100-Seiten-Bücher – Teil 33
Lewis Carroll: »Tagebuch einer Reise nach Rußland im Jahr 1867« (1928/1935)

Berlin, 7. September 2012, 14:45 | von Josik

Günter Grass, der nach Angaben von Sibylle Berg »ungefähr 119« Jahre alt ist, hat vor ein paar Monaten, von der Öffentlichkeit fast gänzlich unbeachtet, ein einzelnes Kapitel aus dem »Butt« neu ausgekoppelt und als Hundertseiter herausgebracht. Das den Tagebüchern von Charles Lutwidge Dodgson entnommene »Russian Journal« ist da freilich eine Auskopplung ganz anderen Kalibers. Auf der Reise nach Russland stellt Carroll fest: »Gewisse Teile von Berlin sehen aus wie ein Schlachthaus für Fossile«, eine Beobachtung, die ja heute noch genauso zutrifft.

Ich lese dieses Buch, weil es so unbeschreiblich toll und voller allerliebster Zeichnungen ist, jedes Jahr etwa zwei Mal, hierin dem Beispiel Christiane Frohmanns folgend, die über Kafkas »Proceß«, eines ihrer Lieblingsbücher, neulich sagte: »Dieses Buch lese ich mindestens einmal im Jahr«.

Felix Philipp Ingold lobt im Nachwort zur deutschen Ausgabe: »Bezüg­lich der Zahlen fällt auf, daß Carroll/Dogdson […] Daten, Termine, Größen oder Distanzen präzis anzugeben pflegt, daß er […] mit genauen Zahlenangaben aufwartet« (S. 126). Dies trifft aber auf folgende, für einen Mathematiker doch recht ungewöhnliche Stelle nicht zu: Am 24. August notiert Carroll, er habe »ein bis zwei Kirchen« (im Original: »one or two churches«) besucht.

Solche Ungenauigkeiten finden sich aber etwa auch in »Dichtung und Wahrheit«, z. B. dort, wo Goethe berichtet, wie er einmal auf den Gedanken verfallen sei, einen Roman »von sechs bis sieben Geschwistern« zu erfinden, und dann zählt er sie allesamt auf: eine Schwester und sechs Brüder. Macht sieben. Aber womöglich zählt der jüngste Bruder gar nicht, einfach aus dem Grund, weil er eben der jüngste ist, oder wie Goethe ihn nennt: das »Nestquackelchen«.

Länge des Buches: > 115.000 Zeichen (?). – Ausgaben:

Lewis Carroll: Tagebuch einer Reise nach Rußland im Jahr 1867. Aus dem Engl. von Eleonore Frey. Hrsg. von Felix Philipp Ingold. Ostfildern: Edition Tertium 1997. S. 3–115 (= 113 Textseiten, einige davon mit hübschen Bildchen vollgepflastert)

Lewis Carroll: Tagebuch einer Reise nach Rußland im Jahr 1867. Aus dem Engl. von Eleonore Frey. Hrsg. von Felix Philipp Ingold. Frankfurt/M; Leipzig: Insel-Verlag 2000.

(Einführung ins 100-Seiten-Projekt hier. Übersicht über alle Bände hier.)

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