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Abstecher nach Vladimir und Updates aus Moskau

Moskau, 16. Februar 2019, 10:12 | von Baumanski

Sonntagsausflug mit Vladimir Vladimirovič nach Vladimir. Kaum angekommen, suchen wir den Busbahnhof, um von dort in einem etwas klapprigen Siebzigerjahremodell zum Südrand der Stadt zu fahren. Nach knapp zehn Kilometern auf der Überlandstrasse Ausstieg beim Friedhof Bajguši. Hier liegt Vasilij Vital’evič Šul’gin begraben, der russische Nationalist aus Kiev, der 1917 in einem Eisenbahnwagen bei Pskov die Abdankung des letzten Zaren entgegengenommen hat.

Šul’gin war gut zehn Jahre in der Politik und hat danach 55 Jahre lang Memoiren geschrieben, bis er 1976 eben in dieser Provinzstadt starb, wo ihm die sowjetische Regierung nach der Entlassung aus dem Gefängnis eine Wohnung zugeteilt hatte. Von seinen Memoiren sind über 3000 Seiten publiziert – grad letztes Jahr hat ein russischer Verlag noch mal zwei Bände rausgehauen – und mindestens noch mal so viel liegt unpubliziert als Manuskript in den Archiven.

Der Eingang zum Friedhof ist nirgends zu sehen, aber zum Glück treffen wir einen fröhlichen Datschagänger, der uns durch den Tiefschnee vorausstapft und zu einer Hintertür bringt. Ausserdem hält er uns einen wolfsähnlichen Hund vom Leibe, der uns übergelaunt ankläfft. Rein also in den Friedhof, zwischen Birken und Tannen bis zur Hauptallee, ein Stück abwärts, beim Denkmal der berühmten Lokaljournalistin Inessa Sinjavina nach links und dann den Hügel hoch, wo wir das eingeschneite Marmorkreuz der Šul’gins finden. Kurz die Inschrift vom Schnee befreit, ein paar Erinnerungsfotos und schon sind wir auf dem Rückweg.

Auf dem Weg zur Bushaltestelle ist uns etwas kühl und zum Aufwärmen gebe ich ein paar Šul’gin-Anekdoten zum Besten. Etwa wie er aus dem Parlamentssaal verwiesen wurde, weil er am Rednerpult die sozialistischen Abgeordneten fragte, ob einer von ihnen eine Bombe in der Tasche trage. Oder wie er eine Affäre mit der Frau seines Bruders hatte und dann zwei Jahre später eine Beziehung mit der Frau seines anderen Bruders anfing. Oder wie er sich 1914 freiwillig zur Armee meldete, aber nach zwei Stunden an der Front verwundet wurde, sodass der Arzt ihn sofort ins Hinterland zurückschickte. Oder wie er 1926 inkognito in die Sowjetunion reiste, danach ein Buch darüber veröffentlichte und ein paar Monate später herausfand, dass die ganze Reise von der OGPU organisiert war.

Der Bus zurück nach Vladimir kommt dann bald; die Kontrolleurin ist untypisch gut gelaunt und trällert für uns ein russisches Poplied mit, das im Radio läuft. Es ist schon zwei Uhr und nach ein paar altrussischen Kirchen und Pelmeni sitzen wir am Abend wieder im Schnellzug nach Moskau.

Zwei Tage später, die Temperatur ist unterdessen auf fast minus zwanzig gefallen, treffe ich mich mit Paco im Gorki-Park zum Eislaufen. Das heisst, eigentlich kann ich das gar nicht, aber Paco besteht darauf, also rutsche ich ihm hinterher und es macht ja auch Spass. Nach ein paar Runden gehen wir, ohne die Schlittschuhe auszuziehen, in eines der Restaurants, die zu diesem Zweck vorsorglich mit Gummimatten ausgelegt wurden. Paco ist mal wieder – zweimal Suppe und Boeuf Stroganoff, bitte! – bestens informiert über russische Formalisten, aktuelle Feuilletonskandale und die Geschehnisse auf der Plattform des Kurznachrichtendienstes Twitter. Bei der Verabschiedung in der Metrostation unten lädt er mich noch zur Finissage einer Ausstellung des mir zuvor unbekannten, aber durchaus nachahmenswerten Malers Georgij Nisskij ein; dann springen wir beide in unseren jeweiligen Zug.

