsache, dass permanent geheiratet wurde, wirft natürlich die Frage nach dem Vollzug der Ehe auf. Was denkt die Autorin? Hier ist die Antwort, die uns interessiert, aber auch überrascht: »Wenn ich das französische Wort für ›vollzogen‹ höre, ›consommé‹, dann denke ich an Bouillon und die darauf schwimmenden Augen« (S. 51).
Marie Darrieussecq hat auch den Briefwechsel zwischen Paula (Modersohn-Becker) und (Rainer Maria) Rilke ausgewertet. So erfahren wir, was alles in dieser Korrespondenz nicht steht: »Als Paula an Rilke schreibt, erwähnt sie weder große Brüste noch blinden Arsch« (S. 37). Kurz vor Ende dieser genialen Biografie verrät Marie Darrieussecq dann endlich, worauf wir alle schon die ganze Zeit hingefiebert haben: Was hält denn eigentlich sie selbst von Rilke? Voilà: »Rilke ist nicht mein Lieblingsschriftsteller« (S. 115). Ach, dieser Rilke, dieser entsetzliche Rilke!
Marie Darrieussecq: Hiersein ist herrlich. Das Leben der Paula Modersohn-Becker. Aus dem Französischen von Frank Heibert und Patricia Klobusiczky. Zürich: Secession Verlag 2019. S. 3–121 (= 119 Textseiten).
(Einführung ins 100-Seiten-Projekt hier. Übersicht über alle Bände hier.)