Besuch bei Wezel

Leipzig, 18. November 2010, 19:13 | von Paco

Beckers Wezel-Buch (1799), Ausschnitt TitelseiteAm 13. September 1798 trifft (der hier neulich schon erwähnte) Johann Niko­laus Becker in Sondershausen ein. (Nebenbei, im selben Jahr erscheinen die Bände 2 und 3 seines megalomanischen Reichsverfassungskritik-Mammut­werks, dazu und zu Becker selbst ein ander­mal.) Er hat extra einen Umweg genom­men, um Johann Karl Wezel besuchen zu können, den Autor des Romanhits »Belphegor« (1776), der 1786 aus Leipzig zurück in die thüringische Pro­vinzstadt gekommen war, geistig ausgelaugt und leicht wahnsinnig.

»In Sondershausen selbst kannte man Wezels Thorheiten nur, Nie­mand hat seine Schriften gelesen, Niemand vermag ihn zu schätzen«, berichtet Becker. Er begibt sich zur Frau des Hofsilberdieners Bär, wo Wezel seit seiner Rückkehr untergekommen ist. Sein mitgebrachtes Geld hatte für die ersten neun Jahre gereicht, danach habe er laut Auskunft der Wirtin nichts mehr gezahlt.

Allerdings sorge inzwischen der Sondershausener Hof mit 5 Groschen täglich für Wezels Unterhalt, nachdem die Reiseschrift »Durchflüge durch Deutschland, die Niederlande und Frankreich« von J. L. von Heß (Band 1, 1793, S. 190–194) auf die Lebensumstände dieses großen Sohnes der Stadt (um mal eine Regionalzeitungsfloskel zu benutzen) hingewiesen hatte.

Von Wezels Wirtin erfährt Becker dann die Basics: Wezel lebe zurück­gezogen in seinem Zimmer, verlasse das Haus nur selten, dann aber immerhin in den schönsten Ausgehsachen. Sein Lieblingsessen: abgebrühte Kartoffeln. »Brodt hat er 9 Jahre lang nicht gegessen.«

Seine Sonderbarkeit sei zunehmend in puren Menschenhass umgeschlagen. Ab und zu unternehme er einen Spaziergang querfeldein ins Umland, bis es ihm irgendwo gefiel und er dort blieb, »bis ihn der Hunger wegtrieb. So hat er einst 3 Tage und 3 Nächte ununterbrochen auf einem nackten Felsen gelegen und die Sonne und den Mond angestarrt.«

Zuweilen brüllt er lateinische Reden zum Fenster hinaus

Wenn ehemalige Freunde oder Bekannte sich zum Besuch anmelden, lasse er sie ausnahmslos abweisen. Seine Mutter, die ab und zu aus Weimar herübergekommen sei, verleugne er. Nur einmal habe er einen jungen Mann willkommen geheißen, einen Venezianer namens Lorenzo, »aber Niemand verstand sie, denn sie sprachen italiänisch«. Ansonsten scheine Wezel ununterbrochen zu schreiben.

Nach dieser Einführung wird Becker darauf vorbereitet, dass Wezel gleich herunterkommen und seinen 18-Uhr-Schnaps einnehmen werde. »Reden Sie ihn lateinisch an. Diese Sprache scheint er sehr zu lieben, denn er singt gewöhnlich lateinisch und brüllt auch zuweilen lateinische Reden zum Fenster hinaus.«

Bei Wezels Erscheinen tritt ihm Becker in den Weg und versucht es wirklich auf Lateinisch, aber der Angesprochene schreit wütend herum – »Stultissimorum stultissime!« – und flieht hinauf in sein Zimmer. Becker steht vor verschlossener Tür und hört ihn minutenlang laut fluchen. Er will es daraufhin eigentlich nicht noch mal versuchen, aber die Wirtin hält ihn dazu an. Die beiden gehen ein zweites Mal hinauf.

Wezel will sich wieder nicht anreden lassen und spricht Drohungen aus. Becker reagiert darauf berechnend, er lässt seinerseits einige Beleidigungen los, eine unerwartete Gegenrede, die Wezel sehr zu irritieren scheint. Der Irritierte lässt sich dann tatsächlich auf den Schlagabtausch ein, er bezeichnet sich dabei als »Gott« und »Gott der Götter«, und nach ein wenig gespielter Unterwürfigkeit vonseiten Beckers lässt er diesen tatsächlich in sein Zimmer!

Die schönen Bankzettel!

