Über »Die Wohlgesinnten« (Teil 10 und Schluss):
Der Muttermord und der erste Satz des Romans

Leipzig, 20. November 2008, 07:50 | von Paco

»Die Wohlgesinnten« beschreiben insgesamt eine Verschiebung des Verdrängungsphänomens bezüglich des Zweiten Weltkriegs und des Holocaust. Max Aue verdrängt eben nicht den Holocaust, seine Verstrickung, seine Verantwortlichkeit. Die erinnert und rechtfertigt er sehr dezidiert. Was er verdrängt, ist etwas anderes: seine Familientragödie, die nicht unmittelbar mit dem Kriegsgeschehen zu tun hat.

Auf der Ebene des Textes wird nicht ganz explizit, dass Max nun tatsächlich seine Mutter und Moreau, ihren neuen Ehemann, umgebracht hat. Das liegt daran, dass sich der Ich-Erzähler zum entscheidenden Zeitpunkt in einem Delirium der Verdrängung befindet.

Wer aber soll sonst der Mörder gewesen sein? Schon diese rhetorische Frage genügt unter Umständen zur Begründung. Aber auch eine genaue Textbetrachtung lässt keinen Zweifel übrig.

Nachdem er in Paris in einem Spiegel das Gesicht seiner Mutter imaginiert, der »läufigen Hündin« (S. 720), beschließt Aue, sie und ihren neuen Mann in Antibes zu besuchen:

»Mein panisches, kopfloses Denken hatte sich in den altbekannten heimtückischen Mörder verwandelt; (…). Schließlich ließ sich ein Gedanke fassen: Ich betrachtete ihn mit Abscheu, aber da kein anderer seinen Platz einnehmen wollte, musste ich ihm schließlich sein Recht zugestehen.« (S. 720)

« Ma pensée emballée, affolée, s’était muée en vieil assassin sournois ; (…). Enfin, une pensée se laissa saisir : je la contemplai avec dégoût, mais comme aucune autre ne voulait venir prendre sa place, je dus bien lui accorder son dû. » (pp. 735-736)

Welcher »Gedanke« das ist, wird schnell klar. Dabei wird er in Antibes willkommen geheißen, und obwohl er seine Animositäten sorgfältig pflegt, scheint es zunächst ein ganz normaler Besuch zu werden.

Nachdem Aue allerdings aus einem seltsamen Schlaf erwacht (S. 740), findet er seine Mutter und Moreau tot auf. Er rätselt, wer der Mörder sein könnte, verdrängt dabei aber, dass alles, wirklich alles dafür spricht, dass er es selber gewesen ist, der »altbekannte heimtückische Mörder«. Unmittelbar vor der Tat hatte Aue seinen Aufenthalt in Antibes rekapituliert, seinen Erinnerungsfilm an die familiäre Leidenszeit,

»und ich sagte mir, dass ich gesehen hätte, weswegen ich gekommen sei, auch wenn ich nicht genau sagen konnte, was das war; ich dachte schon an Abreise.« (S. 739)

« et je me dis que j’avais vu ce que j’étais venu voir, même si je ne savais toujours pas ce que c’était ; déjà, je songeais à partir. » (p. 755)

Er war also gekommen, um seine Mutter und Moreau zu sehen, das Defizit des verlorenen Vaters, den Verrat der Mutter zu spüren und dann zur Tat zu schreiten. Littell zelebriert hier überdeutlich den Bezug zur Orestie, deren Strukturvorbild er ja ständig betont hat.

Nachdem Aue den Tatort so schnell wie möglich wieder verlassen hat, wird er irgendwann von den beiden Kriminalkommissaren Clemens und Weser aufgesucht (deren Namen sich Littell aus Klemperers »LTI« entliehen hat, siehe Wikipedia), die ihn nun bis zum Romanende verfolgen werden.

Sie treiben ihren Verdächtigen mit immer neuen Fakten allmählich in die Enge, auch wenn Himmler persönlich die Untersuchungen zwischenzeitlich unterbindet, da Aue »rassisch unbedenklich«, des Muttermordes unfähig sei (S. 1053). Trotzdem lassen die »beiden Bulldoggen Clemens und Weser« nicht von ihm ab. Sie folgen ihm sogar bis nach Budapest (S. 1118-1120) und Pommern.

