100-Seiten-Bücher – Teil 231
Margaret Cavendish: »Die Gleißende Welt« (1666)
München, 17. Januar 2022, 10:12 | von Josik
1666 (sechzehnhundertsechsundsechzig!) veröffentlichte Margaret Cavendish, die Herzogin von Newcastle, dieses Buch unter diesem ihrem Namen. Die das Buch verfasst habende Person war also auf den ersten Blick als Frau erkennbar, für die damalige Zeit grandios unkonventionell. »Die Gleißende Welt« ist, um es klipp und klar zu sagen, möglicherweise die beste Geschichte, die jemals geschrieben wurde. Ich fasse sie hier kurz zusammen: Ein Kaufmann reist ins Ausland und verliebt sich dort in eine junge Frau. Doch es gibt ein Problem: Sie ist absolut superst und er ist eben Kaufmann, deswegen hat er von vornherein keine Chance bei ihr. Logischerweise will er nicht aufgeben, also entführt er sie. Zusammen mit ein paar Kumpels zerrt er sie auf ein Boot und fährt auf dem Meer davon. Ein Sturm kommt und schleudert das Boot bis an den Nordpol. Dort ist es sehr kalt, also erfrieren die Männer. Die junge Frau hingegen bleibt auch »dank […] der Hitze ihrer Jugend« (S. 10) am Leben.
Das Boot befindet sich nun genau genommen nicht bloß am Nordpol, sondern an der Spitze des Nordpols, d. h. dort, wo der Nordpol auf einen Pol einer anderen Welt stößt. Es ist so: »Wenn jemand an einen dieser Pole gelangt, muß er entweder umkehren oder die andere Welt betreten« (S. 10). In diesem Fall wird der jungen Frau die Entscheidung, ob sie umkehren oder die andere Welt betreten soll, gewissermaßen abgenommen, denn es kommen Bärenmenschen, die die Dame aus dem Boot hinaustragen und dann das Boot mitsamt den toten Männern versenken. Die Bärenmenschen tragen die junge Frau bis in ihre Stadt. Die junge Frau versteht zwar kein Wort von dem, was die Bärenmenschen sagen, aber alle sind supernett zu ihr. Es ist allerdings leider immer noch viel zu kalt für die junge Frau, also bringen die Bärenmenschen die junge Frau in eine andere, wärmere Gegend, und zwar zu den Fuchsmenschen.
Die Fuchsmenschen beschließen zusammen mit den Bärenmenschen, den Gansmenschen und den Vogelmenschen, die schöne junge Frau, anstatt sie rund um die Uhr zu bewundern, dem Kaiser der Gleißenden Welt (so heißt die Welt, in der sie sich nun befindet) zu schenken. Auf dem Weg zum Kaiser fängt die junge Frau an, die Sprache zu erlernen, die in der Gleißenden Welt gesprochen wird. Es dauert noch ein bisschen, bis sie den Weg zum Kaiser zurückgelegt haben, und als sie dort ankommen, sieht sie, dass alles aus Gold ist. Der Kaiser hält die junge Frau für eine Göttin und möchte sie anbeten. Das aber lehnt sie ab und sie erklärt ihm, dass sie eine Sterbliche ist. Da freut er sich natürlich, und sie heiraten.
Die frischgebackene Kaiserin lernt nun auch die übrigen Bewohnerinnen und Bewohner der Gleißenden Welt kennen, also die Wurmmenschen, die Fischmenschen, die Fliegenmenschen, die Ameisenmenschen, die Spinnenmenschen, die Lausmenschen, die Affenmenschen, die Papageienmenschen und viele andere. Jeder Gattung ist ein bestimmter Beruf zugeordnet: So betätigen sich die Bärenmenschen als Experimentalphilosophen, die Vogelmenschen als Astronomen, die Fliegenmenschen, Wurmmenschen und Fischmenschen als Naturphilosophen, die Affenmenschen als Chemiker, die Fuchsmenschen als Politiker, die Spinnenmenschen und Lausmenschen als Mathematiker, die Dohlenmenschen, Elstermenschen und Papageienmenschen als Redner und Logiker usw.
