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100-Seiten-Bücher – Teil 124
Ingeborg Bachmann: »Frankfurter Vorlesungen – Probleme zeitgenössischer Dichtung« (1978)

München, 3. Dezember 2018, 23:15 | von Josik

Bei der Lektüre von Ingeborg Bachmanns fünf Frankfurter Poetikvor­lesungen aus dem Wintersemester 1959/60 – erstmals vollständig veröffentlicht 1978 – habe ich viel über das Schlagsahnebedürfnis der Bevölkerung nachgedacht. In ihrer ersten, am 25. November 1959 gehaltenen Vorlesung mit dem Titel »Fragen und Scheinfragen« sagt Ingeborg Bachmann: »[D]ie Leute brauchen heute Kino und Illustrierte wie Schlagsahne« (S. 21). Nun soll man zwar nicht von sich auf die Leute schließen, aber ich jedenfalls brauche Schlagsahne jetzt eigentlich nicht so dringend.

In der zweiten, am 9. Dezember 1959 gehaltenen Vorlesung, die den Titel trägt: »Über Gedichte«, gibt Ingeborg Bachmann ihrer Zuhörerschaft einen tollen Tipp: »Bekanntgemacht […] mit all den neuen Dichtern, die es gibt, werden Sie jetzt nicht – wozu sollte es führen, es gibt […] Gedichtbände, die in den Bibliotheken zu haben sind, da können Sie sich informieren« (S. 25).

Die dritte Vorlesung trägt den Titel: »Das schreibende Ich«, die vierte: »Der Umgang mit Namen«. Auch diese beiden Vorlesungen sind absolut superst. Umso befremdlicher ist es, wie schlampig die Frankfurter Uni ihrer Chronistenpflicht nachgekommen ist. Jedenfalls steht in der editorischen Nachbemerkung dieses Bandes: »Das Sekretariat des Präsidialamtes der Frankfurter Universität hat lediglich drei Vorlesungsdaten verzeichnet […]. Die genauen Vorlesungsdaten der dritten und vierten Vorlesung sind nicht mehr festzustellen« (S. 97).

In ihrer fünften, am 24. Februar 1960 gehaltenen Vorlesung mit dem Titel »Literatur als Utopie« gibt Ingeborg Bachmann, auf Seite 92, die beste Definition von »Literatur« ever: Literatur, schreibt sie, sei ein »mehrtausendjähriger Verstoß gegen die schlechte Sprache«. 🤣

Länge des Buches: ca. 170.000 Zeichen (dt.). – Ausgaben:

Ingeborg Bachmann: Frankfurter Vorlesungen – Probleme zeitgenössischer Dichtung. München: Piper 1980. S. 5–95 (= 91 Textseiten).

(Einführung ins 100-Seiten-Projekt hier. Übersicht über alle Bände hier.)


100-Seiten-Bücher – Teil 123
»Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland« (1949/2017)

München, 3. November 2018, 20:55 | von Josik

Kleinen Kindern und Deutschlernenden sollte man zum Deutschlernen nicht unbedingt das »Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland« in die Hand drücken. Denn sowohl in der Präambel als auch in Art. 1 Abs. 2 heißt es: »das Deutsche Volk«. Das Adjektiv ist großgeschrieben! Für diese Großschreibung kann man gewiss historische, ideologische und Pipapo-Gründe anführen, aber das ändert natürlich nichts daran, dass diese Schreibweise falsch ist. Adjektive werden im Deutschen nun mal kleingeschrieben.

Art. 7 Abs. 6 lautet: »Vorschulen bleiben aufgehoben.« Die betreffenden Gesetzeskommentare erläutern, dass hiermit nicht jene Vorschulen gemeint sind, die wir alle besucht haben, sondern irgendwelche anderen Vorschulen. In Art. 12 Abs. 3 steht etwas für eine Demokratie so Selbstverständliches, dass man sich wundert, dass dies überhaupt aufgeschrieben wurde. Nämlich: »Zwangsarbeit ist […] verboten.« Sorry folks, das war natürlich ein Scherz. In Tat und Wahrheit steht in Art. 12 Abs. 3 selbstverständlich das genaue Gegenteil: »Zwangsarbeit ist […] zulässig.«

Art. 26. Abs. 1 legt fest: »Handlungen, die geeignet sind und in der Absicht vorgenommen werden, […] die Führung eines Angriffskrieges vorzubereiten, sind verfassungswidrig. Sie sind unter Strafe zu stellen.« Wie der Generalbundesanwalt festgestellt hat, ist »[n]ach dem eindeutigen Wortlaut der Vorschrift […] nur die Vorbereitung an einem Angriffskrieg und nicht der Angriffskrieg selbst strafbar«. Bei Angriffskriegen, die nicht vorbereitet wurden, kann man also beruhigt schlafen.

Meine Lieblingsworte im Grundgesetz sind: »Kauffahrteischiffe« (Art. 27), »Jagdscheine« (Art. 72 Abs. 3), »Sprengstoffrecht« (Art. 73 Abs. 1 Nr. 12), »Spielhallen« (Art. 74 Abs. 1 Nr. 11), »Bergarbeiterwohnungsbaurecht« (Art. 74 Abs. 1 Nr. 18), »Vergleichsstudien« (Art. 91d), »Machtvollkommenheit« (Art. 104 Abs. 2) und »Biersteuer« (Art. 106 Abs. 2 Nr. 4). In Art. 143b Abs. 2 stehen drei Begriffe, die freilich von ganz besonderer Wichtigkeit sein müssen, denn es sind die einzigen drei Worte im Grundgesetz, die in Versalien geschrieben sind. Es sind die Worte »POSTDIENST«, »TELEKOM« und abermals »POSTDIENST«.

