Joels & Ethans wunderbare Welt
25 Jahre Coen-Kino — Eine Retrospektive
Hamburg, 2. Februar 2010, 07:55 | von San Andreas
Loren Visser, Evelle Snoats, Bernie Bernbaum, Jack Lipnick, Waring Hudsucker, Jerry Lundegaard, Uli Kunkel, Wash Hogwallop, Freddie Riedenschneider, Rex Rexroth, Goldthwaite Dorr, Anton Chigurh, Chad Feldheimer, Dick Dutton
Was soll man von Filmen halten, in denen die Figuren Namen tragen wie diese? Nur das Beste, wie sich herausstellt. Was wäre das Kino der letzten 25 Jahre ohne die Gebrüder Coen: Sie etablierten mit ihrem Debüt »Blood Simple.« (nur echt mit dem ».«) die amerikanische Independent-Szene, schufen mit »Fargo« einen modernen Klassiker, kreierten mit Jeff »The Dude« Lebowski eine kultisch verehrte Ikone, verhalfen dem Bluegrass-Folk mit »O Brother, Where Art Thou?« zu einer überraschenden Renaissance, stemmten mit »No Country for Old Men« eine der besten Literaturverfilmungen überhaupt. Ihr neuester Film »A Serious Man« zählt als ihr wohl persönlichster, wärmster und nachdenklichster Film bereits jetzt zum Besten, was sie je gemacht haben.
Man sagt, die Coen-Brüder seien ›der Regisseur mit zwei Köpfen‹. Es soll unerheblich sein, ob man während eines Drehs eine Frage an Joel oder Ethan richtet; man würde dieselbe Antwort erhalten. Noch nie wurde an einem Coen-Set beobachtet, dass die Brüder in Streit geraten würden. Nicht ein einziges Mal. Sämtliche Aufgaben teilen sie sich: Sie schreiben zusammen, sie produzieren zusammen, sie führen zusammen Regie, sie schneiden zusammen. Eine schon fast unheimliche Allianz.
Sie funktioniert indes seit 14 Filmen, seit einem Vierteljahrhundert. Ihre imposante Karriere ist eine der respektabelsten Hollywoods und vor allem eine, die am konsistentesten Qualität zu liefern vermochte (es gibt ein schwarzes Schaf in der Familie der Coen-Filme und vielleicht noch ein oder zwei hellgraue). Stellte sich kommerzieller Erfolg ein, ließen sich die Coens dadurch nie von der Tagesordnung abbringen. Schreiben, Filmen, Schreiben, Filmen. Das letzte Mal verfassten sie drei Drehbücher am Stück (»No Country for Old Men«, »Burn After Reading«, »A Serious Man«), um dann drei Produktionen in Reihe zu schalten.
Ihre Filme mögen teilweise an Kaliber zugenommen haben, blieben vom Charakter her aber stets eigenwillige, unbestechlich konsequente Filme, geprägt vom typischen skurrilen, subversiven Stil der Coens und ihrem unfehlbaren Händchen für Charaktere und Dialoge. Die schöpferische Integrität, die allen Poren ihrer Filme entströmt, die charakteristische Handschrift sowie die Tatsache, dass sie oft mit denselben Technikern und Darstellern zusammenarbeiten, macht sie per Definition zu Autorenfilmern; und sie sind unter denen wohl die einzigen, die sich durchaus in dem aufhalten, was wir Mainstream nennen, sich A-List-Stars leisten können und messbare Einspielergebnisse erzielen.
Wer wäre denn da noch? Gus Van Sant betreibt Eigenbrötlerkino auf hohem Niveau, ist abwechselnd sperriger und artiger als die Coens. Jim Jarmusch genießt großen Respekt; seine Filme sind introvertierter und unzugänglicher als die der Coens. David Lynch gehört zum guten Ton, er macht abgründiges, sinistres Rätselkino, gerne ohne Lösung. Wes Anderson teilt mit den Coens den Sinn fürs Skurrile, pflegt überdies einen ähnlichen Ausstattungswahnsinn, aber er ist kein Erzähler.
