Die FAS vom 4. 5. 2008:
Lindenstraße, Lenz, Löwenzahn

Göttingen, 4. Mai 2008, 22:42 | von Paco

In der Kolumne von Stefan Niggemeier, die immer als Seitenfüller neben dem TV-Programm vom Sonntag steht, wird heute gegen die »Lindenstraße« gewettert (S. 34). Auch wenn der altehrwürdige ARD-Dauerhit in Wirklichkeit natürlich eine der interessantesten, einfallsreichsten & trotz der nur knapp 30 Sendeminuten pro Woche abwechslungsreichsten Serien der Welt ist, geht der Verriss absolut in Ordnung. So wie man ja auch Niggemeier-Artikel öfters mal schlecht findet, obwohl man sie eigentlich meist gern wegliest.

Goddag! Volker Weidermann hat Siegfried Lenz in Sønderhav besucht, knapp hinter der deutsch-dänischen Grenze (S. 27). Wieder wurde eines der beiden Fotos vom Autor geschossen – solche Schnappschuss-Eigeninitiativen forciert die »Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung« ja in ihrem Feuilleton, und wie von uns schon mehrfach behauptet, das kommt sehr gut: Siegfried Lenz mit offener Jacke, einem rötlichen Schal und einer Art Herrenhand­tasche, sympathisch lächelnd. Warum immer Agenturfotos wenn ein Autor nicht auch vor Ort schnell mal seine Digicam draufhalten kann? Die dadurch erzielte Authentizität steht problemlos höher im Kurs als eine korrekte Brennweiteneinstellung.

Textlich gibt es vor allem Anekdoten: die vom »deutschen Dänen Lenz«, wie der Autor von einer Regionalzeitung genannt wurde; oder die von seiner Handschrift, die Lenz‘ verstorbene Frau als »künstlerisch organisierten persischen Küchendreck« bezeichnet hat. Wie in jedem guten Autorenporträt wird hier nicht wohlfeil an irgendwas herumgekrittelt, und überhaupt, schreibt Weidermann, scheint es »unmöglich, ein böses Wort in seiner Gegenwart auch nur zu denken«. Konkreter Anlass des Treffens war übrigens das Erscheinen des neuen Lenz-Romans »Schweigeminute«. Am Ende wird der FAS-Redakteur von Lenz auch noch brüderlich umarmt. Farvel!

Eine Seite weiter gibt es, jetzt schon, eine würdige feuilletonis­tische Einordnung des Amstetten-Falls, eine Materialsammlung zum »manischen Wunsch nach Deutung« solcher Tragödien (S. 28). Nils Minkmar schlägt viele Bedeutungsbrücken, beginnt mit Kaspar Hauser, zitiert dann Reemtsma genauso herbei wie einen »Daily Mail«-Autor, außerdem Sarkozy, Manfred Deix und Elfriede Jelinek, »Tante Prusselise« aus dem Pippi-Langstrumpf-Storykosmos (sehr gute Idee), dann noch Platon, Dante und Pulp Fiction, David Lynch und J.-C. Carrière. Minkmars Diagnose fällt dabei pessimistisch aus:

»Vergewaltigung, Folter und Mord sind bereits verboten. (…) Etwas mehr Ermittler in den Jugendämtern wären gut, aber auf Sadisten, Kannibalen und Serienmörder ist keine Verwaltung vorbereitet.«

Er geht aber in der Deutung noch einen Schritt weiter: Die schallgedämpften Privatverliese, aus denen kein Mucks nach außen dringt, haben auf der Ebene der modernen Kriegsführung nämlich ihre Äquivalente in »nicht ausgewiesenen Gefängnissen, Folter ohne Blutvergießen und unrechtmäßig entführten Personen«. Soweit die Feststellung, leichter wird das Verständnis durch so eine Einordnung natürlich nicht. Trotzdem ist dieser Artikel mehr wert als alle zum gerade aktuellen Fall stattfindenden Detailhatzen.

Unter diesem Artikel beantwortet dann Marcel Reich-Ranicki eine Frage zu Wolf Biermann. Er ergeht sich eigentlich in einem ziemlichen Lob des Dichters. Vor allem dessen Nichteinordenbarkeit wird für gut befunden. Lustigerweise beginnt aber der letzte Absatz so: »Es ist jetzt still um Biermann geworden, …« – Reich-Ranicki schreibt damit dasselbe, was Volker Weidermann vor 2 Jahren in seiner Literaturgeschichte »Lichtjahre« geschrieben hat (»sehr, sehr still«). Damals hatte Biermann seinen Verlag Ki&Wi verlassen, bei dem auch das Buch von V. W. erschienen war.

Noch kurz zum Wirtschaftsteil: Aus irgendeinem Grund gibt es in diesem FAS-Ressort mit die besten Interviews der deutschen Medienlandschaft – das ist in unseren FAS-Rundowns schon oft durchgeschienen. Ob man da dem »Spiegel« den Rang abgelaufen hat (der ja bis auf ein paar lustige Patzer weiter souverän Leute interviewt), das will nicht ich beantworten müssen. Heute ist jedenfalls der seltene Gesprächspartner Bernhard Schadeberg dran, der Krombacher-Chef (S. 37). Auch dieses Entretien trifft wieder die für eine Sonntagszeitung ideale Mischung aus Business & Entertainment.