Am Mittwochmorgen setze ich die fizkul’tura im Bad Čajka fort, wo man auch im tiefsten Moskauer Winter unter freiem Himmel schwimmen kann. Die Sonne scheint und das Wasser dampft und die Bademeister tragen Skianzüge und überhaupt ist alles sehr gut, obwohl die kürzlich erfolgte Renovierung den 50s-Groove fast völlig beseitigt hat. In der Banja hält ein Typ, Bauchansatz und Halbglatze, einen Vortrag über Herrscherinnen in der koreanischen und russischen Geschichte und über die Schrecken des Matriarchats in manchen Kulturen. Ein anderer, klein gewachsen, ausgedünnter Pferdeschwanz, hält im Namen des Universalismus dagegen, die Probleme mit der Schwiegermutter seien doch in Moskau genau die gleichen wie in New York oder Tel Aviv. Das Ende dieser spannenden Debatte bekomme ich leider nicht mit, weil es mir bei hundertzehn Grad irgendwann doch zu warm wird.

Beim Ausgang fällt mir ein grosses Wandgemälde auf, das Ivan Turgenjev mit seinem Hund darstellt. Das erinnert einen natürlich sofort an Josiks altbekannte These, derzufolge schriftstellerisches Talent mit Hundeliebe korreliert (Koni, Kraus, Fontane и прочая и прочая), und ich mache kurz den Test für Turgenjev: Hundeliebe? Check. Superster Schriftsteller? Check.

Von Turgenjev komme ich wiederum schnell zurück auf Vasilij Šul’gin, der sich 1952 im stalinistischen Gefängnis derart langweilte, dass er zweihundert Seiten (in allerdings ziemlich grosser Handschrift) über seinen Jugendhund Mars und über andere Köter vollkritzelte. Nachzulesen ist das alles im Russländischen Staatlichen Literatur- und Kunstarchiv (RGALI) unter dem Titel »Vot gde zaryta sobaka« – »Da also liegt der Hund begraben«.

Nun hatte Vasilij Šul’gin allerdings auch eine Katze, die er (wohl nach sich selbst) Vas’ka nannte und ein Lieblingspferd, das ebenfalls Vas’ka hiess und auf dem er 1906 durch die Wälder Wolhyniens ritt, um Priester und Bauern davon zu überzeugen, bei den nächsten Wahlen doch bitte für die Monarchisten zu stimmen. Was dann auch erstaunlich gut klappte und die Basis für ebenjene politische Karriere legte, die er danach jahrzehntelang memoiristisch ausweidete.

Aber zurück zu Mars und zu Josiks These, nun auf Šul’gin angewendet. Hundeliebe? Auf jeden Fall. Superster Schriftsteller? Hm. Die Memoiren lassen sich schon ganz ordentlich weglesen, aber nach einigen tausend Seiten weiss man dann genug über seine Haustiere und Cousinen.
 


Sie sind wohl nicht von hier?

St. Petersburg, 30. Juli 2017, 17:12 | von Baumanski

Dienstagabend, Nieselregen, 14 Grad. Juli.

Eben war ich mit unserem Freund, dem Opernsänger, im Konzert, wir hatten spontan noch günstige Karten für Bruckners Achte bekommen, und weil Gergiev mal wieder eine halbe Stunde zu spät kam – »ein Durchschnittswert«, wie die ältere Leningraderin neben uns grosszügig kommentierte – ist es nun doch schon fast zehn Uhr. Die U-Bahn-Station Teatralnaja, seit zehn Jahren geplant, wird zwar nun pünktlich zur Fussball-WM endlich gebaut, aber momentan ist es immer noch ein gefühlt endloser Fussmarsch zurück ins Zentrum. Aber wir haben ja Zeit, machen noch den Umweg zum Nabokov-Haus, obwohl es dort eigentlich nicht viel zu sehen gibt.