Einige Rezensenten setzen die beiden Polizisten schon mit den »Wohlgesinnten« des Titels gleich, aber so einfach ist es sicher nicht. Denn was bedeutet es dann, dass die beiden penetranten Ermittler am Ende des Romans tot sind? Aue beendet seine Niederschrift ja nicht als Erlöster, im Gegenteil.

»Wie es gewesen ist«

Als die Russen schon das Zentrum Berlins erreicht haben, wird Aue von Clemens und Weser in einem überfüllten U-Bahn-Schacht gestellt. Trotz der sich überschlagenden Kriegsereignisse haben sie scheinbar nichts anderes zu tun als Aue zu überführen: »Wir wollen Gerechtigkeit«, sagen sie. »Wir erzählen dir jetzt, wie es gewesen ist« (S. 1344) – « On va te raconter comment ça s’est passé » (p. 1377).

Aue habe Moreau mit Axthieben getötet, unter den Augen der Zwillinge, dann oben seine Mutter erwürgt. Der Wortlaut der Ankündigung – »wie es gewesen ist« – entspricht dem Romananfang und bietet eine Alternative zu Aues Version. Indem dieser aber auf seiner Version beharrt, muss der Akzent beim ersten Satz des Romans auf dem »mich« liegen (Christian Berkel zum Beispiel betont es nicht so):

»Ihr Menschenbrüder, lasst mich euch erzählen, wie es gewesen ist.«

« Frères humains ; laissez-moi vous raconter comment ça s’est passé. »

Und noch ein drittes Mal ertönt dieser Wortlaut, in Himmlers 2. Posener Rede (6. 10. 1943). Der Reichsführer-SS erzählt vor den Gauleitern einmalig ohne Tarnvokabeln von der Judenvernichtung, um »auch über diese Frage einmal ganz offen zu sprechen und zu sagen, wie es gewesen ist« (S. 930). Um sie alle daran zu erinnern, dass sie mitschuldig sind, um sie letztgültig zu motivieren, diesen Krieg doch noch zu gewinnen.

Littell hat diese historisch belegte Passage übrigens nicht mit dem »comment ça s’est passé« übersetzt, sondern so: »(…) pour vous dire comment sont les choses« (p. 951).

Wie dem auch sei: Im dreimaligen »Wie es gewesen ist« laufen Aues persönliche Familientragödie und der Holocaust zusammen. Es summiert sich zu jenem »ganzen Gewicht der Vergangenheit« (S. 1358), das Aue von den Wohlgesinnten bis zu seinem eigenen Tod hinterhergeschleppt wird.

11 Reaktionen zu “Über »Die Wohlgesinnten« (Teil 10 und Schluss):
Der Muttermord und der erste Satz des Romans”

  1. Gregor Keuschnig

    Schöner Schluss mit einigen für mich neuen Aspekten.

    Fast ein bisschen erstaunlich, aber durchaus annehmbar, dass ein Aspekt der Persönlichkeit Aues gar nicht thematisiert wurde (vielleicht weil er überall thematisiert wurde und sehr schnell zu wüsten Interpretationen führt)…

  2. Paco

    Danke, Gregor! Aber welchen Aspekt meinst du jetzt genau? Es stimmt natürlich, ich hab einiges weggelassen. Ich hab auch noch Stoff für 20 weitere Folgen, aber dann nehmen mir die anderen Umblätterer meinen Account weg, Drohungen in dieser Richtung gab es schon.

    Über zwei Sachen will ich aber irgendwann noch was machen, über die wirklich famose Strukturanalyse des Romans von Lyonel Baum und die Teilrezeption von ANH.