Die Quatschwendung »Verbrechen gegen die Menschlichkeit« hat es leider auch ins Grundgesetz hineingeschafft, nämlich in Art. 96 Abs. 5 Nr. 2. Eigentlich sollte sich inzwischen ja herumgesprochen haben, dass es sich hier um einen etwas niedlichen false friend handelt und »crimes against humanity« korrekterweise mit »Verbrechen gegen die Menschheit« zu übersetzen ist. Hannah Arendt hat in »Eichmann in Jerusalem« (10. Aufl., Piper 2014, S. 398f., Hervorhebungen im Original) schon alles gesagt, was dazu zu sagen ist: »Das den Nürnberger Prozessen zugrunde liegende Londoner Statut hat […] die ›Verbrechen gegen die Menschheit‹ als ›unmenschliche Handlungen‹ definiert, woraus dann in der deutschen Übersetzung die bekannten ›Verbrechen gegen die Menschlichkeit‹ geworden sind – als hätten es die Nazis lediglich an ›Menschlichkeit‹ fehlen lassen, als sie Millionen in die Gaskammern schickten, wahrhaftig das Understatement des Jahrhunderts.«

Insgesamt liest sich das Grundgesetz in kürzester Zeit weg, vor allem dank der erfreulich vielen Leerzeilen zwischen den ganzen Artikeln. So ungefähr in der Mitte scheint das Grundgesetz kurz an Spannung zu verlieren und ein bisschen dröge zu werden, aber dieser Schein trügt. Beispielsweise in Art. 61 geht’s darum, dass das Bundesverfassungsgericht den Bundespräsidenten des Amtes für verlustig erklären kann. Es wäre doch bombe, wenn dieser Fall einmal IRL eintreten würde. Da könnten Tom Tykwer und seine Buddys dann auch gleich ne superste Serie draus machen: »Babylon Karlsruhe«.

Länge des Buches: ca. 170.000 Zeichen. – Ausgaben:

Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland. Textausgabe mit Stichwortregister. Stand: Juli 2017. Herausgeber: Bundeszentrale für politische Bildung, Bonn. Redaktion: Dr. Birgitta Gruber-Corr, Dr. Miriam Shabafrouz. S. 3–144 (= 142 Textseiten).

[Dieses Buch erscheint anonym. Das ist logisch, da es permanent von unbekannten Gesetzgebern umformuliert wird. Die Erstfassung allerdings erstellten Frieda Nadig, Elisabeth Selbert, Helene Weber, Helene Wessel und 61 weitere Nasen.]

(Einführung ins 100-Seiten-Projekt hier. Übersicht über alle Bände hier.)


100-Seiten-Bücher – Teil 122
Albert Camus: »Der Fall« (1956)

München, 15. Oktober 2018, 02:01 | von Josik

Dieser superste Roman von Albert Camus besteht aus einem einzigen Laberflash, was der Ich-Erzähler oder Ich-Laberer auch ganz offen zugibt: »[I]ch schwatze Ihnen die Ohren voll«, sagt er gleich eingangs auf Seite 13. Und schon auf Seite 20 habe ich angefangen, den Übersetzer zu googeln, denn da steht: »[D]ie Habsucht […] hat mich immer gelächert

Auf Seite 89 steht: »Von diesem Gedanken zu dem Schlug, ich rufe die Gottheit nach Maßgabe meiner Unwissenheit an, war es nur ein kleiner Schritt.« Ich hatte kurz darüber nachgedacht, was das bedeuten soll. Von diesem Gedanken zu dem Schluss, dass es sich hier einfach um einen Druckfehler handelt, war es nur ein kleiner Schritt.

Auf Seite 104 liest man: »Aus seinem von mehrtägigen Bartstoppeln bedeckten Gesicht blickten verstörte Augen, auf seinem nackten Oberkörper perlte der Schweiß, seine Finger trommelten leise auf seine hervortretenden Rippen.« Man darf natürlich nicht glauben, dass Camus sich an der Stelle mit den »mehrtägigen Bartstoppeln« einen Stilmittelscherz à la »fünfköpfiger Familienvater« erlaubt hätte (Enallage genannt), vielmehr heißt es im Original ganz unverfänglich: »avec sa barbe de plusieurs jours«.

So was kann natürlich immer mal passieren und ist nicht schlimm. Ansonsten denke ich, dass man durch die genannten Beispiele insgesamt einen guten Eindruck vom Inhalt des Buches gewonnen hat.

Länge des Buches: ca. 208.000 Zeichen (dt.). – Ausgaben:

Albert Camus: Der Fall. Roman. Aus dem Französischen von Guido G. Meister. Reinbek: Rowohlt 2017. S. 3–121 (= 119 Textseiten).

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100-Seiten-Bücher – Teil 121
Simone de Beauvoir: »Mißverständnisse an der Moskwa« (1965/1992)

München, 21. Juni 2018, 14:12 | von Josik

So geht diese superste kleine Erzählung los: »Sie blickte von ihrem Buch auf. Wie langweilig, diese alte Leier über die Unzulänglichkeit, zu kommunizieren! Wenn einem was daran liegt, schafft man es schon recht und schlecht. Nicht mit jedem, zugegeben, aber mit zwei oder drei Personen.«

Die zwei Hauptpersonen hier heißen Nicole und André und sind ein französisches Intellektuellenpaar Anfang sechzig, man muss sich beim Lesen also wirklich krass anstrengen, in diesen beiden Personen zwei fiktionale literarische Figuren zu sehen und nicht ein Abziehbild von de Beauvoir und Sartre, und wem das gelingt, congrats!

