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Kaffeehaus des Monats (Teil 66)

sine loco, 4. Dezember 2011, 18:04 | von Baumanski

Wenn du mal richtig Zeitung lesen willst:

Stirka 40° in SPb, mit einem ultrafurchtbaren Foto, wie in dieser Reihe üblich :-)

St. Petersburg
Das »Stirka 40°« in der Kasanskaja Uliza.

(Hier kann man in alten finnischen Maschinen Wäsche waschen und dabei lokale Alkoholiker betrachten, die auf dem Boden schlafen oder in Abfalleimer urinieren. Zu jedem Waschgang bekommt man einen ausgezeichneten Kaffee. Je nach Wochentag wird man von einem Buckligen mit Rastalocken oder von einem grossgewachsenen Otto-Waalkes-Double bedient; beide sind überaus freundlich.)
 


Haus des Leningrader Handels

St. Petersburg, 20. November 2011, 10:49 | von Baumanski

Es ist noch dunkel, als ich am Montagmorgen kurz vor neun Uhr geweckt werde. Gähnend verfluche ich den russischen Präsidenten, der dieses Jahr die Winterzeit abgeschafft hat. Dafür ist heute das Duschwasser immerhin lauwarm. Ich fahre dann mit dem Dreierbus zum Ligovski-Prospekt und gehe nach drei Stunden Unterricht um die Ecke in unsere Lieblings-Hinterhof-Stolovaja, wo das Essen natürlich ausschliesslich mit Dill und Petersilie gewürzt wird.

Zusammen mit einem Kommilitonen, dem fröhlichen polnischen Dominikanermönch (@Paco: Grüsse!), mache ich mich auf den Weg und verabschiede mich irgendwann in ein Café. Ich nehme mein schon sehr zerfleddertes, noch aus der Sowjetunion stammendes Exemplar von »Verbrechen und Strafe« heraus und warte lesend auf Ivan Borisowitsch. Denn heute scheint zum ersten Mal seit drei Wochen die Sonne und das wollen wir für einen Spaziergang nutzen.

In der Mitte des letzten Gesprächs zwischen Raskolnikov und Svidrigailov kommt Ivan Borisowitsch dazu, offensichtlich etwas mürrisch gelaunt, und beginnt über verschiedene Dinge zu referieren. Wir verlassen das Café, überqueren den Nevski-Prospekt und kommen zum bekannten Warenhaus DLT (Dom Leningradskoj Torgovli), dem »Haus des Leningrader Handels«, dass angeblich nur deshalb nicht »Leningrader Haus des Handels« genannt wurde, damit es nicht die selben Initialen hat wie Lew Davydowitsch Trotzkij.

Wir spazieren weiter, durch den Michailovski-Park zur Inschenerny-Brücke, auf der unser Freund, der Opernsänger, einmal eine alte Haarbürste gefunden und in die Moika geworfen hat. Besagter Opernsänger ruft dann kurz darauf auch an und lädt uns zu einer Lesung ein, wo verschiedene Dichter der Samisdat-Generation Geld für die Operation ihres verunfallten Kollegen Michail Erjomin sammeln.

Etwas später sind wir noch auf einer Party in einer Wohnung am Nevski-Prospekt. Ich höre jemanden Weissrussisch auf mich einreden, dann unterhalte ich mich länger mit einer Keltologin aus Tscheljabinsk über das irische Eisenbahnnetz, und dann geht das Bier aus. Eine Betrunkene versucht mir und Ivan Borisowitsch zu erklären, dass wir »typische abgestumpfte Russengesichter« haben, und da ist es Zeit, das Weite zu suchen.

»Können Sie kochen?«, fragt Ivan Borisowitsch auf dem Heimweg unvermittelt, nachdem er zuvor lang und breit erläutert hat, weshalb ein russischer Intellektueller prinzipiell mit nichts einverstanden sein kann (auch Dostojewski ist laut Ivan Borisowitsch höchstens ein mittelmässiger Schriftsteller). »Ja«, anworte ich, füge aber hinzu, dass ich mangels Küche momentan nur Butterbrote zubereite. »Das Butterbrot ist ein Modell des Universums«, sagt Ivan Borisowitsch ernst.
 


