Идти ему было немного; он даже знал,
сколько шагов от ворот его дома:
ровно семьсот тридцать.
Siebenhundertdreissig Schritte sollen es gewesen sein bis zum Haus der Pfandleiherin, und das muss eigentlich mal einer nachzählen. Es ist Donnerstagnachmittag; ich stehe vor dem Haus am Stoljarny Pereulok, wo laut der Literaturwissenschaft Raskolnikov gewohnt hätte, hätte es ihn denn in Wirklichkeit gegeben. Ich habe leichtes Fieber, was ja durchaus zur Aufgabe passt. Leicht erstaunt stelle ich fest, dass am selben Haus auch eine deutschsprachige Gedenktafel an die grosse Überschwemmung vom 7. November 1824 erinnert.
Vor dem Seitenausgang schreite ich los. »Eins, zwei, drei, vier, fünf, sechs …« Das Zählen der Schritte ist überraschend anstrengend, ich muss mich richtig konzentrieren, um mich nicht ablenken zu lassen. Nach etwa hundert Metern verliere ich den Faden, muss umkehren und beschliesse, mir künftig wichtige Landmarken zu notieren. Von Schritt 180 bis 268 gehe ich unter einem Baugerüst, ab Schritt 310 überquere ich auf der Kokuschkin-Brücke den Kanal und bei Schritt 395 biege ich in die Sadovaja-Strasse ein. An der Ecke kommen mir zwei Studenten in dicken Wintermänteln entgegen, die sich gegenseitig aus einem aufgeschlagenen Buch Gedichte vorlesen.
Ein paar Meter weiter finde ich mich plötzlich in einer Menschentraube wieder und bin gezwungen, meinen Schritt zu verlangsamen. Ich muss eine komische Figur abgeben, wie ich mit Block und Stift durch die dämmrigen Strassen schreite und ab und zu für ein paar Schritte umkehre. Bei Schritt 662 hält mich ein alter Mann ohne Schneidezähne auf, der sich über die gestiegenen Brotpreise beklagt. Dann zeigt er lachend auf einen Kastenwagen der Polizei, der wohl zu einer Demonstration unterwegs ist: »Jetzt haben sie auch noch eine Revolution …« Ich stimme ihm zu, 663, und gehe weiter, 664.
»… 726, 727, 728, 729. Siebenhundertdreissig!« Anstatt vor dem Haus der Pfandleiherin stehe ich vor einem vergitterten Fenster irgendwo am Rimski-Korsakov-Prospekt. Erst nach exakt 1180 Schritten befinde ich mich vor dem – leider verschlossenen – Eingang zum »kolossalen Gebäude (…), das mit der einen Seite nach dem Kanal, mit der andern nach der …straße zu lag«.
Mehrere mögliche Schlüsse: Entweder ist Raskolnikov nicht den am Romananfang beschriebenen Weg gegangen. Oder die Literaturwissenschaft hat sich einfach mal wieder beim Entschlüsseln einer Romantopografie geirrt. Oder Raskolnikov hatte extrem lange Beine. Oder Dostojewski hat die Schritte gar nie gezählt (schliesslich verwechselte er im Verlauf des Buches auch die Marmeladov-Kinder).
Etwas müde und desillusioniert treffe ich kurz darauf Ivan Borisowitsch. »Seit Raskolnikovs Zeiten hat sich hier nichts geändert«, sagt Ivan mit Blick auf die dreckigen Pfützen am Boden und beschliesst kurzerhand, uns zu seinen Mathematikerfreunden zum Tee einzuladen. In der warmen Stube kommt es schnell zu einer lebhaften Diskussion über Gott und die Welt; einer der Mathematiker behauptet, an den russischen Wirtschaftsfakultäten würde mit den Methoden der mittelalterlichen Scholastik gearbeitet. Und na ja, mit ähnlichen Mitteln hatte ich heute auch versucht, Raskolnikovs Schritte zu zählen, und war kläglich gescheitert.