Best of Feuilleton 2006
Die zehn besten Texte aus den Feuilletons des Jahres 2006
Janina Turek, Willi Winkler, Rechtschreibreform, Tate Modern, Bachmann-Preis, »Spiralblock-Affäre«, Emphatiker & Gnostiker, GraSS, Analverkehr, Ein Jahr Große Koalition
1. Mariusz Szczygieł
Das Handwerk des Lebens. In: Die Presse, 25. 2. 2006.
Mariusz Szczygiełs Bericht über die seltsamen Tagebücher der Krakauer Hausfrau Janina Turek (1921-2000) ist ein echter Reportageglücksfall. Mit ihren akribischen Aufzeichnungen hatte die Polin unbewusst eine Anweisung der Philosophin Jolanta Brach-Czaina befolgt, nach der man »dem Sinn der Alltäglichkeit nachjagen (müsse) wie einem Verbrecher«: 57 Jahre lang notierte sie täglich »alle Feiern, Ausflüge, Tanzveranstaltungen, gefundenen Gegenstände, Briefe, Lektüren, Kinogänge, Nächtigungen außer Haus, empfangenen Besuche, abgestatteten Besuche, Frühstücke, Mittagessen, Abendessen«, insgesamt 71.042 Eintragungen in 728 Hefte. Dass sie dabei stets sachlich blieb und nie über Gedanken oder Gefühle schrieb, wirkt ziemlich unheimlich, und so ist Szczygieł erleichtert, als einige unabgeschickte Postkarten der Krakauerin auftauchen, auf der sie sich selbst von ihrer Gefühlslage informiert. Szczygiełs Text ist ein Bericht über einen interessanten Menschen, dessen interessantes Werk aber ungedruckt und unlesbar ist und nur als Fremdreportage funktioniert. Hätte es Janina Turek nicht gegeben, irgendein Follow-up-Borges hätte sie und ihre Notiztagebücher früher oder später erfunden.
2. Michael Angele / Willi Winkler
Sie küssen und sie schlagen ihn. (Interview.) In: Netzeitung, 11.-13. 1. 2006.
Behind the Scenes of German Feuilleton! Souverän hat die Netzeitung ihre »39 Fragen«-Rubrik etabliert und im Verlauf des Jahres mit Matthias Matussek, Diedrich Diederichsen und Stefan Niggemeier einige der interessantesten Figuren aus der Halbwelt des Feuilletons ans Licht geholt. Den Rahmen sprengte aber das Gespräch mit Willi Winkler gleich zu Jahresbeginn: Das Interview beginnt mit einer Frage des Interviewten, und wegen der Rasanz des Dialogs wurden es statt der vorgegebenen 39 Fragen gleich dreimal so viele. Dutzende komplett verschiedene Themen und Anekdoten werden im Vorbeigehen gestreift, ohne dass Zeit gewesen wäre zum Vertiefen. Der Text vermittelt so eine Ahnung von der Umtriebigkeit, der Deutungshybris und dem geweiteten Blickwinkel der gefühlten Allzuständigkeit des deutschen Feuilletons, aber auch von dessen Unterhaltungswert, Humor und Schlagfertigkeit.
3. Theodor Ickler
Die Vernunft kehrt nur in Trippelschritten zurück. / Noch nicht einmal der Duden hält sich an den Duden. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 20. bzw. 21. 7. 2006.