Puschkin, Przewalski, Pilze, Prokofjew

St. Petersburg, 23. Oktober 2011, 09:05 | von Baumanski

Es ist Freitag und schon elf Uhr vorbei, als ich aufstehe. Am Abend davor habe ich mehr als genug, aber nicht allzu viel getrunken (die Russen haben dafür sogar ein eigenes Verb, »недоперепить«). Aber jetzt muss ich noch schnell vor Wochenschluss zum International Office der Universität, um irgendwelche Sachen zu erledigen.

Hernach spaziere ich – vorbei an zwei Puschkin-Denkmälern und einer Büste des Forschungsreisenden Przewalski, der Stalin so ähnlich sieht, dass viele ihn für dessen heimlichen Vater halten – zum Puschkin-Museum. Dort überzeuge ich mich vom zeichnerischen Talent des Nationaldichters und höre mir die Ausführungen der Museumsführerin an, die, wie andere ja auch, seitenweise auswendig aus seinen Werken zitieren kann.

Nach dem Museum bin ich etwas hungrig und entscheide mich kurzerhand für eines der russischen Schnellrestaurants, von denen es in Petersburg etwa so viele gibt wie Puschkin-Denkmäler. Ich bestelle ein Glas Kwas sowie Bliny mit Hackfleisch und Pilzen (übrigens sind alle Russen davon überzeugt, dass in Westeuropa niemand Pilze sammelt). Kostenpunkt: 220 Rubel.

Da ich zuvor noch schnell zum Bankomaten musste, habe ich nur einen 5000-Rubel-Schein dabei, also sozusagen 150 Franken bzw. 125 Euro am Stück, was hier gewöhnlich nicht besonders gerne gesehen wird. (Die Schweiz ist ja bekanntlich das einzige Land, wo man auch mit einer Tausendernote einen Kaugummi bezahlen darf.)

»Kann ich damit zahlen?«, frage ich deshalb präventiv und halte den 5000-Rubel-Schein ins Blickfeld der jungen Verkäuferin. Sie schaut mich verständnislos an. »Ja«, sagt sie langsam und deutlich. »Das ist Geld.« Sie hält mich offenbar nicht für freundlich und umsichtig, sondern für dämlich, und während ich dann meine Bliny esse, sehe ich von weitem, wie sie ab und zu kopfschüttelnd in meine Richtung blickt.

Um sechs Uhr ruft mich Ivan Borisowitsch an und sagt, ich müsse in einer Stunde unbedingt mit ins Konzert kommen. Als ich knappe fünf Minuten zu spät vor dem Eingangstor zur Philharmonie erscheine, ist vom sonst überpünktlichen Ivan Borisowitsch noch nichts zu sehen. Ich rufe ihn auf seinem Handy an, worauf sich folgender Dialog entwickelt:

I.B.: Allo?
Ich: Privjet, ich bin’s. Ich wäre jetzt also da.
I.B.: Ich stehe direkt vor dem Eingang. Wo sind Sie denn?
Ich: Hier, vor dem Eingang.
I.B.: Ich sehe Sie aber nicht.
Ich: Ich bin aber hier!

Plötzlich kommt Ivan angerannt. Er war ein paar Meter zur Seite getreten, um etwas aufzuschreiben, und hatte vergessen, dass er nicht mehr vor dem Tor stand.

Wir betreten die Philharmonie, wo das laut dem britischen Magazin »Gramophone« sechzehntbeste Orchester der Welt auch an diesem Abend überzeugend spielt: Prokofjews »Skythische Suite« und eine Symphonie des Schostakowitsch-Schülers Tischtschenko. Auch Ivan Borisowitsch ist äusserst zufrieden.
 


Leonhard Euler im Amsterdam des Ostens

St. Petersburg, 26. September 2011, 23:12 | von Baumanski

Проснувшись однажды утром, Грегор Замза обнаружил,
что он превратился в Йозефа К.

— Kritzelei auf einem Tisch in einer Petersburger Universität

Es ist ein ganz gewöhnlicher Sonntagmorgen in St. Petersburg, das sich den Titel »Venedig des Nordens« unter anderem mit Kopenhagen, Stockholm und erstaunlicherweise Duisburg teilt, obwohl doch »Amsterdam des Ostens« deutlich angebrachter wäre. Beim Frühstück schlage ich den »Kommersant« (kurz »Ъ«) vom Vortag auf und stelle beruhigt fest, dass er immer noch täglich eine Statistik publiziert, in der Putins und Medwedews Medienpräsenz sekundengenau verglichen wird.

