Das Kinojahr 2007
(Vorwort und Kommentare zu dieser Übersicht hier.)
»The Assassination of Jesse James by the Coward Robert Ford« (Andrew Dominik) Langer Titel, langer Film: Selten hat die Psychologie von Ganoven einen so in ihren Bann gezogen. Gemessenen, unheilschwangeren Schrittes bewegt sich das Drama durch die Untiefen zwischen Verbrechen und Heldentum. Best Bits: Casey Afflecks blendende Performance. Roger Deakins’ Bilder: der Bahnüberfall ist zum Einrahmen schön fotografiert.
Umblätterers ausführliche Kritik …
»The Bourne Ultimatum« (Paul Greengrass) Jason Bourne, stoischer Einzelkämpfer auf Selbstfindungstrip, geht auf Konfrontationskurs, dass es nur so knirscht und splittert. Greengrass wuchtet ruppiges, handgemachtes Agentenkino mit Sinn und Verstand, ohne romantische Schnörkel, ohne viel Gerede. Ein fulminantes Finale der Trilogie, aus dem Stand einer der besten Actionthriller der Gegenwart. Best Bits: Die atemlose High-Tech-Hatz in der Waterloo Station. Bourne tritt seinem Schöpfer gegenüber. Der perfekte Abschluss: Bourne/Webb im Wasser.
Umblätterers ausführliche Kritik …
»Ratatouille« (Brad Bird) Abgesehen davon, dass »Ratatouille« in puncto Animation ein einziges Fest darstellt, ist dies einfach mal ein guter Film: mustergültig erzählt, unverzagt originell (Ratten und Haute Cuisine!), berstend vor liebevollen Einfällen und exorbitanter Komik. Best Bit: Restaurantkritiker Anton Ego kostet Remys Ratatouille: Yummy!
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»The Prestige« (Christopher Nolan) Das kraftvolle Drama um die Rivalität zweier Illusionisten birgt zutiefst menschliche Zwischenböden: Was geschieht, wenn obsessiver Ehrgeiz die Moral verschiebt? Ein dicht gestricktes Kino-Juwel, das vollends in sich aufgeht. Best Bit: Nolans virtuose Navigation durch die verzweigte Handlung: »Are you watching closely?«
»Atonement« (Joe Wright) Ein großer, ein schöner Film. Selten wurde Literatur derart überzeugend in Filmsprache übersetzt, jede Facette funkelt in Perfektion. Der narrative Kniff am Schluss demonstriert eindringlich die Last einer großen Schuld. Best Bits: Der sensationelle Five-Minute-Take am Strand von Dünkirchen. Das qualvolle Treffen von Cecilia (Keira Knightley), Briony (Romola Garai) und Robbie (James McAvoy).
»Blood Diamond« (Edward Zwick) Eine Afrika-Geschichte, die bei aller Dramatik die barbarischen Verhältnisse vor Ort nicht ausblendet. DiCaprio glänzt als nicht eben makelloser Diamantenjäger, der mit einem Fischer (klasse: Djimon Hounsou) zu einem halsbrecherischen Trip durch Rebellenland aufbricht. Der Fischer findet seine Familie, der Jäger Läuterung. Best Bit: Danny Archers lakonische Devise »T. I. A. This is Africa.«
»Zodiac« (David Fincher) Der andere Serienkillerfilm: keine Verdichtung, keine Dramatisierung, nicht mal eine Auflösung. Stattdessen akribisch dokumentierte Ermittlungsarbeit, deren Sogwirkung der Zuschauer ebenso anheim fällt wie die Ermittler. Finchers reifstes Werk bislang. Best Bit: Die Picknick-Mord-Szene: bestürzend authentisch.
Umblätterers ausführliche Kritik …
Versteckte Perle:
»Little Children« (Todd Field) Welch fein beobachtete und brillant realisierte Studie amerikanischen Vorstadtlebens ist dem Publikum hier durch die Lappen gegangen! Bestechend verdichtete Szenen kratzen am Schorf häuslicher Glückseligkeit: dahinter Untreue, Kummer, Selbstbetrug. Best Bit: Die Schlussminuten auf dem nächtlichen Spielplatz.
