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100-Seiten-Bücher – Teil 48
André Gide: »Die Pastoralsymphonie« (1919)

Oxford, 19. Februar 2013, 10:00 | von Baumanski

Eigentlich muss ich ganz andere Sachen lesen, anstrengende Bücher, dicke Bücher, Fussnoten. Aber dann stehe ich einmal mehr bei Blackwell’s und kaufe was von André Gide, und zwar den »Immoralist«, den mir mein Nachbar neulich empfohlen hat:

–Gutes Buch, musst du unbedingt lesen.
–Was ist gut daran?
–Alles.

Bei Blackwell’s läuft auch gerade eine Signierstunde ab. Der nach wie vor äusserst sympathische Michael Palin unterschreibt, und da schaue ich noch eine Weile zu, kaufe aber keines seiner Bücher, weil ich ja ganz andere Sachen lesen muss.

»Der Immoralist« ist wirklich ein gutes Buch. Schöne schlichte Sprache, so poetisch wie natürlich, aber in dem späteren und noch etwas kürzeren Hundertseiter »Die Pastoralsymphonie« ist sie vielleicht fast noch vollkommener. Auch darin behandelt Gide die grooossen Fragen anhand einer einfachen Geschichte: Der Protagonist, ein Pastor, verliebt sich in seine blinde Adoptivtochter, sein Sohn aber leider auch, und das Ganze führt unweigerlich zur Katastrophe.

Diese »Symphonie pastorale« habe ich vor ein paar Monaten während einer Zugfahrt von Genf nach Basel gelesen. Warmer Sommerabend, linkerhand zog zufälligerweise der gesamte Schweizer Jura vorbei, in dem das Buch ja spielt. Auch damals musste ich theoretisch eigentlich ganz andere Sachen lesen.

Länge des Buches: ca. 113.000 Zeichen (französ.). – Ausgaben:

André Gide: Die Pastoral-Symphonie. Übers. von Bernard Guillemin. Nachw. von Kurt Wais. [Nachdr.] Stuttgart: Reclam 1995.

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100-Seiten-Bücher – Teil 40
Erasmus von Rotterdam: »Lob der Torheit« (1511)

Basel, 19. Oktober 2012, 15:19 | von Baumanski

Die Basler Buchhandlung, in der ich Erasmus’ bekanntestes Werk erstehe, ist keine fünfhundert Meter von seinem Todeshaus an der Bäumleingasse entfernt. Sieben Franken kostet die Reclam-Ausgabe und seltsamerweise ist sie im Regal unter R statt unter E eingeordnet, wobei V ja noch eine weitere Möglichkeit gewesen wäre, hehe.

Sie wisse sehr gut, »in welch schlechtem Ruf die Torheit sogar bei den ärgsten Dummköpfen steht«, sagt die Torheit und beginnt dann ihr Selbstlob. Es folgt exzessives Klassik-Namedropping – Glaukon! Momus! Priap! Chrysippus! – über gut hundert Seiten. Auch (wie hiess er noch mal?) Christus wird zwei, dreimal erwähnt, aber deutlich mehr Platz räumt Erasmus seinen Tiraden gegen Priester und Kirche (und Theologen, und Philosophen, und Kaufleute, und!) ein. Kein Wunder, dass Herder dem trotz allem katholisch Gebliebenen Wankelmut vorgeworfen hat. Unbestritten sind dagegen Erasmus’ rhetorisches Talent, sein Ideenreichtum und seine unglaubliche Detailkenntnis der antiken Literatur.

Geschrieben hat Erasmus seine Satire während eines Besuchs bei seinem englischen Freund Thomas Morus, dem er das Werk auch gewidmet hat. Überhaupt ist Erasmus viel herumgekommen, war in Paris, war in Turin, war in Venedig, und gestorben ist er wie gesagt in Basel, aber immerhin an der hübschen Bäumleingasse, ziemlich weit weg vom heutigen Erasmusplatz, der damals wohl gerade noch ausserhalb der Stadtmauern gewesen wäre, heute aber gleich neben den wenigen Bars liegt, die erst um sechs Uhr morgens schliessen.

