100-Seiten-Bücher – Teil 224
Doris Viersbeck: »Erlebnisse eines Hamburger Dienstmädchens« (1910)
Moskau, 12. Mai 2021, 10:31 | von Paco
Gleich im ersten Absatz von Hedwig Richters neuem Buch »Aufbruch in die Moderne« wird ein anderes Buch zitiert, nämlich die »Erlebnisse eines Hamburger Dienstmädchens«, erschienen 1910.
Geschrieben hat es Doris Viersbeck, die 1888 mit knapp 20 Jahren aus der holsteinischen Provinz nach Hamburg kam und dann bis etwa zur Jahrhundertwende bei verschiedenen Herrschaften in Stellung war.
Bis zu ihrer Verheiratung durchlief sie fünf Hamburger Haushalte und geriet dort jeweils an Gebieterinnen, die alle ein eigenes Kapitel bekommen:
- 1. Frau Möller (die ihren Dienstboten gern wurmstichiges Obst anbietet und ihnen vor allem verbietet, bei der Arbeit zu singen).
- 2. Frau Sparr (der schlimmste aller Drachen, das Dienstmädchen denkt am Ende sogar an Selbstmord).
- (Ein zweimonatiges Intermezzo bei der netten Frau Behrens.)
- 3. Frau Nielson (eigentlich freundlich, entpuppt sich aber nach dreieinhalb Jahren auch als boshaft).
- 4. Frau Dähn (die beste Stelle, sie bleibt dort fünfeinhalb Jahre).
Es ist ein Hundertseiter par excellence, man liest ihn in einem Rutsch. Geradeaus und schnörkellos geschrieben, ab und zu angereichert mit angenehm verplapperten Anekdoten.
Doris Viersbeck monitort sowohl kleine als auch systemische Ungerechtigkeiten und kündigt im Zweifelsfall lieber, auch wenn sie das in einem Arbeitsfeld, in dem sehr viel vom jüngsten Dienstzeugnis abhängt, immer wieder in prekäre Situationen bringt: »Machen Sie mit mir, was Sie wollen, aber bleiben tu ich nicht« (zu Frau Sparr).
Was aus der Autorin nach 1910 geworden ist, weiß man (glaube ich) nicht. Ihr Lebensbericht hat als historische Quelle aber ein bisschen Karriere gemacht. Bei Hedwig Richter steht im Mittelpunkt der Ausbruch der Cholera-Epidemie 1892 in Hamburg, den beschreibt Viersbeck auf den Seiten 88 und 89 und diese Stelle hat mich dann auch sofort ins Buch gezogen.
Doris Viersbeck: Erlebnisse eines Hamburger Dienstmädchens. München: Reinhardt 1910. S. 1–103 (= 103 Textseiten).
(Einführung ins 100-Seiten-Projekt hier. Übersicht über alle Bände hier.)
Am 30. Mai 2021 um 09:51 Uhr
Das genaue Gegenteil von Viersbeck lesenswertem Bericht ist ein 50-Seiter und ebenso lesenswert, zumal es – unfreiwillig – ziemlich komisch ist. Ich habe den Text vor Jahren mal auf Wikisource veröffentlicht:
https://de.wikisource.org/wiki/Der_korrekte_Diener