100-Seiten-Bücher – Teil 220
Adele Schopenhauer: »Haus-, Wald- und Feldmärchen« (1844)
München, 17. April 2021, 22:01 | von Josik
Das Hausmärchen ist toll, das Waldmärchen ist fantastisch, aber das Feldmärchen ist der Hammer. »Ein wunderlich aussehender Literat«, heißt es da, »hatte die arme Grisette dann und wann besucht. Man wußte nicht, was er für ein Landsmann, es kannte ihn auch niemand näher; nur erzählte man, daß er der Verfasser der artigen Vaudevilles sei, die eben in Paris en vogue waren und sehr gefielen« (S. 89). Was ein Vaudeville eigentlich ist, ist leicht zu beschreiben. Der Unterschied zwischen einem bedeutungsträchtigen Stück und einem Vaudeville ist ungefähr folgender: In einer seriösen Inszenierung hätte man den Hamlet mit Bruno Ganz besetzen müssen, in einem Vaudeville hätte man den Hamlet mit Dieter Thomas Heck besetzen müssen.
Nun gibt es hier eine auffällige Koinzidenz: In Buchform sind Adele Schopenhauers »Haus-, Wald- und Feldmärchen« erstmals nämlich 1844 erschienen, und 1844 ist auch das Geburtsjahr von Anatolij Fjodorowitsch Koni! Anatolij Koni ist der berühmteste russische Richter überhaupt, weil er im Prozess gegen Vera Sassulitsch den Vorsitz führte. Vera Sassulitsch hatte 1878 dem St. Petersburger Stadthauptmann, weil der ein Schuft war, in den Arm geschossen. Daraufhin wurde sie angeklagt, und das Geschworenengericht fällte ein überraschendes Urteil: Vera Sassulitsch wurde freigesprochen. Huch! Warum? Na wie gesagt: Weil der Stadthauptmann ein Schuft war. Über diesen Prozess schrieb Koni später ein Buch. In dem Buch steht ein irrer Satz: »Ein Gericht ist kein Theater«. Richtig ist natürlich das Gegenteil: Jedes Gericht ist ein Theater. Ein interaktives Theater: Vorne gibt’s eine Bühne, hinten gibt’s einen Zuschauerraum, vorne kommen Leute auf die Bühne, die lustige Klamotten tragen, und sobald sie die Bühne betreten, werden die Leute im Zuschauerraum ins Spiel einbezogen und sie müssen erst aufstehen, dann müssen sie sich gleich wieder hinsetzen. Sehr lustig!
Anatolij Fjodorowitsch Koni hätte natürlich wissen können, dass das Gericht ein Theater ist, schließlich war sein Vater Fjodor Alexejewitsch Koni von Beruf Dramenautor und hat das Vaudeville in Russland sozusagen überhaupt erst eingeführt. Koni sen. hat unzählige Vaudevilles verfasst, bearbeitet und übersetzt. Es gibt darüber eine grandiose Dissertation von Monika Katz: »F. A. Koni und das russische Vaudeville – Zur Geschichte des Unterhaltungstheaters in St. Petersburg 1830–1855«.
Usw.
Adele Schopenhauer: Haus-, Wald- und Feldmärchen. Herausgegeben von Karl Wolfgang Becker. Mit Scherenschnitten von Adele Schopenhauer. Berlin: Buchverlag Der Morgen 1987. S. 3–110 (= 108 Textseiten).
(Einführung ins 100-Seiten-Projekt hier. Übersicht über alle Bände hier.)