Die Coens besetzen eine eigene kleine Nische, ihre Filme verquicken Anspruch und Amüsement auf wunderbare Weise, sie sind originell und kunstvoll, schämen sich aber nicht ihres Unterhaltungswertes. Sie verlieren sich selten in Launen, bürsten zwar sanft gegen den Strich, bleiben aber stets an der Erzählung orientiert und sind dadurch in der Regel immer gut verdaulich.
Grenzt sich die Coen-Nische thematisch ab? Abgesehen davon, dass ein Großteil des Coen-Œuvres das Verbrechen als narrativen Motor heranzieht (beliebt sind Mord, Betrug und Entführung, und oft geht dabei etwas schief), findet sich kein richtiger roter Faden. Machen die Coens Genre-Kino? Krimis, Thriller, Komödien? Auch nicht. Joel und Ethan kennen freilich die Winkelzüge des Kinos, sie verstünden es mühelos, einen waschechten Noir oder eine astreine Screwball-Comedy auf die Beine zu stellen (Fingerübungen dieser Art finden sich in ihrer Filmografie). Aber viel lieber lassen sie Konventionen links liegen; sie kidnappen Genres und verbiegen die Schablonen nach ihrem Gusto. Dabei machen sie keinen Hehl aus ihrer Liebe zu klassischen Formen des Kinos und der Literatur, lassen ihre Filme aber nie zur schwerfälligen Hommage geraten. Sie injizieren das, was man mittlerweile den ›Coen Touch‹ nennt.
Gerne lassen sie ihre Geschichten in der nicht allzu weit zurückliegenden Vergangenheit spielen (»Fargo«: 1987, »The Big Lebowski«: 1991, »No Country for Old Men«: 1980), bringen aber auch längst vergangene Epochen auf die Leinwand: die Prohibitionszeit der 30er Jahre (»Miller’s Crossing«), die Zeit der Depression in den Südstaaten (»O Brother, Where Art Thou?«), das Leben jüdischer Gemeinden zu Beginn der Flower-Power-Ära (»A Serious Man«). Die Geschichten sind allerdings immer fiktiv, nie historisch; die jeweilige Epoche liefert lediglich den kulturellen Hintergrund, die Region das Lokalkolorit, welches in den Händen der Coens oft ein faszinierendes Eigenleben entwickelt.
Zu den Markenzeichen der Coen’schen Filmlandschaft zählen dicke Menschen, schnell redende Menschen, schreiende Menschen, in Dialekten sprechende Menschen, ferner Menschen, die auf bizarre Weise ums Leben kommen. Die Coens lassen die Kamera gerne eine Straße entlangfahren oder auf ein Gesicht zu, einige ihrer Filme beginnen mit Landschaftsaufnahmen und einem launigen Voiceover, sie lieben mit Musik unterlegte Montagesequenzen und zitierbare Oneliner. Unverkennbar ist eine frappante Vorliebe für runde, sich drehende Objekte: sie können die Form von Ventilatoren, Hula-Hoop-Reifen, Radkappen, fliegenden Untertassen, Pomadedosen oder Bowlingkugeln annehmen. Nur Spielerei, eine fixe Idee, oder steckt da eine Art Code dahinter?
Vorsicht! Man hüte sich, im Werk der Coens zu viel Bedeutung zu suchen. Querverweise und Metaphern sind da, warten aber nicht auf ihre Entschlüsselung. In Interviews winden sich Joel und Ethan regelmäßig bei der Frage, was ihr jeweiliger Film denn bedeuten würde und warum dieses oder jenes Element so und nicht anders konstruiert wäre. Häufige Antworten sind dann »We were just thinking it felt right.« oder »It just goes where it goes.« Ihr Kino ist zu großen Teilen eines, das sich selbst genügt, ohne philosophischen Überbau auskommt. Es ist typischerweise nicht darauf aus, die Welt zu erklären, es trägt keine Botschaft, ist nicht politisch, ist nicht allegorisch.