Im Wissenschaftsteil gibt es dann noch einen Artikel von Susanne Donner über die »Nazi-Pflanze« Löwenzahn (S. 67). Diese Deutungsvariante vergisst aber vollkommen, dass die kulturhistorische Stellung der schönen Pflanze Löwenzahn im deutschen Sprachraum durch die gleichnamige Kindersendung mit Peter Lustig unabänderlich bestimmt ist. Da hilft auch kein Foto mit Löwenzahnblüten, in das so eine Art Hakenkreuz-Wasserzeichen eingearbeitet ist (holla!). Der Artikel eignet sich aber sicher hervorragend als Materialbasis für einen noch ausstehenden Teil der »Hitler«-Serie von Guido Knopp: »Hitler und die Blumen«.

(Ganz kurz noch: Nachdem der zweifelhafte Ruf des kautschukhaltigen Löwenzahn verjährt sei, beginne jetzt so langsam wieder die Löwenzahnforschung.)

Usw.

6 Reaktionen zu “Die FAS vom 4. 5. 2008:
Lindenstraße, Lenz, Löwenzahn”

  1. bosch

    Tja, das war wohl endlich mal wieder eine interessantere Ausgabe der FAS. Nur schade, dass dieser Beitrag mich erst kurz vor Mitternacht erreicht. Ein paar Stunden früher und ich hätte auch die Chance gehabt, mir die aktuelle Ausgabe zu sichern.

  2. Paco

    ja, ist ein bisschen spät, und leider gibt es die fas ja nicht noch während der woche zu kaufen, obwohl sie wochenzeitungsqualitäten hat. aber wir gehen vermessenerweise davon aus, dass die sowieso jeder jeden sonntag kauft bzw. die schönen orangen gutscheine zum kiosk trägt. ansonsten warten wir noch wie eh und je auf einen regulären »sonntagstaucher«, der einen bis 10 uhr morgens auf die sonntagsausgaben der überregionalen zeitungen vorbereitet. offenbar will am sonntag niemand so früh aufstehen. *g*

  3. blogschrift

    Yop, habe gerade den Artikel von Nils Minkmar über Amstetten etc. gelesen (frei nach dem Motto „Nix läßt sich entspannter und frei vom Aktualitätsgehippele lesen als die zeitung von gestern…“). Wirklich sehr sehr gut, und die Erwähnung von „Tante Prusselise“ aus Pippi-Langstrumpf fand ich auch sehr witzig.

    Aber tatsächlich fehlte mir auch, wie es in Ihrem Beitrag ebenfalls aufscheint, das letztendlch analytische, eine Wegweisung für den Leser, ein über das bloß Faktische hinwegweisender Gedanke.

    Da sind die von Herrn Minkmar gebrachten Zitate aus Jan Philipp Reemtsmas Buch „Im Keller“ doch Balsam auf die aufgerüttelte Seele: eine Welt läßt sich eben halbwegs begreifen, wenn man sie in Gut & Böse aufteilt. Durchschaut man den totalen Zufall, der tatsächlich die Welt regiert, wird man verrückt.

    Oder Zyniker, wage ich zu ergänzen.

  4. Besteckfachinlaufrichtung

    Juchee, endlich einmal Simultan-Umblättern. Vergangene Woche ein 1. Klasse-Ticket der Bahn abgestaubt gewonnen und gestern Mittag gezielt im Pappkarton auf der Gepäckablage nach der FAhS gefingert. Sie ist im übrigen die einzige Nicht-Springer-Zeitung im Portfolio der Bahn.
    Ein geniales Gefühl. Nicht das 1.Klasse-Ticket, denn Sonntags im Rückreiseverkehr gen Südwesten erste Klasse fahren ist wie freiwillig im Zweireiher einen Stehempfang besuchen. Lauter verbogene, griesgrämige Teutonen mit vergessener Kinderstube. Ein schwäbischer Jüngling probierte sich auch programmatisch an der Taschenbuchausgabe von „Asshole – Wie ich lernte ein Schwein zu sein und dabei reich und glücklich wurde“ von Martin Kihn.

    Wo war ich eigentlich? Ach ja. Ich freue mich unbändig auf diese Woche betreuten Lesens.

  5. Paco

    @Besteckfach: Danke vielmals, dass du das hier als Kommentar verwurstest. Dein Erlebnisbericht ist ja selber ein würdiger Blogeintrag.

  6. Besteckfachinlaufrichtung

    Ja, ich werde mich bessern. Das „verwurstest“ hat mich ja ein wenig gegrämt und schwupps – wurde daraus eine ausgewachsene Halb-Philippika.

    Beim betreuten Lesen ein kurzer Widerspruch zum Wirtschafts-Buch.

    Ähm, das Krombacher-Mensch-Interview ist in meinem Erleben aber nicht gerade ein Beweis für die besten Interviews wo in der Wirtschaftspresse gibt. Ich weiß, es geht immer schlechter. Das Lob des Deutschen („Nicht schlecht.“) gibt es dafür zwar, aber mehr nicht, weil trotz der versuchten Lockerheit doch arg steif.

    Und der Wirtschaftsaufmacher ist für einen SZ-Fußballfeuilleton-Verwöhnten gruselig, weil ganz offensichtlich direkt aus dem Stehsatz kopiert. Die Kollegen aus dem Sport werden wohl auch geweint haben. Schade.

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