Ein Brief von Umar Vadillo Goicoechea
Hamburg, 22. Mai 2010, 11:05 | von DiqueMorgen wird es hier im Umblätterer wieder eine Massakerminiatur von John Roxton geben, wie jedes Jahr am 23. Mai. Vor ein paar Tagen traf ich John auf ein Stück Butterkuchen in der Konditorei Stenzel, und wir sprachen kurz über die Tradition der Massakerminiatur in der Literatur allgemein und in der Blogosphäre im Speziellen.
Später kamen wir, wahrscheinlich abgekoppelt von diesem Thema, auf Ernst Jünger zu sprechen. Das ging dann vielleicht fünf Minuten so dahin, bis wir aufstanden und gehen wollten, als uns ein allein sitzender junger Mann vom Nebentisch aus ansprach und provokant fragte, was denn mit »dem Arbeiter« sei! Kein »Entschuldigense bitte«, kein »Darf ich mich kurz vorstellen?«, einfach nur: »Ähm, was ist denn mit ›dem Arbeiter‹!«
In retrospect finde ich diesen Anschluss suchenden Fragensteller eigentlich ziemlich superst, auch weil ich gerade den 5. Band von »Siebzig verweht« lese und auf die folgende Stelle stieß. Am 2. Februar 1991, der Golfkrieg ist im Gang, erhält Ernst Jünger einen Leserbrief von Umar Vadillo Goicoechea, in dem ihn der Schreiber seinen moslemischen Bruder heißt. Dann geht es u. a. darum:
»Das Lesen Ihres Buches ›Der Arbeiter‹ in Spanisch hat mich überwältigt. Sie haben den Mythos des ökonomischen Menschen zerbrochen, ein selbst verfasstes Gefängnis, das durch den fortlaufenden Lebensprozess verdeckt wird.«
Es sind tatsächlich einige kulturgeschichtliche Eckdaten, die man einbedenken muss, um sich ein Bild davon machen zu können, was es heißt, dass a) ein spanischer Konvertit b) dieses Buch c) in der spanischen Übersetzung d) im Jahr 1991 liest und sich dann e) auch dazu bemüßigt fühlt, dem Autor knapp 60 Jahre nach Erscheinen des Bandes noch eine Nachricht zukommen zu lassen.
Noch spannender fand ich aber einen Eintrag weiter vorn. Jünger schreibt ja sehr viel über seine Träume, und manchmal fühlt man sich beim Lesen wie Freud nach einer interessanten bis weirden Sitzung oder wie Hitchcock, als er zum ersten Mal Dalís Bauten für die Traumsequenz in »Spellbound« zu Gesicht bekommen hat.
Jedenfalls beschreibt Jünger in einem dieser Träume ein Techtelmechtel mit einer jungen Dame in einem »verwohnten Berliner Hause, einer meiner Absteigen«. Nun steigt er die Treppen bis zum Dachgeschoss in Begleitung eben dieser Dame hinauf, »einer jungen, korrekt gekleideten Lehrerin, Potsdamer Stil«. Die beiden Turteltauben schauen dann durch ein Fenster, »in dem Buchhalter auf Büromaschinen den Hohenfriedberger hämmerten«.
Wenn ich bedenke, dass man ja zum Beispiel auch von John Roxtons Massakerminiaturen träumen könnte, zöge ich es ebenfalls vor, auf dem Höhepunkt der REM-Phase aus einem Schreibmaschinengewitter heraus den Hohenfriedberger zu erkennen.