Länge des Buches: ca. 177.000 Zeichen (lat.), ca. 239.000 Zeichen (dt.). – Ausgaben:

Erasmus von Rotterdam: Lob der Narrheit. In der Übers. von Lothar Schmidt und mit Federzeichn. von Gabriele Mucchi. Leipzig: Faber & Faber 2005.

Erasmus von Rotterdam: Das Lob der Torheit. Übers. von Anton J. Gail. Ditzingen: Reclam 2012.

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100-Seiten-Bücher – Teil 37
Gottfried Keller: »Romeo und Julia auf dem Dorfe« (1856)

Oxford, 23. September 2012, 17:37 | von Baumanski

Gottfried Kellers Seldwyler Novellen gehören zweifelsfrei bis heute zum Besten, was die Deutschschweiz an Literatur hervorgebracht hat. Genauso natürlich der »Grüne Heinrich«, aber der hat halt in beiden Fassungen an die tausend Seiten, und erst neulich traf ich wieder jemanden, der weder die eine noch die andere Fassung zu Ende gelesen hatte!

Die Handlung von »Romeo und Julia auf dem Dorfe« ist im Titel eigentlich schon ganz gut zusammengefasst. Man könnte höchstens noch hinzufügen, dass sich die Bauern Manz und Marti, die Väter von Sali und Vrenchen, wegen eines kaum brauchbaren Ackers zerstreiten und ruinieren. Der eine Wink mit dem Shakespeare-Zaunpfahl war übrigens nicht genug für Keller, sondern er bringt noch weitere Anspielungen unter, etwa wenn die Liebenden den Flug der Lerchen beobachten und Vrenchen lacht wie eine Nachtigall.

Die leicht archaische Sprache wirkt dennoch äusserst lebendig, was sich unter anderem den bäurischen Flüchen (»beim ewigen Hagel« etc.) sowie einigen ansprechend beschriebenen Details verdankt: Einen »schlimmen weissen Halskragen« darf sich zum Beispiel jeder Leser seinem eigenen Modegeschmack entsprechend vorstellen. Schliesslich findet eine garstige Serviertochter, Sali sei »schön petschiert mit seiner jungen Gungeline«, woraufhin die Wirtin sie völlig zu Recht als »Essighafen« bezeichnet.

Länge des Buches: ca. 161.000 Zeichen. – Ausgaben:

Gottfried Keller: Romeo und Julia auf dem Dorfe. Mit einem Kommentar und einem Nachwort von Klaus Jeziorkowski. Frankfurt/M.: Insel-Verlag 1984. S. 7–102 (= 96 Textseiten).

Gottfried Keller: Romeo und Julia auf dem Dorfe. Novelle. Durchges. Ausg. Stuttgart: Reclam 2002.

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100-Seiten-Bücher – Teil 32
Max Frisch: »Wilhelm Tell für die Schule« (1971)

Genf, 24. August 2012, 15:27 | von Baumanski

Dass die meisten Schweizer ihre Kenntnisse über die (Früh-)Geschichte ihres Landes hauptsächlich aus Legenden und aus Schillers gut zitier­barem Freiheitsdrama beziehen, daran hat sich auch im 21. Jahrhun­dert kaum etwas geändert. Verschiedene Historiker haben es aber durchaus unternommen, den Tellmythos zu demontieren, schon im Jahr 1760 etwa der Berner Pfarrer Uriel Freudenberger, und 1971 eben auch Max Frisch mit seinem »Wilhelm Tell für die Schule«.

Held des knappen Hundertseiters ist der Reichsvogt Gessler, der bei Frisch »Ritter Konrad oder Grisler, immer wahrscheinlicher aber Ritter Konrad von Tillendorf« heisst: ein kopfwehgeplagter Gesandter »ohne Sinn für Landschaft«, der es kaum erwarten kann, die enge und rückständige Urschweiz wieder zu verlassen. »Obschon man sich ein Ende dieses Mittelalters nicht vorstellen« kann, versucht Ritter Konrad, die sturen Urner vom Fortschritt zu überzeugen, doch es ist zwecklos. Der Apfelschuss kommt gar nicht erst zustande und der schweigsame Jäger Tell wird am Ende zum üblen Meuchelmörder.