So leidenschaftlich wie einst Cicero gegen Catilina kämpft der in Erlangen lehrende Linguist Theodor Ickler gegen die politisch forcierte Rechtschreibreform. Er hat vor Jahren das neue Genre der Rechtschreibreformverrisse mit begründet und führt es hier in Gestalt zweier Rezensionen der neuen Wörterbücher von Wahrig und Duden fort. Was in philologischen Rezensionsorganen das Aufstellen unverdaulicher Errata-Listen ist, wird bei Ickler zu einem Virtuosenstück. Niemand baut aus hunderten orthografischen Beispielen einen so gut lesbaren Text. Icklers unbedingte Voreingenommenheit gegen sämtliche Erscheinungen der Reform stößt allenthalben auf, aber er kann seine ganze Abscheu gegen diese »peinlichste Episode der deutschen Sprachgeschichte« nun mal gut begründen. Die neueste Errungenschaft der Reformer, nämlich das Zulassen von Schreibvarianten, im Speziellen das Empfehlungsgelb, mit dem der Duden die zu bevorzugende Variante unterlegt, läute laut Ickler das »Ende der deutschen Einheitsorthographie« ein. Trotz dieser apokalyptischen Momente werden Icklers Polemiken hoffentlich weiter in der »FAZ« erscheinen, die nun seit einigen Tagen selbst die reformierten Regeln benutzt.
4. Brian Sewell
Hanging’s too good for them. In: Evening Standard, 26. 5. 2006.
Seit Jahrzehnten begleitet der Kunstkritiker Brian Sewell für den »Evening Standard« die Londoner Ausstellungsszene. Dabei geht es weniger um die Kunde vom Event als um die Verkündung seiner eigenen Auffassung, die neben einem unerschöpflichen Verweiskosmos aus kunstgeschichtlichen und persönlichen Anekdoten eine passionierte Note trägt. In diesem Artikel kritisiert er gewohnt offensiv die neue Hängung in der Tate Modern. Schon die alte Tate Gallery in Millbank sei irgendwann vor ein paar Jahren von einer enzyklopädisch präsentierten Sammlung britischer Kunst zu einem »utterly unpredictable merry-go-round« degradiert worden, dank Kunstsponsoren und immer neuen Wechselausstellungen. Auch in der Tate Modern präsentiere man nun zu viel irrelevanten und politischen Mist, der mit Kunst nichts zu tun habe. Sewell geht dabei ohne Umschweife die Direktion an, wettert gegen die Sponsoren und sortiert passagenlang schlechte Künstler aus, die seiner Meinung nach nicht in die Tate gehörten. Sewells Kunstbild kann sicher als konservativ bezeichnet werden, doch da sein Dogmatismus auf einem breiten Erfahrungsfundament ruht, das er mit frischer und wohlgeformter britischer Schreibe ausbreitet, wird jede seiner Freitagskolumnen zum Lektürehighlight in der sonst eher faden Welt der Kunstkritik.
5. Kathrin Passig
Sie befinden sich hier. (Gekürzte Fassung.) In: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 3. 7. 2006. (Originalfassung hier.)
Ein Wanderer hat sich in den Schneelandschaften des Riesengebirges verirrt, irgendwo an der deutsch-tschechischen Grenze. Dabei war der banal touristische Kurzausflug nur als Gang zum nächsten Glühwein geplant. Dass der Erzähler seine bedrohliche Lage ab und zu mit den Abenteuern von Amundsen, Nansen & Co. abgleicht, ist vor allem komisch. Auch, dass er sich bereits Gedanken um die mediale Nachbereitung macht, ohne dass er (oder sie?) Aussicht auf Rettung hätte. Komischerweise liest man auch die völlig unangemessene Smart-ass-Prosa gern (wie die Sache mit den polysynthetischen Eskimosprachen, die Unterscheidung Hase – Kaninchen usw.). Zudem hat die Erzählung eine rätselhaft-kriminalistische Komponente, nämlich die offensichtliche »Abschaffung Annes«, der Begleiterin der Erzählerfigur. Alles in allem ein begeisternder Text, der zu Recht den Bachmann-Preis gewonnen und auch beim Wiederlesen in der »FAZ« nicht an Lesevergnüglichkeit verloren hat.
6. Christine Dössel
Deckname: Beckett. In: Süddeutsche Zeitung, 25. 3. 2006.