Schlimm ist das nicht, im Gegenteil: Die Abwesenheit von verquasten Metaebenen gibt den Blick frei auf das natürliche Wesen nicht nur des Coen-Kinos, sondern des Kinos schlechthin, auf das schiere Funktionieren seiner Sprache. Die Coens tragen keine Aussagen, keine Kunst in den Film hinein, und trotzdem ist die Erfahrung so erfüllend wie bei drei Greenaways zusammen. So unterschiedlich oder abstrus die Themen der Coen-Filme auch sind, sie fühlen sich echt an, unaufdringlich und ehrlich, zwar überlegt, aber nicht überlegen.
Als Macher und Künstler geben sich Joel und Ethan wohltuend bescheiden und unprätentiös, und sie sind es auch; ihre Filme kommen so gekonnt wie gelassen daher. Sie buhlen nicht um Anerkennung, scheinen einzig und allein dem Kino verpflichtet, und sonst niemandem – nicht dem Studio, nicht dem Kritiker, nicht dem Publikum.
Nicht dem Publikum? Könnte man etwa sagen, die Coens liebten das Kino mehr als ihre Zuschauer? Weit hergeholt ist die Idee nicht, wiewohl die Rechnung für den Zuschauer dennoch aufgehen kann – wenn nämlich der das Kino genauso liebt wie die Coens, und ihnen, den Machern, ihrer Weltsicht und ihrem Humor noch eher verbunden ist als dem Film und seinen Figuren. Fehlt einem dieses Einverständnis, mag man eine gewisse klinische Kühle wahrnehmen, die tatsächlich vielen Coen-Werken innewohnt – ein unbestimmtes Gefühl der Distanz, ein impliziter Sentiment, der nicht da ist und den man nicht nachahmen kann, auch wenn der Film noch so ausgereift ist.
Dann und wann aber geschieht es, dass ein Coen-Film seine Charaktere wirklich gern hat, dass er diese besondere Wärme ausstrahlt, die den Film öffnet und ihm die Fähigkeit verleiht, nicht nur geschätzt, sondern auch geliebt zu werden. Präzise dann ist es der Fall, dass ein Werk der Coens die letzte Stufe von der Exzellenz zur Perfektion zu erklimmen vermag. Dem eher intellektuellen Genuss gesellt sich ein emotionaler hinzu, und der macht die Sache rund. Die Kritiker sprechen dann von ›Meisterwerk‹ und ›Geniestreich‹, und einer formulierte es sogar so, ohne die geringste Furcht vor Widerspruch: »In a perfect world, all movies would be made by the Coen brothers.«
*
Was in den nächsten Tagen folgt, ist ein Film-für-Film-Durchmarsch des kompletten Coen-Kanons, von 1984 bis 2009: 25 Jahre, 14 Filme, jeden Tag einen. Ein Hinweis für Coen-Neulinge: Die Texte können Spuren von Spoilern enthalten:
Raising Arizona (1987)
Miller’s Crossing (1990)
Barton Fink (1991)
The Hudsucker Proxy (1994)
Fargo (1996)
The Big Lebowski (1998)
O Brother, Where Art Thou? (2000)
The Man Who Wasn’t There (2001)
Intolerable Cruelty (2003)
The Ladykillers (2004)
No Country for Old Men (2007)
Burn After Reading (2008)
A Serious Man (2009)
Am 2. Februar 2010 um 09:43 Uhr
»In a perfect world, all movies would be made by the Coen brothers.«
Glasklar meine Vorstellung von der Hölle.
Am 2. Februar 2010 um 13:04 Uhr
Ach, Ekkehard. :-)
Am 2. Februar 2010 um 13:07 Uhr
Und, Ekkehard, grad gesehen, damit stehst du bei euch ja fast alleine da, zumindest was den Serious Man betrifft.
Am 3. Februar 2010 um 18:42 Uhr
Ja, well, kann man nix machen. (Wobei sich hinter dem „fast“ ja nicht niemand verbirgt. Und nicht dass mir das eine sehr liebe Allianz wäre, aber David Denby im New Yorker hat diesmal auch einfach recht.)
Wobei, geb ich gleich zu, es gäbe natürlich schlimmere Höllen als die, in der alle Filme von den Coens sind. Namen darf sich diesmal jeder denken.