Als wir später in einem Hinterhof etwas trinken, kommen ein paar Filmregisseure dazu. Einer davon beginnt gleich, mich über verschiedene legendäre Schweizer Filme auszufragen, die alle eines gemeinsam haben, nämlich dass ich noch nie von ihnen gehört habe. Nach der halbstündigen Unterhaltung weiss ich aber alles über sie, ausser die Titel, die meinem Gesprächspartner partout nicht einfallen wollen. Dann zeigt er uns die Stelle, wo er damals die Szene in »Golden Eye« gefilmt hat, in der Pierce Brosnan mit einem Panzer durch Petersburg brettert und zwei der ihn verfolgenden Laster durch die Brüstung ins Wasser der Moika stürzen. Bei dieser Gelegenheit erzählt ein anderer der Regisseure, wie Bekannte von ihm in den Neunzigerjahren ihren Rottweiler töteten und verzehrten. »Furchtbare Leute, und das Fleisch war bitter, völlig ungeniessbar.«

Irgendwann, es beginnt bereits wieder zu dämmern, will sich eine von uns an ein Klavier setzen, das mitten auf der Strasse steht. Sofort wird sie von einem mürrischen Nachtwächter zurechtgewiesen, Typ Gopnik, Adidastrainingsanzug und zerdrückte Schirmmütze. »Sagen Sie, was ist das für ein Gebäude?«, frage ich ihn, mehr um von der unangenehmen Situation abzulenken. »Sie sind wohl nicht von hier?«, fragt er zurück, bereits deutlich entspannter. »Das ist die Akademie der angewandten Künste, Baujahr 1885. Schauen Sie mal, die Engel hier an der Strassenlaterne sind thematisch daran angepasst. Die Kirche dahinter wurde noch unter Peter dem Grossen zum Dank für die Siege seiner Flotte über die Schweden gebaut. Die müssen Sie sich mal von innen ansehen.«

Auf dem Heimweg treffen wir noch einen alten Bekannten, der behauptet, er komme eben von einem »intellektuellen Rave« im Generalstabsgebäude, aber ob das auch stimmt? Ausserdem müssen wir sowieso weiter zur Neva, die Тroizkij-Brücke wird um drei nur für ein paar Minuten gesenkt, und wir wollen ja rüber auf die Petrograder Seite, weil mir der Opernsänger unbedingt noch eine Jugendstilfassade am Kamennoostrovskij Prospekt zeigen will.
 


Kaffeehaus des Monats (Teil 85)

sine loco, 25. November 2014, 20:21 | von Baumanski

Wenn du mal richtig Zeitung lesen willst:

Steam Coffee, Helsinki, ein wie immer absichtsvoll schlechtes Foto, sry

Helsinki
Das »Steam Coffee« in der Kaisaniemenkatu.

(Man könnte sich in Finnland ausschliesslich von Lachs und Zimtschnecken ernähren, und so weit weg davon bin ich nicht. Die Zimtschnecken heissen hier »Korvapuusti«, aber ich versuche es natürlich nie auf Finnisch, zumal ich nicht weiss, ob man im Akkusativ oder im Partitiv bestellt. Ausserdem können ja alle Finnen perfekt Englisch. Ganz anders ist das in der ungarischen Provinz, wo die Speisekarte ähnlich unverständlich ist, aber Fremdsprachenkenntnisse rar, und man muss sich dort also ein paar Lebensmittel auf Ungarisch merken. Zimtschnecken zum Beispiel heissen »Fahéjas csiga«.)
 


Kaffeehaus des Monats (Teil 84)

sine loco, 12. November 2014, 13:58 | von Baumanski

Wenn du mal richtig Zeitung lesen willst:

Das Café Zähringer in Zürich, ein wie immer absichtsvoll schlechtes Foto, sry

Zürich
Das »Café Zähringer« am Zähringerplatz.

(Ich lese gerade etwas von Timothy Garton Ash, und da horche ich natürlich auf, als am Nebentisch jemand mit extrem sympathischem Akzent den schönen Satz sagt: »Auf eine Revolución folgt immer eine Evolución.« Es scheint sich um eine Deutsch-Konversationsgruppe zu handeln, auch viele Amerikaner dabei, aber das Gespräch bewegt sich leider von der Revolución weg und hin zu alltäglicheren Dingen (»Mein Schwiegerelterns Geburtstag ist im Januar« etc.). Dafür beginnt nun ein bärtiger Herr mit Kopftuch scheinbar planlos, aber äusserst gewissenhaft Stühle umzustellen und das Büchergestell neu zu ordnen. Ja, das ist ein guter Ort hier, linksalternativ, aber natürlich auch helvetisch-ordentlich. Der Cappuccino kostet fünf Franken sechzig.)
 