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»Notes on a Scandal« (Richard Eyre) Zwei Frauen im Zwist? Klingt nach Kammerspiel im Kunstkino. Ist aber Kammerspiel im großen Saal! Subtil bis dramatisch – hier wird jede Karte ausgespielt, bis die Leinwand kocht. Best Bit: Barbaras (Judy Dench) biestig-süffisanter Off-Kommentar: »Ah, the blonde and the pig in knickers.«
»The Queen« (Stephen Frears) Ein erstaunliches Stück Kino, das sowohl als geistreiche Komödie als auch als bewegendes Dokudrama funktioniert. Im Kern die intime Studie Ihrer Majestät, welche sich in einer schweren Stunde im Zugzwang sieht, das Konzept der Monarchie dem Volk und der Politik gegenüber zu positionieren. Best Bit: Der Queen-Jeep verreckt in der Furt, verschafft Ihrer Majestät einen Moment der Einsamkeit. Als sie eine Spur Trauer in sich entdeckt, betritt ein prächtiger Hirsch die Szene. Was für ein Moment!
»Gone Baby Gone« (Ben Affleck) Famos inszenierter Milieuthriller, dessen moralische Dilemmata um Sinn und Unsinn absoluter Gesetzestreue uns ganz schön fordern. Aber die Auseinandersetzung lohnt sich. Best Bits: Der unangemeldete Besuch Patricks (Casey Affleck) bei Doyle (Morgan Freeman). Das bittersüße Schlussbild.
»The Last King of Scotland« (Kevin Macdonald) Erst Abenteuer, dann Alptraum: Durch die Augen eines arglosen schottischen Arztes erleben wir Idi Amins Gewaltherrschaft in Uganda. Trotz der fiktiven Komponente eine unschätzbare Geschichtsstunde. Best Bit: Forest Whitakers Darstellung des Despoten: faszinierend und abstoßend zugleich.
»Eastern Promises« (David Cronenberg) Nicht ganz so scharfkantig wie sein Vorgänger, aber immer noch ein echter Cronenberg: raue Körperlichkeit, ambivalente Psychologie, explizite Gewalteinsprengsel. Viggo Mortensen überzeugt auf ganzer Linie. Best Bit: Die ungeheuerliche Überfallszene im Dampfbad.
Umblätterers ausführliche Kritik …
»Efter brylluppet« (dt. »Nach der Hochzeit«, Susanne Bier) Es gibt eine große Feierlichkeit, und es gibt weitreichende Enthüllungen, aber dies ist nicht »Das Fest«. Losgelöst vom allzu restriktiven Dogma-Manifest, kommt dieses Melodram immer noch bestechend wahrhaftig, aber doch emotional zugänglich daher. Best Bit: Annas herzerweichende Szene mit ihrem als todkrank diagnostizierten – ähem – Vater.
»Letters from Iwo Jima« (Clint Eastwood) Der späte Eastwood liefert ein Meisterwerk nach dem anderen. So lakonisch und düster er in »Letters« die verheerende Gewalt der Schlacht inszeniert, so feinfühlig nähert er sich denen, die sie schlagen müssen – wohlgemerkt auf der japanischen Seite. Ein außergewöhnliches, humanistisches Werk. Best Bit: Der zutiefst verstörende kollektive Selbstmord per Handgranate.
»Die Fälscher« (Stefan Ruzowitzky) Das Dasein des Menschen oszilliert zwischen Egoismus und Altruismus – welche Kompromisse ist er bereit einzugehen, wenn der Preis für das eine oder das andere in Menschenleben besteht, womöglich im eigenen? Die moralischen Implikationen dieses Dramas sind derart komplex, dass einfache Antworten ausbleiben müssen. Best Bit: Sturmbannführer Herzog (Devid Striesow) macht den Häftlingen ein Geschenk – eine Tischtennisplatte.
Versteckte Perle:
»Reign Over Me« (Mike Binder) Wahrscheinlich war der völlig irreführende deutsche Titel »Die Liebe in mir« schuld, aber mit diesem Film verpassten die deutschen Zuschauer ein starkes Drama um Verlust, Trauer, Abschottung – und Freundschaft als Gegenmittel. Best Bit: Adam Sandlers Darstellung des Charlie; insbesondere dessen Höllenqualen während der Gerichtsverhandlung.