Der beste schlechte Text des vergangenen Jahres gelang Christine Dössel mit ihrem Porträt des Schauspielers Thomas Lawinky. Dieser war einige Wochen zuvor live mit dem »FAZ«-Kritiker Gerhard Stadelmaier ins Gerangel gekommen und hatte durch seine Handgreiflich- und Unflätigkeit die »Spiralblock-Affäre« ausgelöst. Die darauf folgende Feuilleton-Farce wird nun durch Dössels Artikel stilecht zu neuen Höhepunkten geführt. Lawinky nutzt seine 15 Minuten Ruhm auch gleich, um seine Porträtistin ungefragt mit der Information zu beliefern, dass er bei der Stasi gewesen sei. Der Witz dabei ist sein angenommener Deckname: »Beckett«! Das ist wirklich zum Schießen und nicht das einzige Mal, dass die von Dössel atemlos mitnotierten Angaben Lawinkys in einen semantischen Supergau münden. Der Artikel bietet auch einen Reigen mit hanebüchenen Szenen aus dem Regietheater von Sebastian Hartmann, und weil Christine Dössel nichts auch nur ansatzweise kommentierend bricht, liest sich das alles so unrettbar albern. Und was passiert, wenn Lawinkys Täterakte nie gefunden wird und seine Stasi-Mitarbeit bloße Behauptung bleibt? »Dann ist das Kunstwerk perfekt!«, schickte er im »Freitag« nach.
7. Hubert Winkels
Emphatiker und Gnostiker. Über eine Spaltung im deutschen Literaturbetrieb – und wozu sie gut ist. In: Die Zeit, 30. 3. 2006.
Volker Weidermanns Buch »Lichtjahre – Eine kurze Geschichte der deutschen Literatur von 1945 bis heute« schlug hohe Wellen, weil es den Biografismus zurück in die Sekundärliteratur brachte. Hubert Winkels‘ wirklich schön betitelte Unterscheidung zwischen den biografisierenden Emphatikern und den textimmanent argumentierenden Gnostikern bezieht die Diskussion auf den gesamten deutschsprachigen Literaturbetrieb, also nicht nur auf die Kritiker und Literaturwissenschaftler, sondern auch auf die Autoren. Er sieht zwar einen Riss zwischen medialer Inszenierung einer- und der Konzentration auf Texte andererseits, will ihn aber nicht überwunden wissen, sondern interpretiert ihn als Produktivkraft der neuen deutschen Literatur. Winkels empfiehlt beiden Lagern eine gründliche Diffusion und befiehlt etwa den Gnostikern, endlich die Lektüre von Stephen King und Frank Schätzing nachzuholen. Als Hort dieses Spannungsfeldes sieht er den Kiepenheuer & Witsch Verlag mit seinen gegenpoligen Autoren. Wenn der Kölner Verlag diese Spannung aushalte, »dann wird man die laufende Zeit irgendwann im Begriff der Kiepenheuer-&-Witsch-Kultur zu fassen bekommen«.
8. Henryk M. Broder
Der Herr der Binse. In: Spiegel Online, 14. 8. 2006.
Bei »Spiegel Online« gibt es nicht dasselbe Story-Gebot wie im gedruckten »Spiegel«, und das Epische ist denn auch nicht gerade eine Stärke von »SPON«. Aber die schnelle Glosse zum aktuellen Anlass ist es, und deren Meister ist Henryk M. Broder. »Der Herr der Binse« ist einer der vielen Artikel, die die Debatte um die Mitgliedschaft des Nobelpreisträgers Grass in der Waffen-SS thematisieren, und doch hat er schon zwei Tage nach dem Scoop der »FAZ« Schlusspunktqualitäten. Broder stellt keine überzogenen Forderungen an Grass (wie die, den Nobelpreis zurückzugeben, die Danziger Ehrenbürgerschaft usw.), sondern stellt den Autor kurzerhand als dilettierenden Alleskommentierer bloß. Wer sich nach diesem Artikel noch zu Grass äußert, das wird bei Broder mehr als deutlich, vertut seine kostbare Zeit.