Und ich hab eh etwas übertrieben, denn es gibt drei Filme von den Coens, die ich beim Ansehen sehr mochte, nämlich: Miller’s Crossing, Hudsucker Proxy und The Man Who Wasn’t There. Nur Hudsucker Proxy habe ich ein zweites Mal gesehen und er gefiel mir immer noch sehr. Der Rest ein bisschen egal (Fargo, No Country…, Burn After Reading) bis unerträglich (Barton Fink, Big Lebowski).
Allein die Vorstellung, um es noch mehr zu relativieren, dass im Afterlife nur Filme eines/r einzigen Regisseurs/in/nen/paars liefen, ist allerdings für sich schon die Hölle.
Am 3. Februar 2010 um 23:59 Uhr
Das »fast« war natürlich eine methodische Übertreibung. Wobei 87% Kritikerlob schon eine eigene Sprache sprechen, wie immer man auch die Prozentzahlen bei RotTom liest. Danke jedenfalls für den Rundown deiner Coen-Erlebnisse, an den erwähnten Filmen kommen wir ja in den nächsten Tagen auch noch vorbei.
Am 4. Februar 2010 um 04:06 Uhr
Genau, und es wird keine Langeweile aufkommen: von ›gefällig‹ über ›egal‹ bis ›unerträglich‹ wird ja alles dabei sein, was, Ekkehard? Wobei wir den letzten Film eigentlich weglassen können, RotTom hin oder her. Der Kollege vom New Yorker hat ja mit »intolerable«, »a hell to sit through«, »distant, dry« und »drably unappealing« einfach mal exakt den Eindruck beschrieben, den »A Serious Man« auf uns macht. Hut ab.
Am 4. Februar 2010 um 10:22 Uhr
Meinen Eindruck hat Denby in der Tat auf den Punkt gebracht. Ihre Ironie, falls es sich darum handelt, wie auch das „uns“, lieber San Andreas, verstehe ich nicht. Halten Sie eine solche Reaktion schlicht für absurd? Ich langweile mich in der Tat oft schrecklich in Coen-Filmen. (Denby lobt dabei durchaus das inszenatorische Können der Coens. Daran hat auch noch nie jemand gezweifelt.)
Wenn ich meinen grundsätzlichsten Einwand gegen die Coens formulieren sollte (er gilt sogar für die Filme, die ich mag), wäre es der, dass sie stets das Einverständnis eines impliziten Zuschauers mit ihrer Weltsicht unterstellen. Ich teile die Weltsicht nicht (finde sie noch dazu schrecklich selbstgefällig und zynisch), aber selbst wenn ich es täte, fände ich diese Unterstellung allein schon sehr unangenehm.
Am 4. Februar 2010 um 12:44 Uhr
Ist schon recht. Ich finde Denby eigentlich aufdringlicher als die Coens, ehrlich gesagt. Er will uns einreden, »A Serious Man« wäre nicht originell, denn Philip Roth hätte vor 50 Jahren schon ein Buch (ein Buch!) geschrieben, und es gäbe da diese Comics (Comics!). Yes, and…? Das klingt ziemlich verzweifelt. Wie kann ich die Menschen nur von dem Irrglauben abbringen, dieser Film wäre mehr als den handwerklichen Pfifferling wert?
Und »schrecklich selbstgefällig und zynisch«… Ach, ich weiß nicht. Das wäre mittlerweile mehr Leuten aufgefallen… Aber egal. Jedem das seine. Wir wollen nicht vergessen, das sind ›only movies‹. Sich ein bisschen dran reiben macht Spaß, aber man muss nicht die ganze Welt mit ihnen erklären. Sich groß zu echauffieren ist wie sich gegen schlechtes Wetter auszusprechen oder einen Einwand gegen die Mona Lisa zu erheben. Coen-Filme sprechen zu einem oder nicht, und man redet drüber oder nicht. Wir reden drüber, und das ist gut. Mal sehen, was noch so passiert. Vielen Dank einstweilen für die anregenden Anmerkungen. Keep ‘em coming!
Am 17. Februar 2010 um 00:33 Uhr
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