Nicole und André reisen in die Sowjetunion, es handelt sich mithin um Science-Fiction, denn die Reise findet ausdrücklich erst im Jahre 1966 statt, de Beauvoir hat diese Erzählung aber bereits im Jahre 1965 verfasst. Mit Mascha fahren Nicole und André dann ein bisschen im Land herum, nach Wladimir, nach Leningrad, nach Pskow usw.

Die Gespräche zwischen André und Mascha drehen sich meist um Politik, um die Chinesen und so, dabei werden sehr authentische und zeitlos gültige Dialoge gehalten: »›Wie sieht dieses Jahr die Lage im Kulturbereich aus?‹ ›Wie immer, wir kämpfen‹ […]. ›Und ihr gewinnt?‹ ›Manchmal.‹«

Eines Abends saufen sich im Restaurant Baku alle ein bisschen dezent zu, und nachdem sie ausgeschlafen haben, kommt es zum Showdown: André sagt nämlich, dass sie ja nun zehn Tage länger als ursprünglich geplant in Moskau bleiben, Nicole aber ist außer sich, dass er mir ihr nicht darüber geredet hat. André hingegen ist sich tausendprozentig sicher, dass sie die Zehntageverlängerung gemeinschaftlich ausgemacht haben, nach dem kleinen Besäufnis im Baku. Nicole hinwiederum ist sich tausendprozentig sicher, dass er mit ihr darüber nicht geredet hat.

So schaukelt sich das ganze also krass hoch, Nicole zischt ab und säuft ein bisschen dezent weiter, es ist überhaupt sehr herrlich, wie dezent in dieser Erzählung in Mengen gesoffen wird, und es wird einem sehr gut das Gefühl vermittelt, dass man eigentlich erst dann intellektuell sein kann, wenn man ein bisschen dezent zugesoffen ist.

Nicole bekommt mittlerweile echte Hassattacken auf André, und André denkt den unfassbaren Satz: »[S]ie hat mich nie in Liebe geliebt«, und man wünscht den beiden so sehr, dass sie wieder zusammenkommen, dass sie sich wieder vertragen, dass sie sich wieder versöhnen. Ob sie das am Ende tun? Es wird spannend, bleiben Sie dran!

Länge des Buches: ca. 150.000 Zeichen (dt.). – Ausgaben:

Simone de Beauvoir: Mißverständnisse an der Moskwa. Eine Erzählung. Deutsch von Judith Klein. Mit einem Nachwort von Judith Klein. Reinbek: Rowohlt 1996. S. 3–82 (= 80 Textseiten).

(Einführung ins 100-Seiten-Projekt hier. Übersicht über alle Bände hier.)


Literatur

München, 1. Mai 2018, 22:00 | von Josik

Es wäre doch schön, wenn der Luchterhand Verlag bei allen künftigen Auflagen des Bestsellers »Leere Herzen« von Juli Zeh aufs Cover jenes Zitat setzen würde, das gerade zu diesem Roman abgeliefert wurde:

»Gut, das ist Literatur, damit muss man wohl leben.«
Sahra Wagenknecht

 


Einzelheiten

München, 13. Februar 2018, 15:33 | von Josik

Ok, also ich lese ja gerade diesen wunderbaren orangefarbenen Suhrkamp-Band aus dem Jahr 1980, »Leo Löwenthal: Mitmachen wollte ich nie. Ein autobiographisches Gespräch mit Helmut Dubiel«, und Helmut Dubiel stellt da die ganze Zeit interessante Fragen, und Leo Löwenthal gibt sehr interessante Antworten, aber dann, auf Seite 66, gibt es eine Stelle, von der ich und alle anderen sagen, dass wir da vor lauter Euphorie und Begeisterung geradezu Purzelbäume schlagen, denn der Interviewte, also Leo Löwenthal, erzählt zuerst noch ganz gemächlich

»von Horkheimers Anfänge der bürgerlichen Geschichtsphiloso­phie, die als Buch 1930 erschienen. Da habe ich auf seinen Wunsch eifrig mitgeholfen. Überhaupt ziehen sich wie ein roter Faden durch meine Geschichte mit dem Institut meine editorischen Aktivitäten. Ein großer Teil der Arbeit im Institut war 1929 – wie soll man sagen – strategischer Planung gewidmet. Wir waren erfolgreich, Horkheimer wurde Professor und Direktor des Instituts. Soll ich Einzelheiten erzählen?«,

und hierauf antwortet der Interviewer, also Helmut Dubiel, unfassbarerweise:

»Nein.«

 


Mein Sommer 2017

München, 18. September 2017, 11:03 | von Josik

Mit 212-jähriger Verspätung habe ich nun endlich Johann Gottfried Seumes Reisebuch »Mein Sommer 1805« gelesen. Menschenfreund Dickens hatte mir zur Lektüre zwar eigentlich Seumes Bestseller »Spaziergang nach Syrakus im Jahre 1802« empfohlen, aber Ödipus schnödipus, Syrakus schnyrakus, und deswegen hatte ich mich eben für »Mein Sommer 1805« entschieden.

