100-Seiten-Bücher – Teil 134
Ursula K. Le Guin: »Nächstes Jahr im September« (1976)
München, 29. Dezember 2018, 23:53 | von Josik
Am entzückendsten ist, wie die 18-jährige Natalie dem 17-jährigen Owen eine Biografie der Brontë-Geschwister zu lesen gibt. Owen stellt fest, dass er von zwölf bis sechzehn im Prinzip das Gleiche gemacht hat wie die Brontë Sisters, nämlich sich Geschichten über erfundene Länder ausdenken. Nur dass das von Owen erfundene Land nicht Angria und nicht Gondal heißt, sondern Thorn.
Thorn ist ein kleine Insel im Südatlantik. In Thorn weht ständig starker Wind. Thorn ist so klein, dass es an seiner weitesten Ausdehnung nur 97 Kilometer misst. Thorn ist von allen anderen Nationen unendlich weit entfernt. Thorn lebt in Frieden und Eintracht mit allen anderen Nationen. Thorn besitzt nicht einmal eine Militärbasis. Thorn hat keine Rollbahn für Flugzeuge und nur einen ganz kleinen Hafen. – Nun fragt die solide Leserschaft sich natürlich zurecht: Aber wovon leben denn die Thorner (Thornesen?)?
Auf diese Frage hat Owen eine geniale Antwort: »Handel trieben sie nur mit der Schweiz, Schweden und San Marino« (S. 55). Und es steht zwar nicht explizit da, aber wenn man diesen klugen Gedanken weiterdenkt und sich dann mal so vorstellt, was die Einheimischen in Thorn wohl so importieren aus der Schweiz, aus Schweden und aus San Marino, dann kommt man drauf, welche Dinge das sein müssen, und dann kommt man auch drauf, dass das ja tatsächlich alles ist, was man zum Leben braucht, nämlich Emmentaler Käse, Billy-Regale und, hehe, Marinowolle. Die Frage, was die Thornesen eigentlich im Gegenzug exportieren, ist allerdings nach wie vor offen.
Ursula K. Le Guin: Nächstes Jahr im September. Protokoll einer Begegnung. Übersetzt von Norbert Lechleitner. Freiburg im Breisgau: Herder 1978. S. 3–96 (= 94 Textseiten).
(Einführung ins 100-Seiten-Projekt hier. Übersicht über alle Bände hier.)