Willibald Alexis: Ruhe ist die erste Bürgerpflicht
Berlin, 20. März 2012, 22:14 | von JosikVor nunmehr sechs Jahren bin ich, weil das Haus, in dem ich damals wohnte, wie überhaupt die ganze Gegend, voller Mäuse war, aus der Willibald-Alexis-Straße weggezogen, und seitdem dachte ich immer wieder einmal daran, dass ich doch endlich auch ein Buch von Willibald Alexis lesen müsste. Zwar habe ich auch schon mal in der Gebrüder-Witte-Straße gewohnt, damals, als ich versehentlich in Greifswald zu studieren anfing, und habe bis heute nicht herausgefunden, wer eigentlich die Gebrüder Witte waren, aber Willibald Alexis ist ja nun allgemein bekannt, zumindest gewesen, im 19. Jahrhundert, und ein Besuch an seinem Grab in Arnstadt ist auf jeden Fall als erste Station meiner großen Thüringen-Rundreise geplant, die im Sommer stattfinden soll.
Ich hörte einmal jemanden sagen, dass »Ruhe ist die erste Bürgerpflicht« von Willibald Alexis der größte Roman der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts sei, deshalb las ich den jetzt einfach. An einer Stelle dort äußert sich Madam Braunbiegler folgendermaßen: »Nee, sage ich doch, wenn pover Volk noch dicketun will und vornehm sind, die können mich gestohlen werden.« Dem schickt der Erzähler diese herrliche Bemerkung über die Madam voraus:
»Wenn der Raum unserer Erzählung, die zu Ende geht, es erlaubte, hätte sie das Recht und die Anwartschaft auf eine bedeutendere Rolle darin, als wir ihr angewiesen, aber der Rahmen schließt sich, und die Rücksicht auf den deutschen Stil und die Grammatik, die wir bis da nach unsern schwachen Kräften beachtet, verbietet uns, ein Bild in den Vordergrund zu stellen, welches für viele Leser unverständlich bliebe ohne eine vorausgeschickte Abhandlung über den markbrandenburgischen Unterschied zwischen mir und mich.«
Ich war hier wie vom Donner gerührt, als ich lesen musste, dass dieser wunderbare Roman schon zu Ende gehen soll, und zählte schnell nach: Glücklicherweise lagen noch 169 Seiten vor mir! Wahrscheinlich ist es psychologisch sehr klug von Willibald Alexis, bei einer etwa 1.270 Seiten dicken Schwarte den Leser nach etwa 1.100 Seiten langsam aufs Ende vorzubereiten, über Hundertseitenschwächlinge hätte er jedenfalls nur lachen können: hehe.
Nachdem ich also fertig war, lief ich in meiner Begeisterung gleich in die Bibliothek, lieh mir noch Sekundärliteratur aus und ackerte sie durch. Am ergiebigsten erschien mir eine narratologische Analyse mit dem Titel: »Willibald Alexis: Ruhe ist die erste Bürgerpflicht«. In mühevollster Kleinarbeit hat dort jemand tatsächlich z. B. den Dialoganteil jedes einzelnen Kapitels ausgerechnet:
Im ersten Buch betrage der Dialoganteil 74% im 1. Kapitel, 77 im 2., 16 im 3., 39 im 4., 66 im 5., 27 im 6., 79 im 7., 84 im 8., 40 im 9., 77 im 10., 66 im 11., 59 im 12., 58 im 13., 35 im 14., 69 im 15., 81 im 16., ebenfalls 81 im 17., 65 im 18., 50 im 19., 65 im 20., im zweiten Buch betrage er 68% im 1. Kapitel, 81 im 2., 55 im 3., 87 im 4., 80 im 5., 87 im 6., 74 im 7., 38 im 8., 86 im 9., ebenfalls 86 im 10., 62 im 11., 78 im 12., 88 im 13., 70 im 14., 87 im 15., 83 im 16. und 70 im 17., im dritten Buch 43% im 1. Kapitel, 47 im 2., 79 im 3., 38 im 4., 58 im 5., 77 im 6., 34 im 7., 71 im 8., 66 im 9., 63 im 10., 85 im 11., 88 im 12., 75 im 13., 61 im 14., geradezu lächerlich magere 22 im 15., 53 im 16., 57 im 17., 91 im 18., 63 im 19., im vierten Buch sodann betrage der Dialoganteil sagenhafte 92% im 1. Kapitel, 66 im 2., 87 im 3., 83 im 4., 43 im 5., 77 im 6., 66 im 7., 53 im 8., 77 im 9., 61 im 10., 62 im 11., 64 im 12., 36 im 13., 24 im 14., 86 im 15., 37 im 16., 73 im 17., 61 im 18., 59 im 19., 73 im 20., und schließlich im fünften Buch 76% im 1. Kapitel, 69 im 2., 38 im 3., 81 im 4., 56 im 5., 54 im 6., 51 im 7., 90 im 8., 76 im 9., abermals sagenhafte 92 im 10., 40 im 11., 59 im 12., 53 im 13., 50 im 14., 68 im 15. und 53 im 16.
Ich dachte, eigentlich müssten diese Angaben mal stichprobenartig überprüft werden. Das Kapitel, das ich mir aussuchte, ist das 8. Kapitel des vierten Buchs, es enthielt offenbar nicht zu viel, nicht zu wenig Dialoganteil, 53%, also genau der richtige Umfang für eine Stichprobe. Wenn man nun alle Wörter in diesem Kapitel zählt, kommt man auf 2.422 Wörter. Davon sind 1.251 Wörter in direkter Rede geschrieben. Nach meinen Berechnungen sind das rund 52% Dialoganteil. Die offizielle Angabe liegt damit ganz eindeutig im Bereich der Fehlertoleranz, und deshalb sei diese vorzügliche Literatur, die sekundäre wie natürlich auch die primäre, hiermit allen Lesern ans Herz gelegt.
Am 21. März 2012 um 23:01 Uhr
»Der Name erinnert an die Brüder Adolf und Carl Friedrich Witte, die der Universität und der Stadt einen größeren Geldbetrag hinterließen, wovon unter anderem die erste Kinderklinik gebaut wurde.«
http://www.der-greifswalder.de/Strassennamen.php
Schöne Grüße aus Greifswald! So schlimm?
Am 22. März 2012 um 09:53 Uhr
Ich kenne nur eine Willibald-Alexis-Straße, die am Chamissoplatz in Berlin, da hab ich die ersten 22 Jahre meines Lebens verbracht und da gab’s keine Mäuse weit und breit.
Am 22. März 2012 um 15:10 Uhr
@Stefan: Grüße zurück und vielen Dank für die Informationen! Schlimm, ja, weil mir als Abonnenten die NZZ dort immer nur mit einem Tag Verspätung geliefert werden konnte. Zum Glück konnte mich darüber aber das wunderbare Café Caspar ein bisschen hinwegtrösten, in dem ich von frühmorgens bis spätabends meine Tage verbracht habe und das schon längst mal „Kaffeehaus des Monats“ werden sollte.