Johann Karl Wezel (Kupferstich von Christian Gottlieb Geyser, 1780)Becker zählt 32 Bücher auf dem Tisch (darunter Robinsons »Geschichte der Regierung Kaiser Karls V.«, Gedichte von Bürger, lose Blätter aus Wezels eigenem »Belphegor«, ein italienisches Wörter­buch, Werthers Leiden). Außerdem liegt ein riesi­ger Manuskriptstapel herum, der den Vermerk trägt: »Opera Dei Vezelii ab anno 1786 usque huc.« Ein Gespräch von 2 Stunden schließt sich an, das zunächst sehr abseitig ist, dann aber relativ normal wird. Es geht um Wezels Zeit in Wien, von der ihm vor allem die schönen Bankzettel in Erinnerung sind:

»Bezahlt man in Wien noch mit Bankzetteln? (…) Sieh, das ist eine so schöne Sache. Aber die dummen Menschen hier in Sondershausen haben es nicht gewollt. Ich habe Ihnen auch Bankzettel gemacht, aber sie haben sie nicht annehmen wollen.«

Dann geht es um Literatur, um Wezels »Belphegor« (»Er hält ihn für sein wohlgelungenstes Werk, wahrscheinlich, weil er darin seinen hohen Unmuth gegen das Menschengeschlecht so recht erschöpft hat.«), aber er fragt auch nach Wieland, Goethe, Blumauer, Ramler, Klopstock.

Außerdem fragt er, ob Becker neue deutsche Literatur dabei habe. Ja, hat er, den ersten Theil des »Wilhelm Meister«, den er Wezel übergibt (und nie wiedersieht, ebenso wenig wie seine Tabakspfeife). Er berichtet ihm noch kurz von der Guilletonierung des französischen Königspaars (»war ihm neu, aber nicht unerwartet«).

Der Manuskriptstapel

Dann fragt Becker noch nach den Manuskripten im Zimmer. So wie anderthalb Jahrhunderte später Unseld von Koeppen erhoffen sich auch Wezels Zeitgenossen von ihrem Autor endlich das ausstehende Meisterwerk:

»Begieriger war ich auf das, was er seit seines Aufenthalts in Sondershausen gearbeitet hatte. Er war aber nicht zum Vorzeigen zu bewegen. So viel versicherte er mir aber, daß diese Schriften die Bewunderung der Welt auf sich ziehen würden.«

Mithilfe der Wirtin und eines Barbiers, »die von außen zugehört hatten«, schreibt Becker anschließend das Gespräch nieder. Er hat sich mit Wezel für den Folgetag verabredet, aber da lässt er ihn schon nicht mehr an sich heran, er kommt auch nicht mehr seinen Schnaps holen, und nach zwei Tagen reist der Besucher ab.

Aus seinem Erlebnis macht Becker dann ein Buch, aus dem hier gerade auch zitiert wurde: Wezel seit seines Aufenthalts in Sondershausen. Erfurt 1799. – Google Books hat übrigens die Ausgabe der Bayer. Staatsbibliothek gescannt, im Einband – »Ex donat. Molliana« – steht in Kurrentschrift die Notiz: »Sehr merkwürdig!«

Sie wie auch Becker waren andere Wezel-Freunde der Meinung, dass sich sein Zustand heilen ließe, wenn es denn nur jemand richtig versuchte:

»Der hohe Genius, der in jüngern Jahren dem deutschen Vaterlande so vortreffliche Werke geschenkt hat, ist keineswegs gelähmt; er regt sich immer noch mit mächtigen Flügelschlägen. (…) Bei mir ist kein Zweifel, daß die Behandlung eines geschickten Arztes in wenigen Monaten fähig ist, den so trefflichen Mann der Welt wieder zu schenken.«

Das ist dann kurz nach Erscheinen der Schrift auch vom Homöopathie-Hahnemann persönlich versucht worden, während zweier Monate des Jahres 1800, erfolglos. Er kam mit dem aggressiven Wezel einfach nicht zurecht und schickte ihn recht schnell von Hamburg zurück nach Sondershausen.

(Ach ja #1: Als sofortistische Anschlusslektüre geeignet sind der Wezel-Artikel in der ADB, die Zeittafel auf der Website der Wezel-Gesellschaft und das Sondershausen-Kapitel der »Südharzreise«.)

(Ach ja #2: In Christoph Neuberts Wezel-Dissertation (2004/2008) wird übrigens Beckers Glaubwürdigkeit angezweifelt. Der Bericht über seinen Besuch bei Wezel sei »aller Wahrscheinlichkeit nach frei erfunden, doch deshalb nicht weniger folgenreich« (S. 166). Also immerhin! Der Becker-Bericht hat in der Wezel-Rezeption tatsächlich schnell Epoche gemacht, von ihm gehen zig Verzweigungen aus wie überhaupt die Wezel-Story sehr komplex ist. Hier ging es nur um diesen einen Bericht, also auch um Becker selber, dessen Autor. Demnächst mehr von JNB.)
 

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