Um elf Uhr fahre ich mit der Metro zum Alexander-Newskij-Kloster, wo es das beste Brot der Stadt gibt. Ich kaufe zwei Laibe (Wochenration) und weil ich schon einmal da bin, gehe ich mir auch gleich noch den Gottesdienst anschauen. Während die Gläubigen »Gospodi pomiluj« singen und ich ein bisschen mitsumme, um nicht wie ein Tourist zu wirken, merke ich plötzlich, dass direkt neben mir Nikolaj Gogol steht: Extrem spitze Nase, dünner Schnurrbart, seltsame Frisur. Als der Gottesdienst vorbei ist, verliere ich ihn aus den Augen; der Schriftsteller verschwindet im Strom der Gläubigen.

Danach besichtige ich noch den Friedhof vor dem Kloster, wo ja schliesslich Dostojewskij, Tschaikowskij und Leonhard Euler begraben liegen. Als Basler in St. Petersburg kommt man sich manchmal vor wie Leonhard Euler, natürlich mit dem Unterschied, dass Euler besser rechnen konnte. Ausserdem wusste er noch nicht, was Aquafitness ist. Doch von Anfang an.

Am Nachmittag nieselt es. Ich beschliesse, schwimmen zu gehen. Der Eintritt ins öffentliche Schwimmbad ist mit 200 Rubeln verhältnismässig teuer. Auf meine Frage, ob es an der Universität ein Becken gibt, hat man mir nur mit einem mitleidigen Lächeln geantwortet. Im etwas sowjetisch anmutenden Hallenbad kontrolliert eine ältere Dame meine Fusssohlen, bevor sie mir für 80 Rubel eine Schwimmerlaubnis aushändigt; danach setzt sie sich auf den Bademeisterstuhl und macht sich schlussendlich wieder ans Putzen. Pünktlich um 18 Uhr reisst mich laute Popmusik aus meinen ruhigen Schwimmzügen. Eben: Aquafitness (аквааэробика). Eine Vorturnerin zeigt am Beckenrand die Übungen vor, drei Frauen mit lustigen bunten Badekappen turnen sie im Wasser nach. Ich stelle mir vor, ich wäre Leonhard Euler, schwimme noch ein paar Längen und verlasse dann fluchtartig das Hallenbad.

Auf dem Heimweg möchte ich in einer Bäckerei eine Bulotschka kaufen. Hinter der Theke macht eine Frau Kaffee, ein junger Herr steht herum und zwei weitere Angestellte sind vollkommen ins Gespräch vertieft. Ich warte fünf Minuten und verlasse schliesslich (wie so oft, hehe) das Geschäft mit leeren Händen. Die Russin vor mir bleibt geduldig stehen. »Ein solches Volk«, heisst es in einem seltsamen Artikel über den angeblich »epilepsieartigen« Charakter der Russen, »hält die Erniedrigung durch die eigene Regierung aus, aber bei einer tödlichen äusserlichen Bedrohung ist es unbesiegbar«.

Gegen Abend spaziere ich mit Ivan Borisowitsch der Fontanka entlang. Ivan Borisowitsch promoviert in Mathematik und interessiert sich für Kant und Nietzsche und hat kürzlich begonnen, ein Buch über russische Epigraphen des 18. Jahrhunderts zu verfassen. Tatsächlich stand es vor Puschkin um den russischen Epigraphen so schlecht, dass der Nationaldichter in seinen Mottos seinen Freund, den Fürsten Wjasemskij, zitieren musste, der zwar eine Biografie über Denis Fonwisin verfasst hat, aber ausserhalb Russlands kaum gelesen wird.

»Wussten Sie schon«, fragt Ivan Borisowitsch, »dass Alexander III. vergiftet wurde?« Wie er auf diese Idee kommt, frage ich. »Ich habe ein paar Bücher gelesen und selbst Fakten zusammengestellt«, meint Ivan Borisowitsch und grinst, mit sich selbst und der Welt zufrieden.