    Gerade die Teilrezeption interessiert mich, auch generell, weil angelesene oder nur halb gelesene Bücher ja andere Bücher sind. Ich kenne eine Handvoll Leute, die genau bis Seite 400 gekommen sind (oder Seite 600 oder 800). Dann dominiert in der Diskussion naturgemäß immer die SS-ploitation des Romanbeginns. Aber Mandelbrod etwa taucht erst sehr spät auf, ebenso Himmler, Eichmann usw. Und bis zu diesen Stellen ist es ja doch ein anderes Buch.

    Dass übrigens Littell im Original das dreifache »comment ça s’est passé« vergeigt hat (wer weiß, welche Übersetzung der Himmler-Rede er benutzt hat), bestätigt im Nachhinein noch einmal alles, was bisher über das literarische Niveau des Autors bereits geschrieben wurde, hehe.

  3. Gregor Keuschnig

    Naja, Du kannst gerne „Asyl“ bei mir haben…

    Ich meine die polymorph perverse Sexualität Aues, die ja mehr als „nur“ eine Homosexualität hat. Für mich sind das kalkulierte Skandälchen, die Littell da hineinmontiert hat um es dem Spiesser Leser mal so richtig zu zeigen, was für ein toller Hecht er ist.

  4. Paco

    Ach so, ja. Das fand ich jetzt nicht so spannend, natürlich bis auf den Satz mit dem Sperma und dem Sicherheitsdienst, der ist wirklich gut. Ansonsten merkt man dem Thema, wie du schon schreibst, die Kalkuliertheit an.

    Der literarische Tiefstpunkt war für mich übrigens das Gespräch zwischen Aue und diesem jungen SS-Untersturmführer Partenau auf der Krim (S. 268 ff.). Er will da diesen ach so armen naiven unbescholtenen, aber wissbegierigen Jungen von der Lauterkeit der Homosexualität im Sinne des NS überzeugen und zitiert seitenlang Griechen, offenbar vollständig aus dem Kopf. Derartig ausgedachten Schrott muss man selten lesen.

    Welche von den vielen Schwachstellen im Buch fandst du eigentlich am unterirdischsten, misslungensten? Hast du da einen Favoriten?

  5. Gregor Keuschnig

    Schwer zu sagen, was am misslungensten ist. Es ist so vieles…

    Wie Du auch schon schreibst: Unsäglich langweilig und überhaupt nicht überzeugend war diese Geschichte mit dem Kopfschuss, den Aue in Stalingrad bekommen hatte. Misslungen sind da für mich sowohl die Schilderungen der Halluzinationen als auch die Idee an sich (wobei mir egal wäre, ob so etwas medizinisch möglich ist oder nicht; vermutlich schon).

    Da Aue sozusagen aus der Gegenwart heraus erzählt ist dem Leser klar, dass er irgendwie diesem Stalingrad entkommen muss (obwohl ich ieinmal für kurze Zeit dachte, Aue sei ein Wiedergeborener, der seinen eigenen Tod schildert). Mit konventionellen Mitteln wäre Littell die Rettungsgeschichte für seine Ambitionen wohl zu dröge, also versucht er wohl aus einer Art Originalitätszwang heraus etwas Besonderes.

    Danach kommen gleich die Szenen, in denen Aue im Haus seiner Schwester das Ende des Krieges abwartet und sich ein bisschen schicksalsergeben gibt. Auch hier herrscht Wirrnis und schlechtes Erzählen vor. Natürlich kann man sagen, dass Aue selber wirr ist (halluziniert), aber ich erwarte als Leser von Literatur keine 1:1 Wiedergabe dessen, was vordergründig geschieht.

    Was mich am meisten stört ist diese Mockumentary-Attitüde dieses Buches. Irgendwie ist Aue immer „dabei“ (das erinnert mich an Wooden Allens „Zelig“) und parfümiert die Weltgeschichte mit seinen Kommentaren.

  6. Paco

    Genau, Max Aue als »Tourist Guy«. Immerhin macht er nicht noch einen Abstecher nach el-Alamein und Iwo Jima.

