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»Lazarillo de Tormes«

Paris, 15. Februar 2009, 15:05 | von Paco

La vida de Lazarillo de Tormes y de sus fortunas y adversidades (Cover)Ist schon eine Weile her, aber immer noch aktuell. Die spanische Literaturwissen­schaft­lerin Rosa Navarro Durán hat im Jahr 2003, nach einem knappen halben Jahr­tau­send, auf ihre ganz eigene Art und Weise den anonymen Verfasser des frühen Picaroromans »Lazarillo de Tormes« letztgültig ermittelt. Es handelt sich zufällig um ihren Lieblingsforschungs­gegen­stand, den Humanisten Alfonso de Valdés.

Oft sind die philologischen Fachzeitschriften das bessere Feuilleton. Aus dieser Ecke kam neulich auch der etwas verspätete Bericht von dieser literaturwissenschaftlichen Farce, verfasst vom Romanisten Hanno Ehrlicher für die vorletzte Ausgabe (Nr. 46, 2008) der kleinen und feinen Online-Zeitschrift »Philologie im Netz« (PhiN).

Es kann nicht gut um das spanische Literatursystem bestellt sein, wenn es Navarro Durán gelingt, ihre an keiner Stelle sauber begründete Behauptung durchzusetzen und mehrere Neueditionen des »Lazarillo«-Textes mit dezidierter Verfasserangabe zu publizieren. Mit einem Seitenblick auf Bourdieus »Homo academicus« beschreibt Ehrlicher den »Transfer des Symbolkapitals eine kanonisierten Textes auf ›ihren‹ Autor«, zum letztlich ökonomischen Nutzen der Hispanistin und der mit ihr verbündeten Verlage.

Die als sicher verkaufte Autorschaft schlägt so auch auf den Kanon durch. In der digitalen »Biblioteca Miguel de Cervantes« ist der Text nun zum Beispiel zweimal vorhanden, einmal ohne, einmal mit Verfasserangabe.

Ehrlicher plädiert für die Erhaltung des Anonymats, auch um der Mehrdeutigkeit des Textes zu entsprechen und die Interpretations­möglichkeiten nicht künstlich zu beschränken. Neben frühen Kritikern der ostentativ vorgebrachten Valdés-These wie Valentín Pérez Venzalá (in Espéculo Nº 27, 2004) führt er auch die spanischsprachige Wikipedia an, die sich neutral zu Navarro Duráns Thesen verhält:

»In diesem speziellen Fall entspricht die von Laienphilologen hergestellte Netzöffentlichkeit von Wikipedia durchaus den Standards der von Habermas idealtypisch konstruierten vernunftbasierten Struktur der bürgerlichen Öffentlichkeit, besser jedenfalls als die monologische Nutzung des Internets durch die Fachphilologen.«

Auch die Neuübersetzung von Hartmut Köhler, die 2006 in einer zweisprachigen Ausgabe als Reclam-Heft Nr. 18481 erschienen ist, besteht weiterhin auf dem anonymen Verfasser. Köhler nennt den Flussgeborenen im Titel übrigens: »Klein Lazarus vom Tormes«, das klingt dann noch ein wenig pikaresker als die bisherigen Varianten, die ohne eingedeutschtes Diminutivum auskamen. Er erwähnt außerdem noch mal, dass der vorgebliche Autor Valdés schon 1532 gestorben, der »Lazarillo« aber erst 1554 erschienen ist. Die bisher angenommene Entstehungs­zeit müsste also en passant auch noch um zwei Jahrzehnte vorverlegt werden.

Das Anonymat wird übrigens auch von den Bibliotheken geschätzt, denn dann müssen sie ihre »Lazarillo«-Ausgaben nicht dauernd umsortieren, wenn wieder mal eine andere Autorvermutung hoch im Kurs steht.

(Bildausschnitt: Wikimedia Commons)

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