Den Frisch gegenüber bis heute gehegten Verdacht der Humorlosigkeit kann dieses Büchlein widerlegen, nicht ganz aber – wen wundert’s bei diesem Titel – die ihm oft zugeschriebene Oberlehrerhaftigkeit. Die Erzählung ist mit 74 unterschiedlich ernsthaften Anmerkungen ver­sehen: eine kleine historische Lektion hier, etwas Zeitkritik dort, aber in Notiz 69 immerhin auch ein Hinweis auf Zuger Fischspezialitäten!

Länge des Buches: ca. 102.000 Zeichen. – Ausgaben:

Max Frisch: Wilhelm Tell für die Schule. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1971. S. 5–96. (= 92 Textseiten)

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362.597 Seiten

Genf, 20. August 2012, 10:21 | von Baumanski

 
Lieber Baumanski,

noch mal zu den 1001 Büchern, die wir lesen müssen, bevor wir sterben. Ich habe jetzt endlich ein paar Informationen gesammelt:

Also: Wenn du all das Zeug lesen willst, sind es dann insgesamt 362.597 Seiten. Durchschnittlich somit 362,23 Seiten pro Buch, ziemlich nahe bei unserer Schätzung. Bei einer Leserate von 100 Seiten pro Tag bräuchte man 9 Jahre, 11 Monate und 5 Tage. Oder 19 Jahre, 10 Monate, 1 Woche und 2 Tage bei täglich 50 Seiten.

Das längste Buch, hätte man sich auch vorher denken können, ist eine 3703-seitige koreanische Saga, die man in der westlichen Hemisphäre kaum findet, die aber dafür in Südkorea ein paar Millionen mal verkauft worden ist (»The Taebaek Mountains« von Jo-Jung Rae).

Ein weiterer Fakt: 380 der Buchtitel beginnen mit T und nur einer mit Z. Ich empfehle dir die drei Bücher, die mit Y beginnen, da sie durchschnitt­lich nur 162 Seiten lang sind. Vermeide Bücher mit U (durchschnittlich 555 Seiten)!

Du hast schon 14.732 Seiten gelesen (46 Bücher), gratuliere! Ich bin dir mit 40.830 Seiten (104 Bücher) aber voraus.

Soviel für heute, speak soon,
William

 


Oh, Rasky!!!!!!!!

Genf, 11. Juni 2012, 12:24 | von Baumanski

Nach dem Pausenpfiff bei Kroatien–Irland öffnen wir das zweite serbi­sche Bier und kommen mal wieder auf die Seite www.goodreads.com zu sprechen. Mein äusserst belesener Kommilitone trägt hier regel­mässig die von ihm durchgelesenen Bücher ein und setzt alle, die er jemals lesen möchte, auf seine To-Read-List, wodurch nun jeder an seiner Vorliebe für die englische Literatur des 18. Jahrhunderts teilhaben kann.

Ich schaue mir die Seite also mal wieder etwas genauer an und bin selbstverständlich erfreut über ihren konsequenten Demokratismus, denn Klassiker wie Goethes »Werther« (Rating: 3.57 Sterne) oder Joyces »Dubliners« (3.86) müssen sich hier noch einmal neu gegen Bestseller wie »Harry Potter 7« (4.52) beweisen.