Vossianische Antonomasie (Teil 68)

Oxford, 2. Juni 2014, 20:34 | von Baumanski

 

  1. der Zeus des Münchner Filmolymp
  2. the Masaryk of the 1990s
  3. der Hieronymus Bosch der Moderne
  4. die Jutta Ditfurth eines fundamentalistischen Neoliberalismus
  5. the Robert Mugabe of Scottish politics

Dank an Luisa für #336!

 


Die großen Fritz-J.-Raddatz-Festwochen (Tag 27):
»Tucholsky. Eine biografische Momentaufnahme« (2010)

Basel, 27. Dezember 2013, 08:25 | von Baumanski

(= 100-Seiten-Bücher – Teil 103)

Logo der Raddatz-Festwochen

(Vorwort zur Festwoche hier. Inhaltsübersicht hier.)

Von Raddatz’ Rechenkünsten war an dieser Stelle ja unlängst schon die Rede. Die Lektüre seines vierten und bis dato letzten Tucholsky-Hundertseiters – es geht hier vor allem um Tucholskys Beziehung zu seiner zweiten Frau Mary Gerold – bietet neuerlichen Anlass zum Lob der »Genau«-igkeit. Auf Seite 81 zitiert Raddatz nämlich ein paar Sätze aus Marys Tagebuch und notiert dazu: »Das stammt aus dem November 1920. Doch schon genau ein Jahr später, im August 1921, muß sie sich eingestehen: (…)«.

Kurz vor Ende des Buchs verlassen wir dann Tucholskys kindisches Liebesleben (FJR, S. 120: »Phallokratie«) für einen 25-seitigen Exkurs über seine Fehde mit dem nicht minder kindischen Karl Kraus, was natürlich dem Unterhaltungswert der Lektüre zuträglich ist. Für den »Great Hater« Kraus war Tucholsky eine »fünfdeutige Gestalt« und, viel schlimmer, »der Herr Tucholsky«, und er meinte dann auch: »Mit Pantern, Tigern und selbst zahmeren Haustieren werde ich bestimmt noch fertig.« Als Leser fragt man sich bei Betrachtung dieser Fiesheiten unweigerlich, was Karl Kraus wohl über Fritz J. Raddatz geschrieben hätte, aber hier spielt natürlich einmal mehr die, hehe, Gnade der späten Geburt.

Länge des Buches: > 150.000 Zeichen. – Ausgaben:

Fritz J. Raddatz: Kurt Tucholsky. Eine biografische Momentaufnahme. Freiburg/Br.; Basel; Wien: Herder 2010. S. 3–144 (= 142 Textseiten).

(Einführung ins 100-Seiten-Projekt hier. Übersicht über alle Bände hier.)


Kaffeehaus des Monats (Teil 82)

sine loco, 26. Oktober 2013, 17:59 | von Baumanski

Wenn du mal richtig Zeitung lesen willst:

SPb, National Library, Cafeteria, ein wie immer künstlerisch absichtlich bescheidenes Foto, sry

St. Petersburg
Das »Bufet« der Nationalbibliothek
an der Ploschtschad Ostrovskogo.

(Das »Bufet« hat eine Monopolstellung bei Allen, die sich nicht nach jeder Pause einen neuen Kontrollzettel ausstellen lassen wollen. Das Essen ist höchst mittelmässig, der Kaffee eher schwach und die Bedienung konsequent kühl. Im Radio laufen meistens russische Schnulzen, aber jetzt gerade ein lustiges Lied über Kakerlaken. Manchmal ist das »Bufet« über Mittag plötzlich für drei oder vier Stunden geschlossen, aber, na ja, die Enttäuschung hält sich dann auch in Grenzen.)
 