  7. ANH

    Es ist eigenartig mit meiner Teil-Rezeption, auf die Sie ja schon verlinkt haben. Ich brach die Lektüre ab, weil Arbeitsnotwendigkeiten andere Lektüren vordringlich machten, >>>> vor allem des grandiosen Pynchons für meine >>>> Rezension für den FREITAG. Ich nahm die Lektüre aber auch nicht mehr auf, weil ich keine Lust auf die literarischen, geschweige poetischen Ungelenkheiten des Buches mehr hatte. Interessant ist nun, daß, fast parallel mit Ihrem Eintrag zur Rezeption des Littell-Romanes, eine Szene in mir immer wiederkehrt, wie ein reales Erlebnis: nämlich die Massenerschießung und Aues Satz: „Seien Sie lieb zu ihr“ (aus der Erinnerung zitiert, ich hab das Buch gerade nicht zur Hand). Ich werde diese Szene nicht mehr los und habe deshalb überlegt, ob ich die Lektüre nicht tatsächlich wieder aufnehmen sollte, und zwar trotz des Unliterarischen an dem Text. Es g i b t also eine Art Kraft in dem Buch, wenigstens für mich. Und ich bin mißtrauisch, sehr mißtrauisch, ob mein Unwille nicht nur oder auch mit einer unbewußten, bzw. vom Bewußtsein uminterpretierten Abwehr zu tun hat.

  8. Paco

    Diese Szene hatte ich den Pat-Bateman-Allusionen des Romans zugeschlagen. Gregor Keuschnig hat den Fortgang der Szene dann zudem noch als mindestens Kitsch entlarvt.

    Vom Romanende aus gesehen bleibt von ihr nicht viel mehr als das. Für die Beschreibung der Wirkung beim ersten Lesen finde ich Ihre ad-hoc-Kommentierung daher sehr wichtig.

  9. Gregor Keuschnig

    @ANH
    Ich bin mir ziemlich sicher irgendwo gelesen zu haben, dass die Szene mit dem Kind der Realität entsprach und sozusagen historisch verbürgt ist; irgendein SS-Scherge hat hierüber berichtet. Den Link dazu habe ich leider im Moment nicht parat.

    Natürlich geht einem dieser paradoxer Kommentar nahe, weil jeder weiss, was mit dem Mädchen in Wirklichkeit geschieht. Littells Unvermögen der Dimension dieser Szene gerecht zu werden zeigt sich meines Erachtens darin, in dem er »›Seien Sie lieb zu ihr‹, sagte ich völlig idiotisch zu ihm.« (S. 156) – Hervorhebung von mir – schreibt. Warum muss er dieses „idiotisch“ dazuschreiben? Warum dieses dumpfe, unterschwellige Buhlen um das Einverständnis des Lesers, welches über dieser Zuschreibung liegt?

  10. Paco

    @Gregor: In dem Moment, in dem Aue das »völlig idiotisch« nachschiebt (im Original steht das »assez stupidement« am Ende des Satzes), in diesem Moment wird aus Aue Patrick Bateman. Die etwas ungewöhnliche Übersetzung »albernerweise« träfe den Sinn sogar noch etwas besser. Das waren die Stellen (Adverbien und Adjektive brechen den Ernst einer Mordbeschreibung), an denen man in »American Psycho« immer gelacht hat, obwohl gerade wieder ein Hardbody massakriert wurde. Bei dieser Passage, so humoresk die »Wohlgesinnten« sonst auch sein mögen, ist Lachen allerdings sicher das Letzte, was einem einfällt.

  11. ANH

    Ich bin mit Ihrer Kritik völlig einverstanden, aber der Schriftsteller in mir liest automatisch das „idiotisch“ nicht mit, weil die Szene selbst erfaßt wird, d.h. ich lese projezierend. Daß das Buch keine gute Literatur ist, darüber müssen wir, glaube ich, gar nicht mehr sprechen; aber es ist da etwas Potentielles drin, das in seinem Horror schreckt und prägt – anders als American Psycho, wo diese Dimension gar nicht erst erreicht wird. Dort steht immer gleich die Abwehr des Lesers mit hineingeschrieben; bei Littell bleibt die Abwehr im „das ist aber schlecht geschrieben“ stecken.

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