Wo hier zuletzt von vielen 100-Seiten-Büchern die Rede war, bin ich ja fast stolz, einen kapitalen Neunhundertseiter geschafft zu haben. In neun zähen Monaten übrigens: never ever so lange an einem Buch gelesen! Immerhin hätte ich in der gleichen Zeit mit Pacos Rechnung neun Hundertseiter erlesen und erleben können, und einen fürstlichen hatte ich ja auch.
Trotzdem – für keinen »Zauberberg«, keine »Buddenbrooks« und keinen »Mann ohne Eigenschaften« hab ich je so lang gebraucht wie für den »Grünen Heinrich«. Warum eigentlich?
Vielleicht, weil Gottfried Keller ein dermaßen behäbiges Erzähltempo vorlegt, dass man ihn für unter zwei Stunden erst gar nie in die Hand nehmen mochte. Ein echtes Slow-Motion-Buch: bitte immer recht laaangsam in den Modus der Langstreckenlektüre switchen, der dann aber – so muss sich ein Marathonläufer nach der kritischen Phase fühlen – umso mehr Leseendorphine freisetzt.
Übrigens. Auch wenn Matthias Matussek den grünen Heinrich »nicht als Muttersöhnchen« in Erinnerung hat – ein »mammone« nach allen Regeln der finanziellen Unselbständigkeit ist Heinrich Lee schon. Ohne Muttis Sofortkredit geht in der Ferne entweder wenig – oder alles schief. Und wie er dann nach Zürich zurückkehrt und per Zufall auf Muttis eigener Beerdigung landet – fast schon tragisch. Eher plump kommt Heinrichs eigener Tod:
933 Seiten lang tritt Keller seinen unreifen, (hallo Farbmetaphernfreunde!) »grünen« Helden erzählerisch breit (zumindest in meiner Reclam-Ausgabe), um ihn dann auf der 934. und letzten Seite binnen drei Zeilen einfach wegsterben zu lassen: Das ist schon ein fieses Finish – auch für den Leser, der bis hierher durchgehalten hat. An dieser Stelle wäre mit Lorenz Jäger zu sagen: Beim »Grünen Heinrich« öfter mal die Zweitfassung zu kaufen versuchen! In ihr stirbt Heinrich nicht. Dafür badet in ihr aber auch Judith nicht mehr nachts im Fluss wie noch im »Grünen Heinrich 1.0« von 1854/55. Überhaupt scheint sich Keller als Staatsschreiber von Zürich für seine erotischen Tagträume zunehmend geschämt zu haben, weswegen, so Jörg Drews im Nachwort, die zweite Fassung von 1879/80 auch »die kastrierte« heißen könne.
Wie kam ich eigentlich zum »Grünen Heinrich«? Im Grunde habe ich mich durch billigstes Regionalmarketing korrumpieren lassen, fing mit dem Lesen quasi nur an, weil gleich das erste Kapitel, das ich mal in einer Bahnhofsbuchhandlung angelesen hatte, meine Hometown so nett und ideell in die Ehrenliga der schönsten Schweizer Städte hebt, »welche an einem See und einem Flusse zugleich liegen«: »Zürich, Luzern, Genf; auch Konstanz gehört gewissermaßen noch zu ihnen«. Keller, das wusste ich seit »Hadlaub«, hat ein Herz für Konstanz.
Putsch – wer hat’s erfunden?
Und wo wir schon bei Städtekunde sind. Auf Seite 920 des »Grünen Heinrichs«, ich bin quasi schon im Zieleinlauf (die letzten Seiten dicker Bücher lese ich notorisch unkonzentriert, weil ich mich, statt auf den gebotenen Inhalt zu achten, einerseits freue, dass es gleich zu Ende geht, und andererseits, siehe Leseendorphine oben, absurderweise doch denke: schade eigentlich, jetzt hättest du Kondition für mehr!), auf Seite 920 also lese ich:
»Das Wort Putsch stammt aus der guten Stadt Zürich, wo man einen plötzlichen vorübergehenden Regenguß einen Putsch nennt (…)« – in einem übertragenen Sinne aber auch »jede närrische Gemüthsbewegung, Begeisterung, Zornigkeit, Laune oder Mode«.
Heinrich kehrt nach sieben Jahren Deutschland gerade in die Schweiz zurück und landet in der Zeit der »blutigen oder trockenen Umwälzungen, Wahlbewegungen und Verfassungsrevisionen, die man Putsche nannte«:
»Da nun die Züricher die ersten waren, die geputscht, so blieb der Name für alle jene Bewegungen und bürgerte sich sogar in die weitere Sprache ein, wie Sonderbündelei, Freischärler und andere Ausdrücke, die alle aus dem politischen Laboratorium der Schweiz herrühren.«
Das Meretlein
Außer »Putsch« wird »Meretlein« der zweite Begriff sein, den ich mit dem »Grünen Heinrich« verbinde. Luisa machte mich erst drauf aufmerksam, ich hatte die Passage schon im Januar gelesen und gar nicht mehr präsent. Aber, das gehört dann wohl zum Lektüremodus dicker Bücher: Einen Hunderseiter hat man längst gegen den nächsten eingetauscht, in einem Neunhundertseiter blättert man halt zurück, wenn jemand sagt: »Du liest gerade Z? Darin kommt doch XY vor?« – »Ach, echt jetzt?«
Das Meretlein steht für eine wirklich fiese Geschichte in der Geschichte. In meiner Reclam-Ausgabe beginnt sie auf Seite 89 unten, mit einer verwitterten Grabplatte aus dem Jahr 1713: »Die Leute nannten diesen Platz das Grab des Hexenkindes.«
Meretlein war auffällig geworden, weil es »erwachsene Mannspersonen verführt und es ihnen angethan« hätte. Tatsächlich hatte es schon als Kleinkind Angst, »wenn man es in die düstere, kalte Kirche brachte, wo es sich vor dem schwarzen Manne auf der Kanzel zu fürchten vorgab«.
Das arme, auf den rechten Gottesweg zu bringende Mädel wird im Alter von sieben Jahren Pflegekind des Pfarrers. Noch Generationen später hängt im Pfarrhaus »ein altes dunkles Ölgemälde, das Bildniß dieses merkwürdigen Kindes enthaltend. (…) In seinen Händen hielt das Kind den Totenschild eines andern Kindes und eine weiße Rose.«
Nun sagt es sich so schnell: Hexenkind war wahrscheinlich nur ein anderes Wort für Missbrauchsfall und Pädophilie. Keller wird an keiner Stelle explizit, er macht das wirklich nur durchs Erzählen, ein bisschen aus dem Volksmund, ein bisschen aus den Pfarrhausprotokollen über Teufelsaustreibungsaktionen zitierend:
»der kleinen Meret (Emerentia) ihre wöchentlich zukommende Correction ertheilt und verscherpft, indeme sie nackent auf die Bank legte (…), nicht ohne Lamentiren und Seufzen zum Herren, daß Er das traurige Werk zu einem guten Ende führen möge.« (S. 92)
Mit dem Meretlein embeddet der »Grüne Heinrich« eine Geschichte, die finsterste Priklopil-Elemente (die dunke Speckkammer!) mit Zombie-Magie wie aus Gotthelfs »Schwarzer Spinne« verbindet. Wer wegen Kellers gelegentlicher Langatmigkeit vergessen sollte, wie ungeheuerlich dieser »Shakespeare der Novelle« (Paul Heyse) erzählen kann, der blättere zur kleinen Meret. Also, wenn man gerade mal keine neun Hunderseiter zur Hand hat, kann man auch den »Grünen Heinrich« lesen.