Alban Nikolai Herbst, »Azreds Buch«:
Ach du liebe Güte! Eine Necronomicon-Erzählung!

Leipzig, 23. Januar 2008, 05:28 | von Paco

Azreds BuchDie bisher unveröffentlichte phantastische Erzählung »Azreds Buch« hat ANH schon mal 2004 in seinem Vortrag »Fantastische Räume« für das Linzer Phantastik-Symposium erwähnt und kurz zitiert. Vor gut einem Monat, um Weihnachten herum, hat er sie dann in seinem Weblog »Die Dschungel. Anderswelt.« in 5 Fortsetzungen online publiziert (Inhalt: Eins, Zwei, Drei, Vier, Fünf).

(In Rezensionen wird ja normalerweise ohne Ankündigung gespoilt. Wer die Geschichte, die wirklich spannend ist – Lesezeit ca. 30 Minuten –, vorher lesen will, sollte das tun und hier abbrechen.)

Also dann: Es geht fast sozialrealistisch los mit einem Erzähler namens Baumann und einem Vermieter (und Ich-Erzähler zweiten Grades) namens Mielke. Ein guter Anfang für eine phantastische Erzählung: In diesen scheinbar normalen Alltag kann dann schön das Unerwartete hineinbrechen.

Dass übrigens ANH den Vermieter wirklich ›Mielke‹ nennt, ohne falsche Assoziationen zu fürchten, … na gut, wenn man bedenkt, was die Mielke-Figur im weiteren Verlauf der Story treibt, ist das vielleicht doch keine zufällige Benamsung, hehe. Nebenbei, auch Sebastian Brock hat in seinem Roman »Silbersee« neulich die Hauptfigur einfach mal ›Walser‹ genannt, ohne Furcht vor den ganzen Assoziationen, die dann ständig in die Lektüre funken könnten.

Was macht ANH nun? Er bereichert die Literaturgeschichte um eine weitere Necronomicon-Erzählung in der Nachfolge H. P. Lovecrafts. Laut HPL hat Abdul Alhazred das arabische »Necronomicon«-Original »Al Azif« um 730 herum verfasst. Bei ANH hat es dieser legendäre Verfasser nun sogar irgendwie bis in unsere Gegenwart geschafft, ermöglicht durch eine Art Seelenwanderung bzw. Körperbemächtigung.

Herbst schreibt notorisch im Präsens. Das liest sich anfangs etwas schräg, hat am Ende aber einen bestimmten Effekt. Ansonsten ist der teils ins Horrorgenre hinübergleitende Text auch lustig. Etwa wenn Mielke von der »unterirdisch gelegenen Dämonenstadt« erzählt, »worin man der Weltherrschaft harrt«, und Baumann antwortet: »Ach du liebe Güte!«

Die von Mielke kundgetane Binnengeschichte nimmt den größten Teil ein und handelt davon, wie der junge Ägyptologe einem Professor Djahangir Hazegnehad nach Schottland folgt, wo dann in den Räumlichkeiten unter einem Hünengrab ein bisschen Horrorschock stattfindet. Außerdem wird dort eben auch Azreds Buch aufbewahrt.

Der Professor entpuppt sich schließlich als Dämon, als irgendwie Geist Al Azreds, der sich offenbar aller paar Jahrzehnte in einen neuen Körper schwingen muss. Mit dem Besitz des Buches ist dann auch Macht verbunden, und dass Mielke das Ding einfach mitnimmt und abhaut, bringt ihm zwar einen Karrierepush, wird ihm aber auch zum Verhängnis, denn er lebt ein Leben in ständiger Flucht vor dem Dämon.

Mehrere Passagen über sich ändernde visuelle Eindrücke erinnern an andere Herbst-Texte, etwa an die »Enzyklopedia Babilonica« in der Erzählung »Der Gräfenberg-Club«, die beim Blättern ihre Inhalte ändert.

Ansonsten wirkt der Text durchkomponiert und korrekturgelesen (auch wenn »Cthullu«/»Chtullhu« in verschiedenen Schreibweisen vorkommt, wo es außerdem normalerweise doch »Cthulhu« heißt, oder? aber das ist die Ausnahme), und ich frage mich, warum sie nicht schon in den 2005 erschienenen hervorragenden Sammelband »Die Niedertracht der Musik« mit aufgenommen wurde.

Im Netz liest sich »Azreds Buch« aber auch gut, da es eine Art Cliffhanger-Struktur gibt und man dadurch gezwungen ist schnell weiterzuklicken.

Bild:
Wikimedia Commons

Und wer noch nie was davon gehört hat:
Jason Colavito: Inside the Necronomicon – The true story behind the most infamous book never written (2002)

Eine Reaktion zu “Alban Nikolai Herbst, »Azreds Buch«:
Ach du liebe Güte! Eine Necronomicon-Erzählung!”

  1. Dique

    Ich habe es nun gerade gelesen, schon sehr gut, natuerlich viele typische fast schon clichehafte Elemente. Diese ganze Erzaehlernummer wird ja gern genutzt. Der Eingeweihte trifft den Ahnungslosen und erzaehlt ihm seine unglaubliche Geschichte.

    In Wilsons „Masken der Illuminaten“ ist das aehnlich, wenn auch mit veraenderten Vorzeichen, hier vertraut ein armer Tropf seine verschwörerischen Verwicklungen mit Aleister Crowleys Ordo Templi Orientis James Joyce und Albert Einstein an. Oder in Ecos Foucaultschem Pendel, da erfaehrt der Protagonist die Einweihung ins Geheimnis, hier der große Plan, ueber Memos die er auf dem Computer seines verschwundenen Freundes und Kollegen findet.

    Egal, das funktioniert hier alles ganz prima, weil das eben gleich diese spannende und verschwoererische Stimmung erzeugt. Da ist der nichtsahnende Baumann in seiner Bude und sein Vermieter Mielke, hehe, drueckt ihm diese Meganummer auf. Hazegnehad trägt die Züge des oder vielmehr ist der mysteriöse Grafen von St. Germain, er trinkt nur angewärmtes Wasser, scheint nie etwas zu essen und erzählt von historischen Begebenheiten als sei er dabei gewesen.

    Alles sehr gut, auch das Ende, man hat da kurz Angst, ob es wohlmoeglich zu einer banalen Aha-Loesung kommt, aber zum Glueck nicht. Vorallem schoen mal dieses Thema in so einer kurzen Story angefasst und neu zusammengeruehrt, aber dann auch wieder nicht.

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