Während wir also im EC 81 nach Bologna Centrale saßen, dort dann in den ES 9537 Richtung Napoli Centrale umstiegen und schließlich noch mit der Circumvesuviana weiterrollten, las ich ganz gemächlich, wie Seume genau in die entgegengesetzte Richtung ging bzw. fuhr: von Sachsen über Polen und Russland nach Skandinavien. Kurz nachdem er losgestiefelt ist, macht Seume in Dresden folgende Beobachtung: »[I]ch sehe jetzt nicht mehr so viele dumm-despotische vornehme Gesichter als ehemals.«

Die südländische Umgebung, in der ich mich schon bald befand, verwirrte mich etwas, denn in Gedanken war ich voll und ganz bei Seume im Osten. Wir waren inzwischen in der Torquato-Tasso-Stadt Sorrento angekommen und staunten die Villa an, in der Massimo Gorkij ein paar Jahre lang gelebt hat, wohingegen Seume mittlerweile in St. Petersburg angekommen war. Er saß dort eben in der guten Stube, als Friedrich Maximilian Klinger reinkam und sagte: »Kinder, Schiller ist tot.« Ich musste ein bisschen weinen.

Nun setzten wir über nach Capri, es war allerdings sehr windig, und auf dem ganzen Schiff gab’s eine große Kotzerei. In Capri liefen wir zum Lenin-Denkmal, ich knipste es, und wir fuhren wieder zurück nach Sorrento. Dort an der Marina Grande gibt es ein Lokal, das für sich mit dem Spruch wirbt: »DIES RESTAURANT WIRD EMPOHLEN VON TIM MÄLZER.«
 


Abenteuer mit Koni

Moskau, 10. Juli 2017, 21:59 | von Josik

Wir hatten uns an der Metrostation Baumanskaja mit Baumanski verabredet, dessen Nom de guerre ja von eben jenem revolutionären Bauman inspiriert ist, nach dem hier im Moskauer Osten viele Dinge benannt sind, etwa auch der Bauman-Garten, und in den gingen wir dann. Baumanski war ziemlich überrascht, dort einen Basler Springbrunnen vorzufinden, den die Stadt Basel den Moskauern geschenkt hatte. Dann aber, wie immer wenn man sich mit Baumanski trifft, kam die Rede irgendwie wieder ziemlich schnell auf Koni und auf die Frage, ob man ein literaturwissenschaftliches Instrumentarium entwickeln könnte, das die literarische Qualität von Schriftstellern direkt proportional zu ihrer persönlichen Hundeliebe misst. Der Gedankengang ist so:

Putins (1999 geborene und 2014 verstorbene) Hündin hieß Koni. Im Februar 2004 schenkte Putin dann dem damaligen österreichischen Bundespräsidenten Thomas Klestil und seiner Gattin Margot Klestil-Löffler zwei von Konis Kindern, nämlich Olga und Orchidea. Völkerverständigung at her best! Margot Klestil-Löfflers Landsfrau Elfriede Jelinek veröffentlichte auf ihrer Homepage zwei schöne Texte über ihre (am 17. Juni 2006 verstorbene) Hündin Floppy. Karl Kraus schreibt in der Fackel Nr. 376 auf Seite 25: »Woodie, ein kleiner Hund mit langen Haaren, den ich persönlich gekannt habe, er lachte, wenn die Menschen zu ihm sprachen, und weinte, weil er mit ihnen nicht sprechen konnte, und sein Blick war für sich und sie der Dank der Kreatur: ist von einem Automobil getötet worden.« In der Fackel Nr. 454 auf Seite 63 veröffentlicht Karl Kraus das berühmte Gedicht: »Als Bobby starb (22. Februar 1917)«, das mit den Worten beginnt: »Der große Hund ist tot.« In Kraus’ letztem Lebensjahr war sein Lieblingshund Rover, ein schwarzer Neufundländer, den er Sidonie Nádherný geschenkt hat (Rover, Sandy, Flock und Pyri waren ein »Hundeviergespann«). 1991 erschien bei de Gruyter eine Studie mit dem Untertitel »Zur Bedeutung der Neufundländer in Fontanes Romanen«. Auch die Hundeliebe Schopenhauers, des bedeutendsten philosophischen Literaten aller Zeiten, ist sprichwörtlich. Friedrich Theodor Vischer hat den Hunden in seiner 600-seitigen Novelle »Auch Einer« ein Denkmal gesetzt. Salomon Maimon brachte seine Lieblingshündin Belline in die Berliner Salons mit und wollte ihr seine Bibliothek vermachen. Praktisch alle der erwähnten Personen sind superste Schriftsteller, und sie alle zeichnen sich durch ihre Hundeliebe aus – aber wie bringt man das theoretisch zusammen?

Darüber diskutierten wir endlos, und über dieser Diskussion waren wir mittlerweile aus dem Bauman-Garten heraus- und vor dem Club-Café Koni in der Novaya Basmannaya angekommen, das nur einen Knochenwurf entfernt liegt. Das Club-Café Koni war allerdings nicht nach Putins verstorbener Labradorhündin benannt, sondern nach dem Juristen Anatolij Fjodorowitsch Koni, der selber ein großer Hundefreund war, wie man gut an dem Foto sehen kann, das in Sergej Vysockijs Koni-Biografie aus dem Jahr 1988 zwischen den Seiten 64 und 65 abgebildet ist und auf dem Koni sich zusammen mit dem Hund Mirsa hat ablichten lassen. Leider hatte das Club-Café Koni geschlossen.