Versteckte Perle:
»Stranger than Fiction« (Marc Forster) Hier haben wir den raren Fall einer Komödie, die nicht noch während der Laufzeit belanglos wird. Als Prämisse ein unerhörtes Crossover von Realität und Fiktion; der Film verpasst keine Chance, daraus Kapital zu schlagen. Best Bit: Harold Crick (Will Farrell) vernimmt die Stimme der Erzählerin: »Little did he know …«
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»3:10 to Yuma« (James Mangold) Man hatte gedacht, solche Western machen sie nicht mehr, aber das ist wieder so einer: prototypische Antagonisten, weites Land, dreckige Bretterstädte, nervenzerrende Schießereien. Im moralischen Zentrum ein glamouröser Schurke und ein gebeutelter Familienvater, beide unausgesprochen auf der Suche nach Erlösung, nach Tilgung ihrer Unzulänglichkeiten. Best Bit: Wade (Russell Crowe) und Evans (Christian Bale) versuchen gemeinsam, den Zug zu kriegen.
»Vier Minuten« (Chris Kraus) Man identifiziert altbekannte Versatzstücke in diesem Gefängnisdrama, doch diese sind auf wunderbare Weise rekombiniert. Weltklasse-Schauspiel zwischen Flüstern und Schreien, filmisch makellos: mehr davon, Deutschland! Best Bit: Die letzte Einstellung; wer da keine Träne der Rührung verdrückt: selbst schuld.
»La Tourneuse de pages« (dt. »Das Mädchen, das die Seiten umblättert«, Denis Dercourt) Eine simple Geschichte, berückend inszeniert. Feinste Pianomusik schwebt über kühlen, eleganten Bildern; unter der Oberfläche aber brodelt es. Perfide Bourgeoisie-Dekonstruktion à la Chabrol, psychologische Spannung à la Hitchcock. Best Bit: Das Versteckspiel im Garten: atemlose Spannung.
Umblätterers ausführliche Kritik …
»A Prairie Home Companion« (Robert Altman) Die Tatsache, dass dies Altmans letzter Streich war, verlieh dem Film eine unterschwellige Tragik, dabei verströmt das Werk doch des Meisters bekannte Leichtigkeit. Die Kamera registriert beinahe zufällig launige Szenen des (fiktiven) Abgesangs einer (nicht fiktiven) Radioshow. Best Bit: Natürlich der Bad Jokes Song von Woody Harrelson und John C. Reilly.
»Sicko« (Michael Moore) Na sicher, Moore ist polemisch, aber bei redlichen Beweggründen geht das in Ordnung. »Sicko« setzt prekäre Healthcare-Zustände auf die Agenda, und das mit einer schwarzhumorigen Eloquenz, dass es eine Freude ist. Ein eye opener, nicht nur für Amerikaner. Best Bit: Moore inspiziert neugierig europäische Gesundheitssysteme.
»Irina Palm« (Sam Garbarski) Marianne Faithfull in der Rolle einer Witwe, die notgedrungen einer – nun ja – schlüpfrigen Tätigkeit nachgeht. Famose Milieu- und Charakterstudie mit dieser typischen britischen Tristesse. Best Bit: Maggie weiht beim Kaffeekränzchen ihre »Freundinnen« ein.
Versteckte Perle:
»Waitress« (Adrienne Shelly) Dieser kleine feine Film quillt zwar schier über vor Backwerk, kommt aber weniger als Stück Kuchen, eher als Stück Leben daher. Er erzählt vom üblen Aroma einer provinziellen Ehehölle, vom bitteren Beigeschmack des Sich-Bescheidens, von der süßen Hoffnung auf Veränderung. Best Bit: Jennas herrliche Kreationen. Wie wäre es mit einem »Falling in Love Chocolate Mousse Pie«?
