Gottfried Kellers katholisches Abenteuer — eine Provokation?
Konstanz, 24. Juli 2011, 08:24 | von Marcuccio»Wie spricht man im Zeitalter des Unglaubens von Glaubenssachen?« Die Frage klingt nach Matthias Matussek. Doch Ferdinand Kürnberger stellt sie schon 1872, in seiner Besprechung von Gottfried Kellers »Sieben Legenden«.
Richtig kraftvolle Kritikerprosa ist das. Überhaupt: der Kürnberger! Wer philologisch Feuilleton liest, kennt vielleicht »Die Blumen des Zeitungsstils«, eine giftig-gute, frühe Abhandlung über Mediensprache. Und den Literaturkritiker Kürnberger empfahl neulich Peter von Matt, im Gespräch für Eingeweihte.
Gottfried Keller also. Wer das Porträt von Karl Stauffer-Bern kennt – es fehlt in keiner Literaturgeschichte –, der hat vielleicht vor Augen, wie bräsig Keller da auf seinem Schemel sitzt. So ziemlich das Gegenteil seiner Actionheldin, die in einer der besprochenen Novellen dynamisch das Schwert schwingt: »Die Jungfrau als Ritter«.
Der Plot
Zendelwald, ein schmächtiger, lediger Ritter, für den die Evolution im »Fight or Flight«-Fall offenbar eher Letzteres vorgesehen hat, wird von seiner Mutter gedrängt, bei einem Brautgefecht mitzubieten. Und weil das kämpferisch für ihn nur in die Hose gehen kann, versucht er vorher wenigstens noch matussekmäßig Kraft zu tanken:
»Glücklicherweise fällt es ihm ein, in einer Mariencapelle zu beten, und die Jungfrau Maria läßt sich das nicht zweimal sagen. Sie beschließt, dem braven Schlemihl, dessen Niederlagen gewiss sind, zu helfen und all seine Ritterwerke für ihn zu verrichten.«
Biografismus-Apologeten sagen zu dieser Novelle übrigens gern: Keller, der in eigenen Beziehungen höchst glücklos gewesen sei und lebenslänglich unter seiner Übermutter gelitten habe, poträtiere mit dem Schlemihl, der eine weibliche Ritterin zur Eheanbahnung brauche, vor allem sich selbst.
In jedem Fall parodiert Keller die Idee des göttlichen Beistands, indem er die Urformel aller Mariahilf-Legenden (»Die Jungfrau Maria hat geholfen«) schlagkräftiger bemüht als die Kirche dies jemals zu träumen geschweige denn offiziell zu glauben gewagt hat. Zugleich ist der Brautkampf ein ungeheuerliches Schaulaufen bizarrer Gesichtsbehaarungen.
Kellers Bart-WM
Ein Brautwerber trägt »einen pechschwarzen Schnurrbart, dessen Spitzen so steif gedreht wagrecht in die Luft ragten, daß zwei silberne Glöckchen, die daran hingen, sie nicht zu biegen vermochten und fortwährend klingelten, wenn er den Kopf bewegte«.
Ein anderer hat Nasenhaarzöpfe:
»Zum Zeichen seiner Stärke hatte er die aus seinen Nasenlöchern hervorstehenden Haare etwa sechs Zoll lang wachsen lassen und in zwei Zöpfchen geflochten, welche ihm über den Mund herabhingen und an den Enden mit zierlich rothen Bandschleifen geschmückt waren.«
War Keller wirklich nur Stadtschreiber von Zürich oder ist der Literaturgeschichte da womöglich eine heimliche Doppelbegabung verloren gegangen? Sozusagen Novellist und Nasenhaarcoiffeur in Personalunion, hehe.
Dramaturgisch klar ist, dass diese exzentrischen Insignien der Gesichtsbehaarung natürlich allesamt zerstört werden. Am Ende jeder akrobatischen Kampfszene widmet sich Kellers Maria denn auch genüsslich den Trophäen:
»Unverweilt sprang die Jungfrau vom Pferde, kniete ihm auf die Brust (…) und schnitt ihm mit ihrem Dolche die beiden Schnäuze mit den Silberglöcklein ab, welche sie an ihrem Wehrgehänge befestigte, indessen die Fanfaren sie oder vielmehr den Zendelwald als Sieger begrüßten.«
Kürnberger kriegt sich über Kellers Fighting Mary und ihre »halsbrecherische Hilfe« gar nicht wieder ein:
»Was sagt der Gläubige zu diesen Muttergottes-Abenteuern? Wird ihm dabei wohl, oder angst und bange? Hört er eine fromme Geschichte oder eine Blasphemie?«
Man muss eben dazudenken, dass 1872 noch nicht die Zeit war, wo die Kirche Fußballplätze und Boxkämpfe segnete. Kellers katholische Abenteuer konnten noch echte Katholiken provozieren. Matthias Matussek reicht für seine Provokation der agnostischen Medienschaffenden schon die Tatsache, dass es heute überhaupt noch Katholizismus gibt.
Kürnberger sortiert Keller unter die ganz großen Namen: Er sei »satyrisch wie Voltaire, naiv wie Homer, graziös wie Heine, humoristisch wie Jean Paul«. Ausdrücklich verbittet er sich, »in demselben Athemzuge mit den Sieben Legenden auch die Parodien von W. Busch zu nennen, gleichsam als geistesverwandte Seitenstücke. Das heißt die Posse mit dem höheren Lustspiel, den ›Sommernachtstraum‹ mit ›Evakathl und Schnudi‹ zusammenstellen.«
»Evakathel und Schnudi« (aka »Eva Kathel und Schnudi«), UA 1804 in Wien: Die Oper von Wenzel Müller muss im Habsburgerreich des Jahres 1865 ein Riesenrenner gewesen sein. Die »Blätter aus Krain« berichten in ihrer Ausgabe vom 29. April 1865 über die Laibacher Bühne: »Die Saison schloß Anfang März mit ›Prinz Schnudi und Prinzessin Evakathl‹. Es waren 152 Vorstellungen gegeben worden.« (PDF)
Kürnberger über Keller war nur die Premiere. Demnächst mehr zu Kürnbergers Feuilletonisten-Tyopologie von 1856. Die ist nämlich auch ganz großes Kino.
Am 25. Juli 2011 um 00:31 Uhr
Was für ein Fund! Kürnberger, sofort besorgen, und natürlich Kellers“Sieben Legenden“…hab aber den „Grünen Heinrich“ nicht als Muttersöhnchen in Erinnerung, wohl aber als lustigste und grimmigste Satire auf den protestantischen Pietismus
Am 26. Juli 2011 um 11:09 Uhr
apropos sieben legenden. hier eine aktuelle aus irgendwo. vermutlich seldwyla:
„gottfried keller würde svp wählen.“
(christoph blocher)
http://www.svp-wohlen-anglikon.ch/wb/media/Media/Wewo_2011_07_21_Blocher-Interview.pdf
#weltwoche