Man konnte aber durch die Fensterscheiben des Club-Cafés Koni kucken und erkennen, dass es innen sehr gut aussah, auf einem der Tische stand sogar eine noch nicht vollständig ausgelöffelte Tasse Tee. Wir aßen schnell woanders zu Mittag, und zwar auf der Terrasse eines nahen ukrainischen Restaurants. Und fuhren dann schließlich mit einem Yandex-Taxi zum weltweit einzigen Koni-Denkmal, vor der soziologischen Fakultät der Lomonossow-Universität.

Wir ließen das Taxi etwas zu früh halten, um der grässlichen russischen Popmusik zu entfliehen, die im Taxi lief und die gefährliche Ohrwurmqualitäten hatte. In einem Fußgängertunnel kauften wir ein paar frische Erdbeeren und aßen sie alle auf, während wir in die Richtung gingen, wo wir das Koni-Denkmal vermuteten, bis wir plötzlich da waren. Koni wurde in seinem Denkmal allerdings ohne Hund gebildhauert (dafür aber mit einem Gesetzbuch).

So verging dieser herrliche Tag, mein letzter vor der Rückreise nach München. Am nächsten Vormittag gab’s noch Frühstück bei Paco zuhause, und weil Paco zum Frühstück immer leise Ö1 hört, hörte auch ich leise Ö1 mit. Unmittelbar nachdem Paco das Internetradio angeknipst hatte, hörten wir als erstes einen merkwürdigen Satz, der ungefähr wie folgt lautete: »Ich finde Bürgerkrieg gut.« Ich nahm mir vor, zuhause noch mal nachzuhören, worum es hier eigentlich ging, habe das dann aber natürlich nicht getan.

Paco bestellte mir ein Yandex-Taxi, das mich zum Edward-Snowden-Flughafen Scheremetjewo bringen sollte. Fünf Minuten später stand das Taxi vor der Tür. Der Taxifahrer war anfangs leicht überfordert und meinte, er sei bisher noch nie nach Scheremetjewo gefahren, dafür brauche man eigentlich erfahrene Chauffeure, aber er habe die Anfrage ja nicht ablehnen können. Ich sagte in bestem Merkel-Russisch: »Успеем« (»Wir schaffen das«), da war er irgendwie beruhigt. Er fragte mich, ob ich Radiomusik wünsche, ich sagte: »Как хотите« (»Wie Sie mögen«). Er sagte, er möge lieber Ruhe, also lauschten wir weder schlimmem russischem Ohrwurmpop noch Ö1, womit ich als Bürgerkriegsgegner sehr einverstanden war, ich finde Bürgerkrieg nämlich wirklich nicht gut.
 


»Lehman Brothers«

München, 12. Februar 2017, 23:05 | von Josik

Nach Regensburg! Nach Regensburg! Die gesamte Regensburger Politprominenz befindet sich gerade in Untersuchungshaft, was Jonesy und ich zum Anlass nahmen, mal nach Regensburg zu fahren, und außerdem hatten wir ja auch Karten für die Premiere von Stefano Massinis Stück »Lehman Brothers« am vorvergangenen Samstag im Regensburger Velodrom.

Mithilfe des sogenannten Servus-Tickets zuckelten wir also nach Regensburg, wobei ich mir als Zug- und Zuckellektüre »Das Rote Rad« von Alexander Solschenizyn, genauer gesagt, den ersten Teil von »März siebzehn« eingepackt hatte. Die ersten paar tausend Seiten des »Roten Rads« hatten mich ja ein bisschen gelangweilt, aber mittlerweile war ich eben bei den Mittagsstunden des 12. März 1917 angelangt und es wurde bereits wahnsinnig viel geballert, und ich wusste ja, dass heute abend, am 12. März 1917, also schon in wenigen hundert Seiten, ganz Petrograd in den Händen der Aufständischen sein würde, die Zeit verging jetzt also wie im, hehe, Zug.

Eine Spannung ganz eigener Art, denn natürlich ist es ja immer noch ein historischer Roman, und die Spannung war, versteht sich, nicht der Art, dass ich fieberte, ob der Zar am Ende es vielleicht doch noch irgendwie schaffen wird, vielmehr schildert Solschenizyn an diesem 12. März einfach sehr viel Geballer, und es war irgendwie geil, von diesem Geballer zu lesen, es war nun wie ein Ballerfilm, nur eben in Form von Literatur.

In Regensburg angekommen, war ich dann ungefähr eine Sekunde lang erstaunt, dass die Stadt so friedlich dalag, bis mir klar wurde, dass hier ja grade keine Revolution im Gange war, sondern das genaue Gegenteil von Revolution, nämlich real life. Auf dem Weg zu unseren Regensburger Stadtführern kamen wir dann auch gleich am Schloss vorbei, Fürstin Glorias mutmaßlichem Erstwohnsitz, und es war doch ein ziemlicher Schock zu erfahren, dass man als gemeiner Pöbel das Schloss gar nicht von vorne sehen kann.

Nun waren es immer noch ein paar Stunden, bis das Theaterstück losging, also starteten unsere Stadtführer ihre kleine Stadtführung, und als erste Sehenswürdigkeit wurde uns überraschenderweise das Haus gezeigt, in dem Bischof Tebartz-van Elst wohnt. Ich meinte mich dunkel erinnern zu können, irgendwo gelesen zu haben, dass Tebartz-van Elst in den Vatikan abgeschoben wurde und dort nun den Posten eines Aushilfsvorbeters oder sowas bekleidet, aber dass Tebartz-van Elst nunmehro auch in Regensburg residiert, war bisher irgendwie an mir vorbeigerauscht.

