100-Seiten-Bücher – Teil 181
Latife Tekin: »Der Honigberg« (1985)
München, 21. November 2019, 10:15 | von Josik
Von Latife Tekin liegt im Deutschen bisher leider nur der fantastische, wunderliche, einzigartige Roman »Der Honigberg« vor, deshalb ist es höchste Zeit, nun auch ihre anderen Bücher ins Deutsche zu übersetzen, und natürlich nicht nur ins Deutsche, sondern auch in alle anderen Sprachen.
Und so geht »Der Honigberg« los: »In einer Winternacht wurden auf einem Hügel, auf den tagsüber die riesigen Kübelwagen den Müll der Stadt kippten, im Schein mitgebrachter Laternen unweit der Abfallhalden acht Hütten errichtet« (S. 7). Die Hütten werden jedoch vom Sturm weggeblasen, und was übrig bleibt, wird von der Polizei abgerissen, doch werden unmittelbar darauf immer noch mehr Hütten aufgebaut, und zwar so lange, bis die Polizei keine Lust mehr hat, die vielen Hütten abzureißen.
Es entsteht ein ganzes Stadtviertel, auf dem die Frauen und Kinder Müll sammeln, Moscheen werden gebaut, Kaffeehäuser, Bordelle, die Männer suchen Arbeit in den Fabriken, es wird gestreikt usw. usf. Auf dem Hügel lebt auch ein weiser alter Mann namens Gülli Baba: »Den Frauen, die mit ihren Neugeborenen auf dem Arm zu ihm kamen, um ihm die Hand zu küssen und ein Fürgebet zu erhalten, gab er den Rat, die abgefallene Nabelschnur ihres Säuglings in einem Fabrikhof zu vergraben. Das werde den Kindern, so erklärte er, helfen, in der Fabrik Arbeit zu finden, wenn sie groß sind« (S. 30).
Wer sowas für rückständig hält, sollte allerdings bedenken, dass auch heutzutage, in unseren sich für aufgeklärt haltenden Zeiten, im sich für aufgeklärt haltenden Deutschland, in Geburtshäusern empfohlen wird, – nein, nicht die abgefallene Nabelschnur in einem Fabrikhof zu vergraben, aber, was ja noch viel unglaublicher ist: – ein Stück der Plazenta mit Datteln zu ummanteln und zu essen. Das können natürlich alle halten, wie sie möchten; ich jedenfalls esse Datteln am liebsten ohne Plazenta.