100-Seiten-Bücher – Teil 121
Simone de Beauvoir: »Mißverständnisse an der Moskwa« (1965/1992)
München, 21. Juni 2018, 14:12 | von Josik
So geht diese superste kleine Erzählung los: »Sie blickte von ihrem Buch auf. Wie langweilig, diese alte Leier über die Unzulänglichkeit, zu kommunizieren! Wenn einem was daran liegt, schafft man es schon recht und schlecht. Nicht mit jedem, zugegeben, aber mit zwei oder drei Personen.«
Die zwei Hauptpersonen hier heißen Nicole und André und sind ein französisches Intellektuellenpaar Anfang sechzig, man muss sich beim Lesen also wirklich krass anstrengen, in diesen beiden Personen zwei fiktionale literarische Figuren zu sehen und nicht ein Abziehbild von de Beauvoir und Sartre, und wem das gelingt, congrats!
Nicole und André reisen in die Sowjetunion, es handelt sich mithin um Science-Fiction, denn die Reise findet ausdrücklich erst im Jahre 1966 statt, de Beauvoir hat diese Erzählung aber bereits im Jahre 1965 verfasst. Mit Mascha fahren Nicole und André dann ein bisschen im Land herum, nach Wladimir, nach Leningrad, nach Pskow usw.
Die Gespräche zwischen André und Mascha drehen sich meist um Politik, um die Chinesen und so, dabei werden sehr authentische und zeitlos gültige Dialoge gehalten: »›Wie sieht dieses Jahr die Lage im Kulturbereich aus?‹ ›Wie immer, wir kämpfen‹ […]. ›Und ihr gewinnt?‹ ›Manchmal.‹«
Eines Abends saufen sich im Restaurant Baku alle ein bisschen dezent zu, und nachdem sie ausgeschlafen haben, kommt es zum Showdown: André sagt nämlich, dass sie ja nun zehn Tage länger als ursprünglich geplant in Moskau bleiben, Nicole aber ist außer sich, dass er mir ihr nicht darüber geredet hat. André hingegen ist sich tausendprozentig sicher, dass sie die Zehntageverlängerung gemeinschaftlich ausgemacht haben, nach dem kleinen Besäufnis im Baku. Nicole hinwiederum ist sich tausendprozentig sicher, dass er mit ihr darüber nicht geredet hat.
So schaukelt sich das ganze also krass hoch, Nicole zischt ab und säuft ein bisschen dezent weiter, es ist überhaupt sehr herrlich, wie dezent in dieser Erzählung in Mengen gesoffen wird, und es wird einem sehr gut das Gefühl vermittelt, dass man eigentlich erst dann intellektuell sein kann, wenn man ein bisschen dezent zugesoffen ist.
Nicole bekommt mittlerweile echte Hassattacken auf André, und André denkt den unfassbaren Satz: »[S]ie hat mich nie in Liebe geliebt«, und man wünscht den beiden so sehr, dass sie wieder zusammenkommen, dass sie sich wieder vertragen, dass sie sich wieder versöhnen. Ob sie das am Ende tun? Es wird spannend, bleiben Sie dran!
Simone de Beauvoir: Mißverständnisse an der Moskwa. Eine Erzählung. Deutsch von Judith Klein. Mit einem Nachwort von Judith Klein. Reinbek: Rowohlt 1996. S. 3–82 (= 80 Textseiten).
(Einführung ins 100-Seiten-Projekt hier. Übersicht über alle Bände hier.)