Versteckte Perle:
»Jesus Camp« (Heidi Ewing, Rachel Grady) Ein Blick in ein evangelisches Sommercamp. Sechsjährige, heulend sich windend in religiöser Verzückung. Wozu Horrorfilme, wenn man das sehen kann? Best Bit: Becky Fischer besticht durch Argumente: »Excuse me, but we have the truth!«
Versteckte Perle:
»Junebug« (Phil Morrison) Madeleine (Embeth Davidtz), weltläufige, elegante Kunsthändlerin, trifft auf ihre Schwiegerfamilie im kleinstädtischen Bible Belt – wortkarge Menschen eher schlichten Gemüts. Der Film beobachtet, und das meisterlich. Best Bit: Madeleine versucht, Johnny (Benjamin McKenzie), dem obstinaten Sorgenkind der Familie, »Huckleberry Finn« nahe zu bringen.
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»The Golden Compass« (Chris Weitz) Von wegen ein neuer »Lord of the Rings«! Der Film trottet durch Bilder, die keine Größe haben, keine Atmosphäre. Das Drehbuch hakt Charaktere ab, deren Beziehungen werden erzählt, nicht gezeigt. Warum nicht gleich das Buch lesen? Da würde auch das antireligiöse Schlüsselthema besser offenbar, das dem Film wohl zu heikel ist. Worst Bit: Gerade als es spannend wird endet der Film – das Finale wurde in letzter Minute von New Line abgehackt. Warum nur, warum?
»The Invasion« (Oliver Hirschbiegel) Der Hollywood-Erstling Hirschbiegels subtrahiert Psychologie, Spannung und Moral von der oft erzählten Geschichte. Verschenkt. Worst Bit: Die verquere politische Botschaft setzt Humanismus und Pazifismus den anonymisierenden Seelenfressern gleich – das kann unmöglich so gemeint sein.
Umblätterers ausführliche Kritik …
»Death Proof« (Quentin Tarantino) Gut, wenn Tarantino das Schundkino der 70er bis ins Detail repliziert, übernimmt er auch dessen Schwächen. Allzu originell ist das nicht, aber freilich kann man nicht anders, als hinsehen: wie das eben so ist bei Verkehrsunfällen. Worst Bit: Zwanzig Minuten banales Gerede von den Girlies: Wo Tarantino draufsteht, ist nicht unbedingt Tarantino drin.
Umblätterers ausführliche Kritik …
»Spider-Man 3« (Sam Raimi) Nach dem phänomenalen zweiten Teil war ein Rückschritt vielleicht unvermeidlich. Der Film ist zwar ein großes Spektakel, doch erstickt er bald an zu vielen Bösewichten, zu vielen ziellosen Plotlinien, zu vielen selbstzweckhaften Effekten. Worst Bit: Peter Parker zieht das enge Schwarze über und macht in der Bar den John Travolta: Das soll Spideys dunkle Seite sein?
»The Good German« (Steven Soderbergh) Ein Soderbergh-Film aus der Abteilung Fingerübung. Die Noir-Hommage versucht eine wirre, mechanische, spannungsarme Story zu erzählen, deren blutleeren Protagonisten zu folgen der Zuschauer irgendwann die Lust verliert. Für Formalisten vielleicht eine Fundgrube, ansonsten eine ärgerliche Angelegenheit. Worst Bit: George Clooney wird zusammengeschlagen. Immer wieder. Zweimal auch von Tobey Maguire, der einen gebrochenen Arm hat. Jeez …!
»The Number 23« (Joel Schumacher) Dies hätte eine schöne Thriller-Variante von »Stranger than Fiction« werden können, Carreys dramatisches Talent und Schumachers solide Expertise sprachen dafür. Heraus kam: eine Beleidigung. Die Dramaturgie ringt um Fassung, das Schauspiel fehlt unentschuldigt, die Logik schlägt die Hände über dem Kopf zusammen. Eine wirklich miese Nummer. Worst Bit: Der Film will einem allen Ernstes ›Topsy Kretts‹ als Allerweltsnamen verkaufen. Drei Dollar zwanzig in die Wortspielkasse, Mr. Schumacher!
Umblätterers ausführliche Kritik …
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[ veröffentlicht am 30. 1. 2008 ]