100-Seiten-Bücher – Teil 223
Grazia Deledda: »Von der toten Insel« (1905)
München, 21. April 2021, 11:11 | von Josik
Zuerst die Fakten: Die italienische Literaturnobelpreisträgerin Grazia Deledda ist 1936 gestorben, und ein handelsüblicher Backofen von Ikea ist heutzutage nur noch rund 60 cm hoch, etwa 59 cm breit und ca. 55 cm tief. Jetzt zur Fiktion: »Familie Marvu« lautet der Titel einer der insgesamt neun supersten Deledda-Storys, die in diesem Band versammelt sind. Der Schlawiner Badora erzählt den Kindern in der Großfamilie Marvu dort folgende Geschichte:
Ein Klosterbruder besuchte eine verheiratete Frau. Der Ehemann war auswärts. Die Frau und der Mönch essen Abendbrot. »Auf einmal klopft es an der Haustür, und was tut die Frau? Sie schiebt den Klosterbruder und das ganze Essen in den Backofen. Dann macht sie die Tür auf, und ihr Mann kommt mit einem Bekannten herein und fragt: ›Hast du nichts zu essen für uns?‹ Die Frau hatte ein altes gedrucktes Buch; das nimmt sie jetzt und sagt: ›Büchlein, befiehl, daß eine Schüssel Maccheroni erscheint!‹ / Der Bruder schiebt die Schüssel mit Maccheroni aus dem Ofen, und der Mann und sein Freund sperren vor Verwunderung den Mund auf. / ›Büchlein, befiehl, daß eine Schüssel mit Braten erscheint! Und die Schüssel mit Braten kommt‹« (S. 35).
Nachdem sie sich den Magen vollgeschlagen haben, möchte der Bekannte des Mannes, ein reicher Bauer, der Frau das Wunderbuch abkaufen. Sie feilschen ein bisschen. Er bietet hundert Skudi. Sie sagt, sie gebe es ihm nicht für tausend. Er bietet zweihundert. Sie fordert dreihundert. Er gibt ihr dreihundert und geht voller Freude mit dem Buch nachhause. »Die Frau und der Mann gingen ganz vergnügt zu Bett und legten die dreihundert Skudi unter ihr Kopfkissen. Und als sie schliefen, kroch der Bruder aus dem Ofen und kehrte in sein Kloster zurück« (S. 36).
Die Kinder fragen: »Und dann?« (S. 36) »›Nichts weiter‹, antwortet Badora. ›Die Geschichte ist aus.‹ / ›Mama‹, schrie jetzt Diego, ›Mamma mia, Badora erzählt den Kleinen Schweinereien!‹ […] / ›Ja‹, sagte Signor Giovanni, ›das sind doch keine Geschichten für Kinder!‹« (S. 36)
Grazia Deledda: Von der toten Insel. Sardische Dorfgeschichten. Autorisierte Uebersetzung aus dem Italienischen von E. Müller-Röder. Stuttgart und Leipzig: Deutsche Verlags-Anstalt 1905. S. 9–140 (= 132 Textseiten).
(Einführung ins 100-Seiten-Projekt hier. Übersicht über alle Bände hier.)