Punkt 2 der Stadtführung stand eigentlich nicht auf der Liste, aber als wir an einem sehr stylishen Waschsalon Obermünsterstraße Ecke Soundsostraße vorbeiliefen, hörten und sahen wir, dass innen im Waschsalon, mitten im Raum, eine Cellistin ein Stück probte! Wir überschlugen uns vor Begeisterung und wiesen auf diesen Anblick auch einige Umstehende hin, die wir für Eingeborene hielten und die wir fragten, ob es in Regensburg denn ganz normal ist, dass an einem frühen Samstagabend mitten in einem sehr stylishen Waschsalon eine Cellistin ein Stück probt. Die Antwort war: Nein.

Unsere Stadtführer schlugen nun vor, dass wir das Abendessen in einem kurdischen Lokal namens »Schwedenkugel« einnehmen sollten, leider war dieses Restaurant aber zu weit weg und deswegen war nicht mehr genug Zeit, dorthin zu laufen, denn das Theaterstück ging ja bald los, aber essen wollten wir vorher unbedingt noch was, und so gingen wir eben in die Spaghetteria, vor der wir zufällig gerade standen, und bestellten das sogenannte Nudelabenteuer. Auf der Speisetafel stand auch folgender toller Satz: »Akademisches Nudelabenteuer – nur montags außer feiertags«.

Im Lokal befanden sich jedenfalls außergewöhnlich viele Hunde, darunter auch ein Shiba Inu, während wir doch eigentlich nur in Ruhe ein paar Spaghetti verspeisen wollten. Danach sprinteten wir zum Velodrom, nun ging endlich das Stück los! Aber ach, eine Frau in Reihe 17 bekam einen entsetzlichen Schluckauf. Aus den Augenwinkeln nahm ich wahr, wie die Leute sich zu der Frau in Reihe 17 umdrehten, und man konnte sich wohl ausrechnen, dass sie ihr böse Blicke zuwarfen, aber diese Böseblickezuwerferei war natürlich völlig sinnlos, denn es war ja klar, dass die arme Frau in Reihe 17 gar nichts für ihren Schluckauf konnte, und wenn sie rausgegangen wäre, hätte sie ja noch viel mehr Unruhe in den Reihen verursacht, also konnte sie im Prinzip ja nur sitzenbleiben und warten, bis ihr Schluckauf vorbeiging, was nun zwar auch keine besonders tolle Alternative war, aber in Anbetracht aller anderen Möglichkeiten doch eigentlich immer noch die beste.

So richtig konzentrieren auf das Bühnengeschehen konnte man sich während dieses nicht enden wollenden Schluckaufs aber auch nicht, ich versuchte es trotzdem, ich versuchte mir irgendwie einzureden, dass dieser Schluckauf einfach Teil der supersten Bühnenmusik des supersten Thies Mynther sei, ich stellte mir vor, dass Thies Mynther hier krasse Schluckaufsounds designt hatte, aber so ganz gelang mir die Illusion nicht, denn die Bühnenmusik kam ja nun mal von vorne und von der Seite, der Schluckauf aber kam eindeutig von hinten. Kurz nachdem der Schluckauf der Frau in Reihe 17 zu Ende war, war plötzlich auch das Stück zu Ende, jetzt wäre es natürlich egal gewesen, jetzt hätte die Frau in Reihe 17 ruhig weiter ihren Schluckauf vor sich hin hicksen können, denn in dem tobenden Applaus, der nun einsetzte und noch lange nicht abebbte, hätte man diesen Schluckauf ja ohnehin nicht mehr gehört.

Als der Applaus dann doch irgendwann abebbte, gingen wir noch auf die Premierenparty im ersten Stock, und da sahen wir, wie sich am Buffet grade Ulrich Matthes, der Ulrich Matthes, zu schaffen machte. Also konnten die Regensburger doch einen Prominenten auftreiben, der nicht in Untersuchungshaft war. Ich ging dann zum Regisseur, von dem ich wusste, dass er juristisch beschlagen ist, und gab ihm als Premierengeschenk Professor Wolfgang Schilds kleine Broschüre »Verwirrende Rechtsbelehrung. Zu Ferdinand von Schirachs ›Terror‹«, die ich extra mitgenommen hatte und die Professor Heribert Prantl vor einiger Zeit in der S-Zeitung so überschwenglich gelobt hatte und auf die auch der aus dem vorletzten »Spiegel« bekannte Professor Thomas Fischer schon einmal öffentlich Bezug genommen hat.

Am nächsten Morgen beim Frühstück im Café Lila sahen wir sogar wieder Leute, die wir auch im Theater gesehen hatten. Am Tresen im Café Lila lungerten zwei junge Männer Anfang zwanzig herum und soffen schon um halb zehn Uhr morgens ihr Bier, und während Junger Mann 1 auf Toilette war, kippte Junger Mann 2 in das Bierglas von Junger Mann 1 etwas Salz. Als Junger Mann 1 aber wieder zurückkam und sein Bier weitertrank, merkte er nicht mal, dass es gesalzen war. Der Streich ging nach hinten los, alles blieb völlig friedlich, und deswegen hatte ich dann bei der Rückfahrt auch keine rechte Lust, Solschenizyns Revolutionsepos weiterzulesen, sondern vertiefte mich in die Lektüre der aktuellen Ausgabe (No. 169 – Februar 2017) des irgendwo rumgelegen habenden und von uns mitgenommenen Regensburger Stadtmagazins »filter«. Klar, wenn das Wiener Stadtmagazin »falter« heißt, wieso sollte sich dann das Regensburger Stadtmagazin nicht »filter« nennen. Auf Seite 46 war den Redakteuren aber irgendwie was verrutscht, denn dort stand und steht folgendes, ich zitiere in voller Länge:

»04.02.
›Lehman Brothers – Aufstieg und Fall einer Dynastie‹.
Die ultimative Stammgast-Party. Von 21 bis 23 Uhr heißt es ›friends only‹ – alle offenen Getränke gibt es for free. Wie das klappt? Sichere dir jetzt deinen Platz auf der Gästeliste. Frag einfach bei dem/der BEATS-Baarkeper/in deines Vertrauens nach.
Wann: 19.30 Uhr.
Wo: Velodrom.«


Kammerspiele

München, 6. Januar 2017, 16:05 | von Josik

Es war eine sternenklare Nacht. Im Zentrum von München sah man davon natürlich rein gar nichts, aus Feinstaubgründen, aus Nebelgründen und wegen dem ganzen anderen Schmodder. Ich hatte mich mit Don Ron um viertel vor sieben am Eingang der Kammerspiele verabredet. Beide hatten wir einen langen Arbeitstag hinter uns, deswegen konnten wir vorher kein Bier mehr trinken gehen, sondern kamen direkt von der Arbeit. Nun aber wollten wir endlich das tun, worauf wir uns schon seit Monaten gefreut hatten: »Wut« von Elfriede Jelinek sehen, in der Inszenierung von Nicolas Stemann.

Im Foyer der Kammerspiele dann: eine Schulklasse! Welcher Deutschlehrer bitteschön schleift denn eine Schulklasse in eine Jelinek-Inszenierung hinein? Noch dazu eine Inszenierung, die vier oder fünf Stunden dauert? Nun, vielleicht verehrte dieser Lehrer Jelinek ja genauso wie ich, vielleicht war er, genau wie ich, der Meinung, dass Jelinek die Literatur revolutioniert hat wie seit Goethe niemand mehr. Goethe, Jelinek, die ganze Literatur dazwischen war im Prinzip uninteressant.

Mein Namensvetter Josik von Sonnenfels musste damals vor zweieinhalb Jahrhunderten seine Wiener Zeitschrift »Der Mann ohne Vorurtheil« nennen, unter mir als seinem sozusagen Nachfahr würde sie heute »Der Mann mit Vorurtheil« heißen. Denn ich horchte in mich hinein und wurde gewahr, was ich fühlte, nämlich dass ich diese Schulklasse schon jetzt durchaus hasste. Aus Erfahrung wusste ich ja, wie sich diese Siebzehnjährigen im Theater traditionellerweise verhalten, wie sie kichern und wie sie stören, wie sie schwätzen und wie sie mit Bonbonpapierchen rascheln, wie sie pausenlos WhatsApp-Nachrichten mit viel zu vielen Emojis schreiben und wie sie den Zuschauerraum mit ihren Displays beleuchten.

Der Zuschauerraum selbst war überraschend leer: Die Schulklasse mit ihrem wahnsinnigen Lehrer nahm Platz, eine Handvoll Schwabinger Schreckschrauben, außerdem ein paar versprengte Gestalten sowie Don Ron und ich. Seltsam, die Kammerspiele waren doch in aller Munde? Christine Dössel hatte in der S-Zeitung eine interessante Kampagne zu den Kammerspielen vom Zaun gebrochen, und ich hatte gedacht, dass das die Zuschauerzahlen wieder enorm in die Höhe treiben würde. Anscheinend war aber heute abend das Gegenteil eingetreten?

Nicolas Stemann kam auf die Bühne, gab den Conférencier und meinte, es gebe keine Pause, zu einem gewissen Zeitpunkt würden aber die Lichter im Saal angehen und man könne gerne rausgehen und sich was zu essen und zu trinken mit reinnehmen, solle dabei bitte auf die Kissenbezüge achten, das kenne man ja von zuhause, und unterdessen werde auf der Bühne freilich weitergespielt werden, und die Szenen, die während der Pause, die ja gar keine Pause ist, gespielt würden, seien nicht die schlechtesten, außerdem sei das Stück, das Jelinek bekanntlich anlässlich des Anschlags auf »Charlie Hebdo« geschrieben hat, schrecklicherweise immer aktueller geworden.

Diese Ansage versprach schon mal nichts Gutes: Wenn das Stück so aktuell ist, wie der Regisseur sagt, dann würde man das doch von selbst merken, wozu also hob Stemann das eigens hervor? Dass wir uns in der Pause, die ja gar keine Pause war, keine Fressalien zu holen brauchten, war auch klar, u. a. deswegen, weil ich ohnehin schon Lebkuchen im Gepäck hatte und eine Flasche Moskovskaja, die ich neulich bei einer Wette gegen Don Ron verloren hatte. Ich hatte behauptet, dass Donald Trumps aktuelle Frau aus der Slowakei stamme, aber das war natürlich Unsinn, denn sie stammt ja aus Slowenien. Dass Donald Trumps erste Frau nicht aus Slowenien, sondern aus der Slowakei stammte, half mir logischerweise nichts.

