Mit BBC Two durch Russland:
Jonathan Dimbleby? A Great Man!
London, 10. Juli 2008, 07:49 | von Paco
»Lost« findet bis Januar 2009 erst mal nicht mehr statt, und auch sonst ist gerade Sommerpause im Serienland. Also kuckten wir letzthin die fünfteilige Russland-Doku von Jonathan Dimbleby, die zwischen dem 11. Mai und dem 8. Juni, sonntags, auf der BBC Two lief (»Russia – A Journey with Jonathan Dimbleby«). Parallel dazu ist ein Buch erschienen, die DVDs sind auch schon da (cf. die Website des Projekts).
Ein ungenannter Nachbar von Dique hatte schönerweise die 5 Teile aufgenommen, während wir unseren Giro d’Italia absolvierten, so konnten wir nach unserer Rückkunft wie jeder gute Serienjunkie alle Folgen hintereinander wegkucken. Bei der TV-/VCR-Klapperkiste des Nachbarn war manchmal wahlweise der komplette Empfang oder der Ton ausgefallen, oder vielleicht war das auch Teil des BBC-Plans, ein wenig zusätzliche russische Authentizität zu erzeugen, hehe.
Ok, es geht natürlich um – Russland, aber vor allem geht es um Dimbleby, und das ist ganz genau gut so. Er ist irgendwie eine Mischung aus Gerd Ruge (Russlandreisender) und Günter Jauch (gilt irgendwie als Intellektueller). Seine insistierende, manchmal bedenkenträgerische, manchmal ironische Art macht jedenfalls süchtig. Teilweise wusste ich gar nicht mehr, worum es gleich noch mal ging.
Die Reise von Murmansk nach Wladiwostok fand 2006 statt, »at a particularly critical stage in Russia’s history«, und die mehr als einjährige Verzögerung der Ausstrahlung hat diese Einschätzung im weitesten Sinne plausibler gemacht, wenn man der westlichen Lesart folgt, was man ja nicht unbedingt muss.
Dimbleby jedenfalls führt in seinen Dialogen gern die Demokratiedefizite der Russen vor, sein Fazit am Ende der letzten Folge: »The appetite for democracy in Russia is diminishing, and that, for me, is a dispiriting prospect.« Diesen politischen Kommentarton bringt er aber immer erst im Nachhinein, gegenüber seinen Gesprächspartnern verhält er sich stets non-judgmental (außer wenn die Stalin-Liebe einer dicken Russin mal etwas zu heftig durchkommt).
Dimbelby hat die 10.000-Meilen-Reise übrigens angetreten, ohne ein Wort Russisch zu können – ein Hauch von Wolfgang Büscher weht durchs weite russische Land, hehe. Nach dem erfolgreichen Kauf eines Tickets auf dem Kursker Bahnhof in Moskau scherzt er: »I’m getting better. At least I can do ›spasibo‹.«
Umso erstaunlicher ist es, dass er mit seinen Annäherungsversuchen ans russische Volk wirklich immer für authentisch wirkende Szenen sorgt. Die Einheimischen setzen sich durchweg zutraulich zu ihm in Beziehung. Wenn jemand kein Englisch kann oder nicht gut genug, fungiert eine russische Muttersprachlerin aus seinem Doku-Team als Übersetzerin. Sie hält sich aber dezent im Hintergrund, im Fokus ist immer nur Dimbleby.
Er stellt sich zum Beispiel in eine Undergroundparty in Jekaterinburg und schaut sich später in derselben Stadt eine Schnapsbrenner-Razzia an. Oder er küsst eine zahnlose, aufgedrehte Bäuerin und lässt sich dafür von der umstehenden Bäuerinnen-Peergroup feiern. Oder er besucht in Tschita eine Gedenkveranstaltung zu Ehren der Dekabristen.
Oder er lässt sich von einem Sumo-Masseur kneten, in einem Sauna-Ambiente, das an die Nacktkampfszene in »Eastern Promises« erinnert. Während er durchgewalkt wird, sagt er in abgehackten Sätzen, dass er sich dabei wie das russische Volk fühlt:
»It’s a bit fanciful but there is a kind of metaphor here. If you think, all down the centuries the Russians have been oppressed in one way or another, by czars, autocrats, bloody tyrants, dictators, the Soviet system, and now, well, whatever it is now. I kind of feel I’m the Russian people here. Frivolous thought but it’s the kind of thing that comes to your mind when you’re going through this.«
Weitere anekdotenfähige Szenen: Im 30-Stunden-Zug nach Nischnewartowsk kommentiert er einen halb vergammelten Riesensamowar, der auf dem Gang steht: »The samovar. Russian icon. I never quite understand why it’s so special because it does, infact, a very simple thing which is give you water.« (Hehe.)
Im Zug ab Moskau teilt er sich mit einem ukrainischen Arbeitsmigranten ein Bier. Er wedelt mit der Penguin-Ausgabe seines Lieblingsromans und erklärt seinem kurzfristigen Saufbruder: »It’s a very famous Russian book, called ›Anna Karenina‹, by Tolstoy. You know Tolstoy? Great man, yeah, he’s a great man!«
Dieser Klappentextduktus wirkt seltsamerweise ähnlich sympathisch wie das genaue Gegenteil, wenn etwa Hamsun seinen Johan Nilsen Nagel über Tolstoi herziehen lässt (Dique hat das neulich erwähnt).
Natürlich besucht er auch Tolstois Landgut, Jasnaja Poljana, hervorzuheben sind außerdem seine Auseinandersetzung mit dem Veteranentum im Umfeld der 9.-Mai-Parade in Moskau oder der Besuch des Jüdischen Autonomen Gebietes im Südosten des Landes.
Übrigens haben ihn die Gremlins überall hin verfolgt. Die Gremlins? Ach so, der Kreml heißt auf englisch ›Kremlin‹, und da kann man sich schon mal verhören, besonders wenn der nachbarliche VCR gerade mal wieder den Ton verrauscht hat, hehe.
Also also, die BBC hat da eine ganz feine Doku gemacht, die man weiterempfehlen kann wie warme Semmeln.
Foto: »JD in Snowscape«
(© Random House; mit Dank an Claire Scott!)
Am 10. Juli 2008 um 08:22 Uhr
Sechs Sonderpunkte für die Erwähnung von Wolfgang Büscher, und weitere 12 für den Terminus Bäuerinnen-Peergroup, für den es bisher sicher etwa null Treffer in den einschlägigen Suchorganen gegeben haben muss.