Das Lesen der Kommentare ist, wie auf solchen Portalen üblich, ein leicht masochistisches Vergnügen, aber neben einer Masse an Unbedarftem finden sich auch einige Denkwürdigkeiten wie zum Beispiel der Review einer amerikanischen Userin, die Dostojewskis grossen 600-Seiter (4.09 Sterne) wie folgt zusammenfasst (ob die Dostojewski-interne intertextuelle Anspielung wohl gewollt ist?):

»Oh, Rasky!!!!!!!! You idiot.«
 


100-Seiten-Bücher – Teil 23
Robert Louis Stevenson: »Der seltsame Fall von Dr. Jekyll und Mr. Hyde« (1886)

Genf, 14. Mai 2012, 21:15 | von Baumanski

Robert Louis Stevensons »Strange Case of Dr Jekyll and Mr Hyde« ist geradezu ideal für die gut vierstündige Fahrt von Edinburgh nach London, von der Geburtsstadt des Autors zum Handlungsort. Ich nehme das Buch zwar erst in Newcastle zur Hand, aber das dürfte immer noch locker reichen.

»Jekyll und Hyde« ist natürlich ein Überklassiker, den Inhalt kennen selbst Leute, die ein Buch nicht richtig herum aufschlagen können. Unzählige Male wurde die Geschichte adaptiert, kopiert, verfilmt oder im »Lustigen Taschenbuch« mit Enten neu besetzt. Wenn ich sie für eine Verlagsbroschüre betexten müsste, dann so: »Stevensons Novelle verbindet den wohligen Grusel der klassischen Gothic Fiction mit dem angenehmen Fluss viktorianischer Prosa und der Übersichtlichkeit eines Hundertseiters. Dieser Text hat das Klischeebild von Londons dunklen und nebligen Strassen geprägt wie sonst höchstens noch die Werke von Arthur Conan Doyle.« Und wirklich, der Nebel liegt, rollt, schläft über der Stadt, hebt sich und senkt sich und bildet auch mal eine »foggy cupola«.

Das Ganze wird allenfalls dadurch ein bisschen getrübt, dass man, wie gesagt, die Auflösung schon kennt, bevor der völlig verwirrte Utterson endlich die beiden Briefe öffnen darf. Wie dem auch sei: Eine halbe Stunde vor London ist das Buch durchgelesen und am Bahnhofs­ausgang bin ich schon fast ein bisschen enttäuscht von der klaren und nebelfreien Nacht.

Länge des Buches: ca. 164.000 Zeichen (Thesing-Übersetzung), ca. 138.000 Zeichen (engl.). – Ausgaben:

Robert Louis Stevenson: Der seltsame Fall des Dr. Jekyll und Mr. Hyde. Erzählung. Aus dem Engl. von Marguerite und Curt Thesing. Zürich: Diogenes 1996.

Robert L. Stevenson: Der seltsame Fall von Dr. Jekyll und Mr. Hyde. Erzählung. Aus dem Engl. übers. von Hermann Wilhelm Draber. Leipzig: Reclam 2001.

Robert Louis Stevenson: Der seltsame Fall von Dr. Jekyll und Mr. Hyde. Aus dem Engl. von Grete Rambach. Frankfurt am Main; Leipzig: Insel-Verlag 2004.

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In Sachen Anna Karenina

Genf, 23. März 2012, 01:35 | von Baumanski

Dieter Wirth ist unzufrieden. Unzufrieden mit der »Anna Karenina«-Übersetzung von Rosemarie Tietze und vor allem mit dem einhelligen Lob der Kritik. In seinem Aufsatz in der Zeitschrift »Das Wort« schaut Wirth lobenswerterweise äusserst genau hin und widmet allein Tietzes Übersetzung der Anfangspassage des Tausendseiters ganze zehn Seiten.

Nun kann man ja, wenn man will, jede Übersetzung angreifen. Auch wenn wir es darauf anlegten, die »Melange« aus früheren Über­setzungen zu kritisieren, die Wirth als Alternative zu Tietzes Version der Passage präsentiert, fänden sich problemlos einige Angriffs­punkte, nur mal drei herausgegriffen:

1. Tietzes Anfangssatz ist, wenn er auch rhythmisch weiter entfernt sein mag, syntaktisch näher am russischen Original (»Все счастливые семьи похожи друг на друга, […]«): »Alle glücklichen Familien sind einander ähnlich« gibt die Adjektiv-Konstruktion besser wieder als »Alle glücklichen Familien gleichen einander« (Melange).

