Erwartung enttäuscht

Hamburg, 15. Mai 2010, 10:35 | von Dique

Einmal Hamburg–Düsseldorf und zurück. Diese Zugstrecke reicht ziemlich genau für die Lektüre von Thomas Bernhards »Untergeher«. Das Buch fand ich nicht nur erfrischend, weil sich der Text ohne Absatz, wie immer bei Bernhard, quasi im Sturm von Buchdeckel zu Buchdeckel bewegt, sondern auch inhaltlich im Kontrast zu dem eben gelesenen »Verfolger« von Julio Cortázar.

Bernhard gelingt das Portrait Glenn Goulds aus Sicht eines, wenn auch fiktiven, engen Freundes und irgendwie auch Biografen deutlich besser, ohne dabei in irgendeine Tiefe zu gehen und zu versuchen, tatsächlich die Person Gould zu entblättern. Natürlich ist Gould nur eine Krücke, ein Pendant zum Untergang des »Untergehers« Wertheimer, doch bleibt das Buch auch ein Quasi-Portrait des grööößten Pianisten aller Zeiten.

Im Gegensatz dazu steht sich der Erzähler und Biograf im »Verfolger«, der Jazzkritiker Bruno, die meiste Zeit selbst im Weg. Die Liebe zum Jazz, die Musik als Lebensmittelpunkt, wird weder über die Figur des Biografen noch über die des drogensüchtigen Jazz-Saxophonisten Johnny Carter/Charlie Parker von Cortázar in bewegende Literatur umgesetzt. So kamen mir die 200 Seiten »Untergeher« deutlich kürzer vor als die 100 Seiten »Verfolger«.

Nun stehe ich im Antiquariat und nehme eine Taschenbuchausgabe des »Untergehers« aus dem Regal, schlage sie auf und werde mit einer handgeschriebenen Kritik des Vorbesitzers konfrontiert, der sich G.S. nennt und sich vor genau 10 Jahren durch das Buch gequält hat:

Suhrkamp-Taschenbuch 2956, Bernhard, Der Untergeher, Handschriftliche Kritik

Beurteilung:
das Buch hat mich
insgesamt enttäuscht,
zeitweise sogar gelang-
weilt, meine Erwartungen
an Autor u. Titel wurden
nicht erfüllt
Note: 3–4 (G.S.)

Ich habe das dann genauso abgeschrieben, in meine Suhrkamp-Taschenbuchausgabe vom »Verfolger«, und schmuggle sie morgen heimlich dort ins Regal.

6 Reaktionen zu “Erwartung enttäuscht”

  1. Gregor Keuschnig

    „Note 3-4“!

    Bernhard hätte vermutlich gesagt, dass, wenn die Erwartung enttäuscht wurde, vielleicht die Erwartung falsch war. Oder, nein: Er hätte dazu gar nichts gesagt und nur sein (Vor-)Urteil über die verständnislosen, „stumpfsinnigen“ Leser gepflegt. Demzufolge wäre seine Erwartung erfüllt worden.

  2. bosch

    Genau dieses Exemplar hatte ich vor einigen Wochen auch in der Hand:
    http://twitpic.com/144s4q

    Ich teile die Einschätzung des G.S. übrigens nicht.

  3. Dique

    @Gregor: Demzufolge hätte die Überschrift also „Erwartung erfüllt“ heißen sollen, zumindest aus Bernhard-Sicht.

    @bosch: „Vor einigen Wochen …“, scheinbar ist diese „so genannte Kritik“ eine echte Verkaufsbremse. Ich machte mein Foto tatsächlich gestern bei Zardoz. Ich gehe davon aus, dass du es auch dort fotografiert hast?

  4. Gachmuret

    Die Frage, die mich bewegt, ist ja: Was hat G.S. erwartet? Wieder eine ungeklärte Frage der Rezeptionsgeschichte.

  5. Gregor Keuschnig

    @Dique
    Vielleicht eher „Wunsch erfüllt“. Bernhard war ja ein Schriftsteller, der seine Ablehnung geradezu provozierte und daraus neue Kraft zu schöpfen schien.

    Natürlich ist „Erwartung enttäuscht“ letztlich die „richtige“ Überschrift. Und Gachmuret hat ja recht: Was hat G.S. erwartet? und: Welche Bücher hat er noch gelesen?

  6. Sean

    Ich empfand den Untergeher ebenfalls als furchtbar. Note 3-4 ist definitv zu gut. Diese ständigen Wiederholungen haben mich beim Lesen wirklich wahnsinnig gemacht. Personen, denen Wiederholungen, und Gebrabbel, ohne Punkt, aber mit vielen Kommata, im wahren Leben, nichts ausmachen, gefällt es wohl.

Einen Kommentar schreiben