Als nächstes lässt die Kaiserin sich über die Staatsform und die Religion der Gleißenden Welt informieren. Da sie vom Kaiser die unumschränkte Macht über die gesamte Gleißende Welt erhalten hat, gründet sie eine Reihe von neuen wissenschaftlichen Gesellschaften und beauftragt diese, Forschung zu betreiben. Manche dieser Gesellschaften müssen z. B. die Sonne erforschen und den Mond und die Luft und den Wind und Schnee und Blitz und Donner und Quellwasser und Mineralien und Pflanzen und Chemikalien und Rohstoffe und Krankheiten und Arzneien und Geometrie und Rhetorik und die Kabbala und Stubenfliegen, und im Anschluss müssen sie der Kaiserin Bericht erstatten über die Ergebnisse ihrer Beobachtungen und mit ihr über all das diskutieren. Die jeweiligen Diskussionen, die alle extrem super sind, werden bestimmt auf insgesamt vierzig oder fünfzig Seiten beschrieben, also ich fasse die komplette Geschichte hier wirklich sehr kurz und bündig zusammen. Nur drei Beispiele aus diesen Gesprächen seien herausgegriffen.
Erstes Beispiel: Die Kaiserin fragt die Wurmmenschen, ob es in der Erde keine Nicht-Wesen gebe. Die Wurmmenschen antworten, davon hätten sie noch nie etwas gehört, aber möglicherweise seien Nicht-Wesen so etwas Ähnliches wie stofflose Geister, und sie solle doch lieber die stofflosen Geister fragen.
Zweites Beispiel: Die Kaiserin fragt die Affenmenschen, wie es komme, dass das langlebige kaiserliche Geschlecht – einige Angehörige seien vierhundert Jahre alt – so jung wirkt. Die Affenmenschen antworten: Es gibt in bestimmten Gegenden der Gleißenden Welt einen Felsen, der goldenen Sand enthält. Dieser Sand ist innen hohl und bringt eine Art Gummi hervor. Man muss einfach hundert Jahre warten, dann hat der Gummi seine Vollkommenheit erreicht. Wenn man dann diesen vollkommenen Gummi in der warmen Hand hält, löst er sich auf zu einem Öl. Dieses Öl hat folgende Wirkungen: Wenn man einem altersschwachen Menschen täglich eine erbsengroße Menge davon verabreicht, muss er eine Woche lang spucken, dann wirft er Schleim aus, dann erbricht er zuerst blassgelbe, schließlich dunkelgelbe, dann grüne und schließlich schwarze Säfte. Das Erbrechen ist aber überhaupt nicht unangenehm oder so, es kommt nur immer sehr plötzlich.
Diese verschiedenfarbigen Säfte kommen zuerst aus dem Mund raus, dann aus der Nase. Schließlich wird der Körper auch noch durch den Stuhlgang, durch Urin, durch Schweiß, durch Nasenbluten und durch Hämorrhoiden gereinigt. Das alles dauert ungefähr sechs Wochen. Wenn die vorbei sind, dann bricht am ganzen Körper ein dicker Schorf aus, und die Haare, Zähne und Fingernägel fallen aus. Der Schorf öffnet sich dann am Rücken. Das dauert vier Monate. Danach wird der altersschwache Mensch in ein Wachstuch gehüllt, das aus bestimmten Wachsen und Säften zubereitet wird. Die gesamte Verjüngungskur dauert neun Monate. Während dieser Zeit ernährt der besagte Mensch sich ausschließlich von Adlereiern und Hirschkuhmilch. Dann wird die Wachsmembran entfernt, und der ursprünglich alte Mensch sieht aus wie ein zwanzigjähriger Mensch!
Drittes Beispiel: Die Kaiserin ruft ihre Logiker zu sich und möchte wissen, welche Fortschritte sie in der Disputationskunst gemacht haben. Der erste antwortet folgendes: Jeder Politiker ist weise – jeder Spitzbube ist ein Politiker – also ist jeder Spitzbube weise. Der zweite widerspricht: Kein Politiker ist weise – jeder Spitzbube ist ein Politiker – also ist kein Politiker weise. Der dritte argumentiert so: Jeder Politiker ist weise – einige Spitzbuben sind Politiker – also sind einige Spitzbuben weise. Der vierte sagt: Kein Politiker ist weise – einige Spitzbuben sind Politiker – also sind einige Spitzbuben nicht weise. Nun wählen die Logiker ein neues Themenfeld. Einer sagt: Jeder Philosoph ist weise – jedes Tier ist weise – also ist jedes Tier ein Philosoph. Ein anderer sagt, dieses Argument sei falsch, vielmehr verhalte es sich so: Jeder Philosoph ist weise – einige Tiere sind nicht weise – also sind einige Tiere keine Philosophen. Die Kaiserin unterbricht sie und sagt: »[O]bwohl ich eure Gesellschaft nicht auflösen will, werde ich mich doch nie mehr erfreuen, euch zuzuhören« (S. 38).
