100-Seiten-Bücher – Teil 61
Adolfo Bioy Casares: »Morels Erfindung« (1940)
Paris, 16. April 2013, 22:22 | von Niwoabyl
Ich wollte das Büchlein schon seit Ewigkeiten lesen, weil ich mal irgendwo gehört hatte, dort hätten sich Resnais und Robbe-Grillet für »L’Année dernière à Marienbad« bedient. Der Film ist ein großartig verkopftes kryptisches Wunder, und als Orgelmusikfanatiker muss ich ihn einfach als einen meiner Lieblingsfilme betrachten. Außerdem hat mal der liebe Deleuze in einer seiner Vorlesungen mit ihm ein ziemlich grandioses theoretisches Spektakel angerichtet, indem er das Zerwürfnis zwischen Autor und Regisseur auf verschiedene Auffassungen von Zeit und Gedächtnis, mithin auf verschiedene interpretatorische Möglichkeiten zurückführte.
Allein die Idee, gerade wenn man sich nicht einig sei, könne man zusammen ein Meisterwerk aushecken, ist faszinierend; das sieht man auch bei Robert Bresson: Ein mystischer Regisseur verfilmt eine grausame Erzählung aus der Feder eines notorischen Freidenkers, arbeitet dafür mit lauter Filmstars zusammen, mit denen er sich extrem schlecht versteht, am Ende sind alle stinksauer, der Autor dreht sich wie wild im Grabe um, und schon hat man den Film der Filme.
Immerhin hat es richtig gefunkt zwischen Borges und Bioy Casares, eigentlich so gut, dass vielen Bioy Casares nur deswegen überhaupt ein Begriff ist. Selbst auf dem Cover meiner libro-de-bolsillo-Ausgabe vom gemeinsamen Buch »Seis problemas para don Isidro Parodi« steht Bioy Casares‘ Name kleiner gedruckt als Borges‘. Frechheit! Und Borges‘ berühmtes Vorwort für »Morels Erfindung« klingt, hat man die Geschichte gelesen, wie üble Vereinnahmung. Was hat diese lahme Polemik gegen psychologische Prosa und für den Abenteuerroman denn hier zu suchen? Wenn das kleine Buch ein Abenteuerroman ist, dann einer von der wirklich beschaulich-lyrischen Sorte. Robinson-Crusoe-Situation, Science-Fiction-Anklänge und HG-Wells-Anspielungen hin oder her: Wer auch nur die wunderbaren ersten und letzten Paar Sätze gelesen hat, weiß schon Bescheid: Die Grundstimmung ist elegisch.
Obwohl die Beziehung zum Marienbad-Film keine unmittelbare ist, hat das Buch sehr viel mit dem Kino zu tun, auf fantasmagorisch-surreale Weise, und ist in dieser Hinsicht wie eine Weiterentwicklung von Jules Vernes »Karpathenschloss«. Deswegen sollte man eben der Versuchung widerstehen, es zu verfilmen. Viel schöner wäre nämlich, Bioy Casares‘ technisch-moderne Schattenwelt dorthin zu überführen, wo er eigentlich hingehört: in die Ästhetik der Barockoper. Morel würde sich in der Gesellschaft von Ariostos Zauberinnen sicher geborgen fühlen, und im Falle nicht verlässlichen Zaubers wäre er ihnen auch nicht der schlechteste Berater.
Adolfo Bioy-Casares: Morels Erfindung. Roman. Aus d. Span. übers. von Karl August Horst. Mit e. Nachw. von Jorge Luis Borges. München: Nymphenburger Verl.-Handl. 1965.
Adolfo Bioy Casares: Morels Erfindung. Roman. Aus dem Span. von Gisbert Haefs. Mit einem Nachw. von René Strien. Frankfurt/M.: Suhrkamp 2003.
(Einführung ins 100-Seiten-Projekt hier. Übersicht über alle Bände hier.)