2. Bei »Menschen, die der Zufall in irgendeiner Herberge zusammen­führt« (Melange) könnte man monieren, dass – wie bei Tietze – die Vergangenheitskomponente des Partizips »сошедшиеся« übergangen wird, dass also »zusammengeführt hat« möglicherweise passender wäre.

3. Die Phrase »более связаны между собой« ist bei Tietze genauer übersetzt (»mehr miteinander verbinde«) als in der Melange (»einander näherstanden«).

(Usw.)

Also, falls nach dem zweifellos auch berechtigten Artikel von Wirth jetzt alle denken, sie müssten ihre Übersetzung von Rosemarie Tietze bei eBay loswerden: Nein, müsst ihr nicht.

Und ich gehe jetzt rüber ins Café Livresse und trinke eine Melange, hehe.
 


In Dostojewskis Banja

St. Petersburg, 29. Januar 2012, 16:15 | von Baumanski

Auf Barclay de Tollys Schultern liegt etwas Schnee, als ich am Samstag­mittag an seiner Statue vorbeilaufe. Der dauerbewölkte Himmel und das graue Semifreddo der Kanäle lassen St. Petersburg in diesem lauwarmen Januar etwas düster wirken. Ich treffe mich mit Ivan Borisowitsch in der Stolovaja, und er stochert in seinen Kohlrouladen herum, schwärmt von der Schönheit des sich ausdehnenden Univer­sums und beklagt sich über dies und jenes, bevor er abrupt aufbricht.

Ich bleibe noch etwas sitzen und lese weiter in Wenedikt Jerofejews schönem Säuferroman (oder Poem, wie es der Autor in bester gogol­scher Tradition nennt) »Moskau – Petuschki«. Doch schon nach ein paar Seiten holt mich die nicht weniger hochprozentige Realität ein, als der Alkoholiker am Nebentisch, der gerade in nicht mehr als zehn Minuten eine Flasche armenischen Kognak geleert hat, derbe Schimpf­wörter ins Telefon zu schreien beginnt. Eine Frau schüttelt immer wie­der missbilligend den Kopf, und ich gehe lieber rasch nach draussen.

Ich bin sowieso in der Eremitage verabredet, wohin mich zwei Bekannte, eine Restauratorin und ein äusserst begeisterungsfähiger Kunsthistoriker, zu einer leicht chaotischen Privatführung eingeladen haben. Die beiden diskutieren über Rubens’ unproportionale Pferde und Rembrandts mässig schöne Frau (»Aber er hat sie geliebt«) und viele andere Sachen. Irgendwie kommen wir auf die neue U-Bahn-Station im Zentrum zu sprechen und es steht die Frage im Raum, ob man die scheusslichen Mosaike darin als postmodern bezeichnen könne. Man könne, findet der Kunsthistoriker, denn der russische Postmodernismus sei »бессмысленный и беспощадный«, sinnlos und erbarmungslos.

Am Abend besuche ich mit unserem Freund, dem Opernsänger, die öffentliche Banja, in die angeblich schon der omnipräsente Dostojewski zu gehen pflegte: Dampf, Birkenzweige, kaltes Wasser und vor allem schwitzende Wänste. Straffe und faltige, behaarte und unbehaarte, mehr und weniger aufgedunsene. Eine gute Stunde verbringen wir in der Schwitzanstalt, und danach gibt es Bier.

Gegen Mitternacht sitze ich dann einmal mehr in irgendeiner Gemein­schaftsküche in irgendeinem alten Haus mit irgendwelchen Leuten. Ich kenne zwar nur die Hälfte davon, aber die Diskussion ist lebhaft, es geht schliesslich um kulinarische Fragen. In der Hitze des Gefechts lasse ich mich zu der Behauptung verleiten, dass sich die russische Küche zur französischen verhalte wie die Ikonenmalerei zum Impressionismus, und damit sind natürlich wieder mal nicht alle einverstanden.
 