In der Zwischenzeit hat die Kaiserin auch den Feuerstein kennengelernt, der die Eigenschaft hat, in nassem Zustand zu brennen. Danach lernt sie ein paar stofflose Geister kennen. Sie tauscht mit ihnen Komplimente aus und unterhält sich sehr gut mit ihnen. Als die Kaiserin auf die Idee verfällt, selber eine eigene Kabbala diktieren zu wollen, braucht sie, versteht sich, eine Person, die das für sie aufschreibt. Einer der stofflosen Geister empfiehlt ihr eine ganz bestimmte Schreiberin: die Herzogin von Newcastle. Die Kaiserin nimmt diesen Rat an, woraufhin der besagte Geist die Seele der Herzogin von Newcastle zur Kaiserin schickt. Sie begrüßen sich mit einem seelischen Kuss und plaudern sehr wunderbar miteinander.
Irgendwann reisen die Seele der Kaiserin und die Seele der Herzogin u. a. nach Nottinghamshire, Sherwood und Welbeck. Der Kaiser darf selbstverständlich nicht wissen, dass die Seele seiner Frau verreist ist, deswegen nimmt vorübergehend im Leib der Kaiserin ein stoffloser Geist den Platz ihrer Seele ein. Als die beiden Seelen den Herzog von Newcastle, also die Figur des Ehemanns der Autorin, beim Fechten beobachten, macht die Seele der Herzogin von Newcastle sich Sorgen um ihn und fährt in die Seele ihres Mannes. Die Kaiserin tut es ihr nach, damit sind drei Seelen in seinem Leib und sie verlieben sich alle gegenseitig ineinander, natürlich nur platonisch. Allerdings kommt nun ein stoffloser Geist und berichtet der Seele der Kaiserin, dass der Kaiser zwar nichts von der Abwesenheit ihrer Seele weiß, dass aber der in der Gleißenden Welt zurückgebliebene Körper der Kaiserin sehr traurig und melancholisch ist, weil ihm seine eigene Seele fehlt, und dass diese Traurigkeit schon dem ganzen Hof auffällt. Daraufhin geben sich die Seele der Kaiserin und die Seele der Herzogin einen stofflosen Kuss, sie vergießen stofflose Tränen, und die Seele der Kaiserin reist in die Gleißende Welt und in ihren Körper zurück.
Zuhause angekommen, regiert die Kaiserin wieder sehr weise und geschickt, aber eines Tages erfährt sie, dass in der Welt, aus der sie stammt, praktisch alle Länder Krieg gegen ihr Heimatland England führen und dass England in Gefahr ist, zerstört zu werden. Das tut der Kaiserin sehr leid. Ihr fällt wieder ein, dass man in ihrer Heimatwelt alle Schiffe, weil sie ja aus Holz sind, mit dem Feuerstein in Brand setzen kann. Daraufhin fährt sie mit ihren Streitkräften, also den Wurmmenschen, Vogelmenschen, Fischmenschen, Bärenmenschen usw., in die andere Welt rüber, führt einen brutalen, entsetzlichen, gewaltigen, mörderischen Krieg gegen fast alle Länder dieser Welt, gewinnt ihn, weil sie alle gegnerischen Schiffe mit dem Feuerstein vernichtet hat, und führt England somit zur absoluten Weltherrschaft. Dann fährt sie wieder zurück in die Gleißende Welt und der Kaiser fragt sie, wie es ihr geht. Sie sagt, gut.
Margaret Cavendish: Die Gleißende Welt. Aus dem Englischen übersetzt und mit einem Nachwort versehen von Virginia Richter. München: scaneg Verlag 2020 [faksimilierte Ausgabe von 2001]. S. 5–86 (= 82 Textseiten).
(Einführung ins 100-Seiten-Projekt hier. Übersicht über alle Bände hier.)