Dann ging das eigentliche Stück los. Man muss leider sagen, dass es gerade am Anfang ziemlich schlecht war. Einige Zeit darauf war es glücklicherweise schon mittelmäßig, und kurz vor der Pause, die ja gar keine Pause war, wurde es sogar beinahe gut. Stemann hatte also wahrscheinlich recht mit seiner Ansage, dass die Szenen, die während der Pause, die ja gar keine Pause war, gespielt werden, nicht die schlechtesten sind.

Man konnte sich sehr gut ausrechnen, wie es weitergehen würde: Nach der Pause, die ja gar keine Pause war, musste die Inszenierung brillant werden, einige Zeit darauf perfekt und am Ende genial! Die Strategie dahinter verstand ich leider nicht. Wäre es im Interesse der Zuschauer nicht umgekehrt sinnvoller gewesen, man hätte mit den genialen Passagen angefangen, dann zu den perfekten und brillanten übergeleitet, und die mittelmäßigen und schlechten einfach gestrichen?

Ich war aber auch ziemlich verstört, weil die Schulklasse absolut aufmerksam war. Wahrlich, man konnte sich keine aufgeschlosseneren, interessierteren und lautloseren Theaterzuschauer als diese Schüler wünschen. Wie war das möglich? Ist Jelinek inzwischen bayerischer Eliteabiturstoff? Und war dieser Theaterbesuch der vollgültige, pragmatische und ja auch einzig mögliche Ersatz für die Lektüre des Stücks? Es war ja klar, dass kein Schüler das Jelinek-Stück gelesen haben konnte. Das Stück steht frei und kostenlos verfügbar auf Jelineks Homepage, aber wenn man nur mal bis zum Ende dieses Stücks runterscrollte, dauerte dies drei Wochen, und wenn man das Stück ausdruckte, brauchte man dafür fünfhunderttausend Blatt.

In der Pause, die ja gar keine Pause war, schlichen Don Ron und ich uns raus, da wir ja noch ein Bier trinken gehen wollten. Nach dem Ende des Stücks wäre es dafür natürlich zu spät gewesen. Außerdem schmerzten unsere Knie, da die Stuhlreihen in den Kammerspielen so dicht beieinander stehen, dass es sogar jemand wie ich, der weiß Gott nicht hoch gewachsen ist, dort nicht lange aushält – anthropologisch gesehen ist der Selbsterhaltungstrieb am Ende dann doch stärker als die Jelinekverehrung.

Wir gingen also ins Conviva, bei den Kammerspielen um die Ecke. Am Nebentisch saß eine stadtbekannte Literaturagentin. Don Ron bestellte ein kleines Bier, ich bestellte ein großes Wasser. Wir sprachen über die soeben gesehene erste Hälfte der Inszenierung, waren aber etwas ratlos. Wäre es vielleicht doch besser gewesen, das Stück vorher auf irgendeine noch zu erfindende Weise zu lesen? Am selben Abend hätte es in einer Außenstelle des Lyrikkabinetts laut Programm auch eine Veranstaltung gegeben, in der diverse Gedichte und Lyrikübersetzungen der von Suzan Kozak, Karin Fellner und Tristan Marquardt angeleiteten Teilnehmerinnen und Teilnehmer der Sammelkurse Türkisch Q11 und Q12 vorgestellt wurden. Vielleicht hätten wir lieber dorthin gehen sollen?

Aber es half ja nichts, wir mussten nach vorne blicken. Die stadtbekannte Literaturagentin ging an unserem Tisch vorbei, auf die Toilette. Don Ron erzählte von der großen Jürgen Kuttner’schen Videoschnipsel-Party, die er wenige Tage zuvor in der Volksbühne in Berlin miterlebt hatte, und dass dort der bekannte Wahlkampfsong von Joseph Beuys »Wir wollen Sonne statt Reagan« nicht, wie sonst immer, am Ende vorgespielt worden war, sondern gleich ganz am Anfang. Das überraschte mich nun sehr.

Die Bedienung brachte eine 0,75l-Flasche Wasser und ein 0,25l Glas Bier. Uns traf beinahe der Schlag. In der ganzen Welt versteht man unter einem »großen Wasser« ein 0,4- oder 0,5l Glas Wasser, aber doch keine 0,75l-Flasche! Und in der ganzen Welt versteht man unter einem »kleinen Bier« in etwa ein 0,33l-Bier, außer natürlich in solch lächerlichen und kulturlosen Verwaltungseinheiten wie Köln oder so (no offence!).

Juristisch gesehen hatten wir keine Chance: Ich hatte ein großes Wasser bestellt und ein großes Wasser bekommen, wenn auch ein sehr großes, Don Ron hatte ein kleines Bier bestellt und ein kleines Bier bekommen, wenn auch ein sehr kleines. Zusätzlich hatte mich nun eine große Unruhe erfasst, weil die stadtbekannte Literaturagentin nach vielleicht vierzig Minuten noch immer nicht von der Toilette zurückgekommen war. None of my business natürlich, aber ich machte mir irgendwie langsam Sorgen.

Don Ron hatte sein mit dem menschlichen Auge kaum sichtbares Bier längst ausgetrunken, ich meinen gefühlten Maßkrug Wasser mittlerweile auch. Es war Zeit zu gehen. Wir verabschiedeten uns, und ich machte mich über die menschenleere Maximilianstraße gedankenverloren auf den Heimweg. Obwohl ich nicht Pokémon spiele, ging ich wie immer zu Fuß. Wenn alles nach Plan läuft, werden Don Ron und ich uns in den Kammerspielen demnächst die zweite, die geniale Hälfte von »Wut« ansehen, worauf ich mich schon riesig freue.