Siebenhundertdreissig

St. Petersburg, 27. Dezember 2011, 09:50 | von Baumanski

Идти ему было немного; он даже знал,
сколько шагов от ворот его дома:
ровно семьсот тридцать.

Siebenhundertdreissig Schritte sollen es gewesen sein bis zum Haus der Pfandleiherin, und das muss eigentlich mal einer nachzählen. Es ist Donnerstagnachmittag; ich stehe vor dem Haus am Stoljarny Pereulok, wo laut der Literaturwissenschaft Raskolnikov gewohnt hätte, hätte es ihn denn in Wirklichkeit gegeben. Ich habe leichtes Fieber, was ja durchaus zur Aufgabe passt. Leicht erstaunt stelle ich fest, dass am selben Haus auch eine deutschsprachige Gedenktafel an die grosse Überschwemmung vom 7. November 1824 erinnert.

Vor dem Seitenausgang schreite ich los. »Eins, zwei, drei, vier, fünf, sechs …« Das Zählen der Schritte ist überraschend anstrengend, ich muss mich richtig konzentrieren, um mich nicht ablenken zu lassen. Nach etwa hundert Metern verliere ich den Faden, muss umkehren und beschliesse, mir künftig wichtige Landmarken zu notieren. Von Schritt 180 bis 268 gehe ich unter einem Baugerüst, ab Schritt 310 überquere ich auf der Kokuschkin-Brücke den Kanal und bei Schritt 395 biege ich in die Sadovaja-Strasse ein. An der Ecke kommen mir zwei Studenten in dicken Wintermänteln entgegen, die sich gegenseitig aus einem aufgeschlagenen Buch Gedichte vorlesen.

Ein paar Meter weiter finde ich mich plötzlich in einer Menschentraube wieder und bin gezwungen, meinen Schritt zu verlangsamen. Ich muss eine komische Figur abgeben, wie ich mit Block und Stift durch die dämmrigen Strassen schreite und ab und zu für ein paar Schritte umkehre. Bei Schritt 662 hält mich ein alter Mann ohne Schneidezähne auf, der sich über die gestiegenen Brotpreise beklagt. Dann zeigt er lachend auf einen Kastenwagen der Polizei, der wohl zu einer Demonstration unterwegs ist: »Jetzt haben sie auch noch eine Revolution …« Ich stimme ihm zu, 663, und gehe weiter, 664.

»… 726, 727, 728, 729. Siebenhundertdreissig!« Anstatt vor dem Haus der Pfandleiherin stehe ich vor einem vergitterten Fenster irgendwo am Rimski-Korsakov-Prospekt. Erst nach exakt 1180 Schritten befinde ich mich vor dem – leider verschlossenen – Eingang zum »kolossalen Gebäude (…), das mit der einen Seite nach dem Kanal, mit der andern nach der …straße zu lag«.

Mehrere mögliche Schlüsse: Entweder ist Raskolnikov nicht den am Romananfang beschriebenen Weg gegangen. Oder die Literatur­wissenschaft hat sich einfach mal wieder beim Entschlüsseln einer Romantopografie geirrt. Oder Raskolnikov hatte extrem lange Beine. Oder Dostojewski hat die Schritte gar nie gezählt (schliesslich verwechselte er im Verlauf des Buches auch die Marmeladov-Kinder).

Etwas müde und desillusioniert treffe ich kurz darauf Ivan Boriso­witsch. »Seit Raskolnikovs Zeiten hat sich hier nichts geändert«, sagt Ivan mit Blick auf die dreckigen Pfützen am Boden und beschliesst kurzerhand, uns zu seinen Mathematikerfreunden zum Tee einzuladen. In der warmen Stube kommt es schnell zu einer lebhaften Diskussion über Gott und die Welt; einer der Mathematiker behauptet, an den russischen Wirtschaftsfakultäten würde mit den Methoden der mittelalterlichen Scholastik gearbeitet. Und na ja, mit ähnlichen Mitteln hatte ich heute auch versucht, Raskolnikovs Schritte zu zählen, und war kläglich gescheitert.