Mit Siegfried Kracauer zu Rudolf Steiner

Konstanz, 9. April 2012, 23:36 | von Marcuccio

Nein, Kracauerfeuilleton muss nicht immer in Berlin spielen, obwohl das Stück »Friedrichsstraße 90« neulich im »Freitag« schon sehr hübsch war – und Straßenfeuilleton zurzeit ganz generell groß in Mode ist: vgl. die Torstraße in der FAS, den Durchschnitt im aktuellen »KulturSPIEGEL« …

Unser Osterspaziergang führte ins Vitra Design Museum nach Weil am Rhein. Die aktuelle Ausstellung »Rudolf Steiner – Die Alchemie des Alltags« läuft noch bis Anfang Mai, tourt bereits seit 2010 durch die Lande – ist also in den aktuellen Feuilletons längst durch. Ein Grund mehr, der Arroganz der Gegenwart mit einer gut abgehangenen »Frankfurter Zeitung« beizukommen:

»Die Kosmogonie Steiners hier im einzelnen zu entfalten, erübrigt sich – umso eher, als trotz seiner genauen Bescheibung des Stufenpfades niemand außer ihm selber bisher in die übersinnlichen Bereiche eingedrungen ist. Immerhin mag erwähnt sein, daß er kraft seines Hellsehens von einem vor zwölftausend Jahren untergegangenem Kulturvolk zu berichten wußte, das in Luftfahrzeugen dicht über die Erde gefahren sei, und die Existenz zweier Jesusknaben behauptete, über die er mancherlei Mitteilung machte.«

Das schreibt Siegfried Kracauer in der FZ vom 18. April 1925. Soviel Spott in einem frischen Nachruf muss man sich erst mal trauen, wobei frisch heißt, dass Steiner am 30. März 1925 starb und Kracauers Nachruf erst knapp drei Wochen später erschien. Dabei war die FZ aber schon eine Tageszeitung, nennen wir es also ein retardierendes Moment in den Roaring Twenties.

In der Ausstellung

Der Stuttgarter Stuhl erinnert – nur rein namenstechnisch – irgendwie an den Ulmer Hocker. Der wiederum bringt uns über einen pindarischen Sprung zur Hollywoodschaukel und auf die Idee, dass es eigentlich mal höchste Zeit für eine rein onomastisch motivierte Sitzmöbelschau wäre. Ikea macht es im Grunde ja vor.

Biomorphe Formen in der ganzen Ausstellung. Ein bierbäuchiger Familienvater erklärt seinen asketischen Töchtern anthrosophisch. Sel isch halt, wenn d’Architekte koan rechte Winkel mäh machet. Oder so ähnlich. Und wir lernen Neues aus der Anstalt: Das frühere WDR-Signet von Paul Schatz war hochgradig eurythmisch: 19 Uhr 15: ein Senderlogo bei seiner eigenen Bewegungstherapie, sensationell.

An der Bushaltestelle

Wir überlegen kurz, zum großen Goethe-Osterei weiterzufahren (bei Kracauer 1925 nur der »verbrannte Tempel zu Dornach, dessen Wiedererrichtung jetzt droht«), halten uns dann aber lieber extralange an der Vitra-Design-Bushaltestelle (Jasper Morrison, 2006) auf. Die hat nämlich einen Teppich aus Teer, so weich wie Moos, noch nie haben wir einen so angenehmen Straßenbelag erlebt. Ist das jetzt das Osternest für unsere Füße? Eine Fußreflexzonenmassage, weil der Bus Verspätung hat? Auf jeden Fall ein astreines Stück Tiefbau, hebt die Schwerkraft jeder Warteminute auf.
 

4 Reaktionen zu “Mit Siegfried Kracauer zu Rudolf Steiner”

  1. Jürgen

    Straßenfeuilletons können was Schönes sein, wenn sie gut gemacht sind. Das oben erwähnte „Torstraße“ in der FAS ist es nicht. Es zeichnet sich durch Oberflächlichkeit und Flüchtigkeit aus. Ein tiefer gehender Blick in diese nicht schöne, aber interessante Straße wurde versäumt.

  2. Marcuccio

    @Jürgen: Das stimmt. Die drei verlinkten Beispiele sollten – von wegen Mode – eigentlich zeigen, wie unterschiedlich man Straßen journalistisch performen kann. Die Torstraße ist ein typischer, ’nur‘ recherchierter Stadtmagazin-Text, der es, weil eben die Straße interessant ist, in den überregionalen Reiseteil geschafft hat.

    Der Durchschnitt wiederum wird als Wortspiel ein bisschen zu oft strapaziert, aber wirft den Blick auf die richtigen, weil ästhetisch notorisch vernachlässigten Gegenstände: Peitschenlaternen, Papierkörbe, Hausnummernschilder… Und: „Ein Verkehrsschild trägt den Papierkorb umgeschnallt wie eine Bauchtasche“ ist doch mal ein schöner Satz…

  3. Jürgen

    „Friedrichstraße 90“ ist schon besser. Besonders gefällt mir „…als übten Geiger einen schwierigen Ton.“ An dieser Stelle erkennt man, dass der Autor getroffen hat. Die Passage „… es ist kaum anders als in Oldenburg, Rottweil oder Gütersloh.“ kann man so natürlich nicht stehen lassen. Denn in Berlin ist alles zwei Ligen größer, durchmischter, oft auch hässlicher und das betrifft auf jeden Fall die Straßen, Häuser und ihre Fassaden.
    Was aber auch in „Friedrichstraße 90“ (und gerade dort am Bahnhof wäre es gut zu beobachten und zu beschreiben) zu kurz kommt: Der Mensch (und Typ), wie er sich in dieser insgesamt zwar lebhaften, sehr interessanten, aber letztlich doch freundlich, friedlichen Großstadt verhält.

  4. steinerimbrett

    „…, daß in Luftfahrzeugen dicht über die Erde gefahren sein, …“

    Das soll aus „hellseherischer“ Perspektive vor etwa 12.000 Jahren der Fall gewesen sein. Nicht die Nachfahren dieses offenbar leicht abgehobenen Volkes, wohl aber die naiv-geistigen Nachfolger des Meisters, des Steiners – Waldorfschuleltern und -lehrer zumeist – schweben auch heute noch: Über Wissenschaft, Skepsis, Kritik und nicht zuletzt einem transparenten, aufrichtigen Begriff von Pädagogik. Die Behauptung einer „Existenz zweier Jesusknaben“ darf zwar auch weiterhin als bemerkenswerter theosophisch-philosophischer Weitwurf gelten, der Fortbestand eines anthroposophischen Dauerüberlegenheitswelt(en)entwurfs jedoch als ultimatives Knockout einer aufklärerisch geprägten Ratio eingesehen werden.

    Knapp unterhalb ewiger Wahrheiten bleibt insgesamt auch:
    http://www.steinerimbrett.wordpress.com

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