9. Dietmar Dath
Es kommt drauf an, wie man’s macht. Warum Sido nur offene Türen einrennt. Eine Falluntersuchung zu popkultureller Provokation und Analverkehr. In: Jungle World, 26. 4. 2006.
»Man müsste diese überraschende Inanspruchnahme des Anus, seine Erhebung zum zweiten Mund, zu etwas, das sich nicht mehr mit der Exkretion begnügte, (…) philosophisch analysieren«, schreibt Julio Cortázar in »Rayuela« und meinte damit noch das Überhandnehmen der Behandlung mit Zäpfchen. Als Spezialist für unklassische Feuilletonthemen setzt Dietmar Dath diese Denktradition fort und nimmt sich diesmal den Analverkehr vor. Er gähnt zwar über sein Thema und zweifelt an dessen Tabubruchstatus. Dass der Text des »FAZ«-Redakteurs aber nicht im eigenen Blatt, sondern in der »Jungle World« erscheint, ist natürlich kein Zufall. Dath beschreibt anfangs ein Abendessen in einem kleineren Kreis von Kulturmenschen. Er hört dort zum ersten Mal vom »Schmuddel-HipHop aus Berlin« und stolpert kurz darauf über Sidos »Arschficksong«, den er trotz einschreitendem Jugendschutz nur offene Türen einrennen sieht (was für Dath aber natürlich auch in Ordnung geht). Mit Sido ist er beim Thema, ihm geht es als »eingefleischtem Literarizist« dann jedoch eher um mehr oder weniger belletristische Verschriftlichungen von Analverkehr, und diese lässt er dann gelten, wenn sie als Emanzipationsmechanismus dienen (bei A. L. Kennedy) und zum Selbstzweck (bei Samuel Delany). Nur so »kann der Arschfick in der Kunst wenigstens momentweise das werden, wozu ihn der Schöpfer bestimmt hat: eine Praxis, die Menschen zufriedener macht, als sie vorher waren, und nebenbei ihr Körperbild verändert, ohne dass das gleich wieder so furchtbare Folgen wie eine neue Ethik oder Kinder nach sich zieht.«
10. Marcus Jauer
Villa Ritz. Ein Jahr große Koalition – ein Drama. (Webtitel: Wir können es nicht mehr hören!) In: Süddeutsche Zeitung, 21./22. 10. 2006.
Der Perlentaucher nannte Marcus Jauers großformatige Reportage »impressionistisch«. In 19 Shortcuts springt er zwischen Mikro- und Makrokosmos hin und her, hat die alten und neuen Größen der koalierenden Volksparteien sowie kleine Leute mit Einzelschicksalen befragt. Nicht konkret, eher allgemein. Beim Lesen könnte so der Eindruck entstehen, es gehe um nichts, aber Jauer hat ein Gespür für hammerharte Details. Etwa wenn er erstaunt schildert, wie statt der Sekretärin der nunmehrige Altkanzler gleich persönlich ans Telefon geht. So trivial konkretisiert sich hier Machtverlust. Bezwingend ist auch die erzählerische Machart des Artikels: Von Jauer befragte Prominente kehren in späteren Textabschnitten wieder, um übers Telefon irgendwelche Dinge richtigzustellen. Etwa Michael Schindhelm, dem noch etwas zu der Sache mit der Widmung für Angela Merkel eingefallen ist (»Gehe ins Offene!«). Weitere textliche Höhepunkte sind die kühne Prügelknaben-Allegorie mit den Weißbartpekaris des Berliner Zoos und eine Aufzählung à la Döblin, die in zehn Zeilen ohne Satzwert einfach mal festhält, was es am Tag der Deutschen Einheit auf der Festmeile in Berlin für Essensgelegenheiten gab (»Currywurst, Bratwurst, Bulette, …«).
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[ first published in satt.org, 6. 1. 2007 ]