Konstruktivismus im Kirow-Distrikt

St. Petersburg, 11. Oktober 2013, 08:05 | von Baumanski

Mittwochmorgen, zehn Uhr dreissig. Auch als der Wecker zum dritten Mal klingelt, bleibe ich liegen, nehme das Buch vom Nachttisch und lese endlich die letzten paar Seiten von »Oblomow«. Meine Siebzigerjahre-Ausgabe von Gontscharows grossem Prokrastinationsroman hat den typisch säuerlichen Geruch sowjetischer Bücher und sieht mit dem gelben Einband und der saloonmässigen Aufschrift mehr nach Karl May als nach einem russischen Klassiker aus. Das Buch habe ich vor zwei Jahren in einem Antiquariat an der Gorochovaja gekauft, also zufällig just an der Strasse, an der auch die Wohnung liegt, wo Oblomow die ersten 200 Seiten des Romans verbringt.

Nach dem etwas deprimierenden Schluss stehe ich dann doch auf – es ist nun schon fast Mittag –, trinke einen Kaffee und fahre dann mit der Metro ins Zentrum. Beim Gostinyj Dvor steige ich aus, gehe zur Nationalbibliothek an der Ploschtschad Ostrovskogo, gebe Jacke und Tasche ab, fülle den Kontrollzettel aus und betrete dann wie immer erst mal den Lesesaal für Zeitschriften. Neben der Theke hängt ein Schild: »Genossen Leser! Schreiben Sie bei der Bestellung von Zeitschriften die im Katalog vorgefundene Signatur auf den Bestellzettel. Dies beschleunigt den Erhalt der bestellten Literatur beträchtlich.« Na ja, und bisher ging es eigentlich tatsächlich immer ganz zügig. In der Bibliothek gibt es kein Internet, und das ist doch eigentlich das beste Mittel gegen die Oblomowerei.

(…)

Nach ein paar Stunden verlasse ich die Bibliothek und fahre mit der Metro in den Kirow-Distrikt am südlichen Stadtrand. Dort habe ich mich an der Station Narvskaja mit unserem Freund, dem Opernsänger verabredet, um die konstruktivistischen Bauten des Viertels zu besichtigen. Der Opernsänger ist mal wieder in Bestform. Wir schlendern erst die Traktornaja-Strasse entlang, dann den Narvskij-Prospekt, und er ordnet locker die verschiedenen sowjetischen Gebäude ihrer jeweiligen Epoche zu: eine konstruktivistische Kirowka von Noj Trotzkij hier, eine neoklassizistische Stalinka dort, die typische fünfstöckige Tristesse einer Chruschtschowka dahinter!

Wir überqueren den Obvodnyj Kanal, kaufen eine kleine Flasche Wodka und betreten dann eines der grossen Mietshäuser direkt am Kanal, wo ein Freund des Opernsängers wohnt. Dieser ist Filmemacher, und nach dem ersten Gläschen Wodka rezitiert er erst ein paar Brodskij-Verse und zeigt uns dann Videos des fast 85-jährigen Petersburger Komponisten Oleg Karavajtschuk, der nur mit einem Kissenbezug über dem Kopf auftritt.

Irgendwann, es ist nun schon dunkel, geht es durch die Hinterhöfe weiter, über die Fontanka hinein ins Kolomna-Viertel, vorbei an Ilja Repins Atelier, auf ein paar Teigtaschen in einen usbekischen Imbiss, vorbei an Alexander Bloks Haus, auf einen Schluck Wodka und ein Heringbrötchen in eine Kneipe sowjetischen Stils, bis wir schliesslich wieder mitten im Zentrum sind.

Gegen Ende des Abends sind wir dann noch in so einem Prostranstvo unweit der Isaakskathedrale, einem dieser schön angehipsterten »Art Spaces«, die in Petersburg zurzeit in jedem dritten Hinterhaus zu entstehen scheinen. In diesem Fall: ein altes Wohnhaus mit hohen Decken, ein winziger Ausstellungsraum, eine Bar, und ein Saal mit bröckelndem Stuck und zwei staubigen Kronleuchtern, in dem günstige Gummistiefel verkauft werden. Ich stürze mich sofort auf die Gummistiefel, schliesslich brauche ich ein Paar für die Datscha, aber meine Grösse ist schon ausverkauft.
 


Crocket vs. Akzentologie

Oxford, 20. Juni 2013, 16:45 | von Baumanski

Dass die akademische Viertelstunde eine der besten Erfindungen überhaupt ist, habe ich ja schon immer geahnt. Und seit letztem Herbst habe ich tatsächlich Grund genug, ihr nachzutrauern. Denn aus unerfindlichen Gründen – it probably made sense in the 1200s – enden Vorlesungen in Oxford zur vollen Stunde und beginnen, nun ja, auch zur vollen Stunde.

Ich schleiche mich also einmal mehr fünf Minuten zu früh aus dem Vorlesungszimmer, jogge quer durch die Examination Schools, packe draussen mein Rad, fahre im Nieselregen die High Street hoch, dann rechts durch die Turl Street und am Ashmolean Museum vorbei zur Fakultät, stürme da die Treppe hoch und schaffe es tatsächlich fast rechtzeitig zum Vorlesungsbeginn, und der Dozent ist so nett, für mich noch einmal neu anzufangen.

Eine knappe Stunde später stehe ich in der Buttery an zum Essen fassen: irgendein fettiges Stück Fleisch mit Kartoffeln. Immerhin gibt es nach dem Dinner manchmal eine George-Orwell-Käseplatte (»I fancy that Stilton is the best cheese of its type in the world, with Wensleydale not far behind«), und dafür nimmt man dann auch mal das halbgare und ungesalzene Gemüse in Kauf.

Nach dem Essen trinken wir noch einen Kaffee, unterhalten uns jeweils circa zwei Minuten lang über Bertrand Russell, Arjen Robben und Peer Steinbrück, und jemand stellt in einem Nebensatz die These auf, dass Thomas Mann »einfach dumm« war.

Am Nachmittag ist es endlich mal wieder warm und sonnig. Ich habe die Wahl zwischen einer Partie Crocket auf dem College-Rasen und einem Traktat über das Akzentsystem des Urslawischen und entschliesse mich also dazu, endlich einmal den etwas vergessenen Oxford-Klassiker »Zuleika Dobson« zu Ende zu lesen. Der englische Satiriker Max Beerbohm hat das Buch 1911 geschrieben und die meisten seiner Aussagen über Oxford sind auch heute noch unverändert gültig. Zum Beispiel: »Oxford is a plexus of anomalies.« Oder: »Oxford never pretended to be strong in mathematics.« Oder: »Mainly architectural, the beauties of Oxford.«

Ausserdem enthält das Buch weitere zeitlose Weisheiten (»Death cancels all engagements«), sowie ortstypische Beleidigungen (»you, looking like nothing so much as a gargoyle hewn by a drunken stone-mason for the adornment of a Methodist Chapel in one of the vilest suburbs of Leeds or Wigan«), einen Gastauftritt von Frédéric Chopin und den vermutlich witzigsten Massensuizid der Literaturgeschichte.

Zwanzig Seiten vor dem Ende des Romans stehe ich auf, um zum Abendessen zu gehen, denn in der Kapelle des Merton College – wo auch Max Beerbohm studierte – wird später noch eine Mozart-Messe aufgeführt, und Mozart ist ja wohl der, hehe, meistunterschätzte Komponist.
 


Kaffeehaus des Monats (Teil 76)

sine loco, 2. Juni 2013, 17:37 | von Baumanski

Wenn du mal richtig Zeitung lesen willst:

Die Hobsons Patisserie in Stratford-upon-Avon, hier wieder ein künstlerisch völlig misslungenes Foto, hehe.

Stratford-upon-Avon
Die »Hobsons Patisserie« an der Henley Street.

(In Stratford ist eigentlich alles nach Schäkespear benannt: Häuser, Kneipen, Waschsalons. Nach einer Stunde bin ich von der allgegenwär­tigen Bardolatrie so ermüdet, dass ich zum auf der Karte verzeichneten Gower Memorial spaziere, um zur Abwechslung mal den Dichter der »Confessio Amantis« zu ehren. Dort stelle ich dann fest, dass das Denk­mal nicht John Gower, sondern – who else? – Shakey gewidmet und halt nach seinem Erschaffer Ronald Gower benannt ist. Entsetzt kehre ich ins Stadtzentrum zurück und verbringe den Rest des Nachmittags aus Protest in diesem Touristencafé mit riesiger Kuchenauswahl. Eine enthusiastische Amerikanerin fotografiert teetrinkende Briten in Tweedjacketts.)