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Vossianische Antonomasie (Teil 6)

Konstanz, 17. August 2009, 10:55 | von Marcuccio

 

  1. der Usain Bolt der deutschen Dax-Vorstände
  2. der Joschka Fischer der Linkspartei
  3. der Maverick unter den Meinungsforschungsinstituten
  4. die Pythia vom Bodensee
  5. der Napoleon unter den Buchhändlern

 

Alles aus der gestrigen FAS, außer Nr. 30,
die stand schon am Donnerstag in der FAZ.

 


Der Feuilletonforscher Peter Glotz

Konstanz, 15. August 2009, 12:00 | von Marcuccio

Die »Rezensionsfriedhöfe« werden 40. Ja, sie haben ein Geburtsdatum und wurden damals ans Licht der Welt gebracht in:

Peter Glotz und Wolfgang Langenbucher: »Der mißachtete Leser«,

einem Klassiker der empirischen Feuilletonforschung, erschienen 1969. Die einen feiern Woodstock, die anderen rocken für ein Feuilleton, das endlich auch mal den Facharbeiter interessieren soll. Und prägen ganz nebenbei das geflügelte Wort von den Rezensionsfriedhöfen:

»Unsere Literaturseiten sind häufig Rezensionsfriedhöfe.« [*]

Ein schönes Wort, obwohl es eigentlich ein Lästerwort gegen die Sache ist, also unsere guten Buchmesse-Beilagen zum Beispiel. Glotz war damals wirklich der erste, der auszählte: »55 Rezensionen, aber nur vier Interviews, vier Reportagen, drei Kurzberichte« (zu Uwe Johnsons »Zwei Ansichten«) usw.

Glotz war auch der wahrscheinlich einzige SPD-Bundesgeschäftsführer ever, der etwas zu Wilmont Haacke zu sagen wusste (vgl. seine Diss.: »Buchkritik in deutschen Zeitungen«. Hamburg 1968). Fast vier Jahre ist der Bildungsberserker schon tot. Es gab damals einen sympathi­schen Nachruf von Nils Minkmar in der FAS, geschrieben mitten im Schröder-Aufholwahlkampf-Sommer 2005.

Wird es jemals wieder eine SPD-Feuilletonforschung geben?

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[*] Peter Glotz / Wolfgang Langenbucher: Der mißachtete Leser. Zur Kritik der deutschen Presse. Berlin (und noch nicht Köln!): Kiepenheuer & Witsch 1969, S. 91.


Vossianische Antonomasie (Teil 5)

Konstanz, 3. August 2009, 23:27 | von Marcuccio

 

  1. die Milva der deutschen Literatur
  2. der Schäfer-Gümbel der Bundespolitik
  3. der Fontane der DDR
  4. der Heath Ledger der Krimi-Autoren
  5. der Wilhelm Tell des Katholizismus

 


Antony Gormley und die turnenden Senioren

Bregenz, 30. Juli 2009, 01:15 | von Marcuccio

Kunsthaus Bregenz. Anders als bei Jan Fabre sind die Pissoirs im Untergeschoss diesmal kein Teil der Ausstellung. Dass wir zur Antony-Gormley-Werkschau trotzdem in den Keller gerufen werden, hat den Grund, der gerade auf Krücken hereinhumpelt.

Der Kurator legt sein eingeschaltes Bein auch gleich auf einen Stuhl und mit der Power-Point-Führung los: »Mir ist da leider ein Missge­schick passiert …« Derweil auf dem Beamer, hehe: »Body« und »Fruit«, Gormleys 6- bzw. 1,25-Tonner bei ihrer Anlieferung ins Erdgeschoss des KUB. Das war jetzt sozusagen der Humortest und natürlich gleich das perfekte Stichwort zum Thema.

Über 100 Tonnen Ausstellungsmaterial wollen nämlich erst mal unfallfrei installiert sein. Neben den beiden Planeten im Erdgeschoss sind dies im 1. OG:

»Allotment« – Es geht um die kleinstmögliche Architektur für einen Menschen. Dafür hat Gormley 300 Einwohner von Malmö vermessen, um ihnen mit einem Betonmantel genau den Raum zu schaffen, der ihnen vom Körpervolumen her zusteht. Auf diese Weise sind 300 passgenau personenbezogene Bunker entstanden, individuelle Beton-Löcher inklusive. Denn Gormley hat jedem Malmöer auch die Löcher vermessen – also Ohren, Mund, Genitalöffnung und Anus – und wieder hat der Kurator die Lacher auf seiner Seite, als er das »very british« nennt. Optisch schaut das Ganze wie eine Mischung aus Stelenfeld und Plattenbausiedlung aus.

Im 2. OG: »Clearing« – Ein wirres, 12 Kilometer langes Stahlbandknäuel durchzieht die ganze Etage – eine Art dreidimensionale Raumzeichnung, die man begehen kann – und sogar muss, um zur Treppe ins 3. OG gelangen:

»Critical Mass«. Hängend, hockend, liegend: 60 schwarze Gormleys in verschiedenen Körperpositionen. Auf Fotos sahen sie immer aus wie Knet- oder Lakritzfiguren, in Echtgröße haben die je 650 kg Volleisen schon noch mal eine andere Präsenz im Raum, zumal da, wo sie sich so massengrabmäßig anhäufen. Ein wenig erinnert die Szenerie auch an die gespenstischen Gipsabgüsse von Pompeji.

Und: Manche der Gormleys lösen bei manchen Besuchern gymnastische Mimikry aus. Als sich zwei rotbäckige Mittfünfzigerinnen neben uns plötzlich auf den Boden legen und zur Kerze ansetzen, sieht das zwar ein bisschen nach Seniorenturnen ohne Matte aus. Aber, keine Frage, auch das eine raumgreifende kritische Masse.


Carl Seelig und Robert Walser auf Badetour

Konstanz, 24. Juli 2009, 06:43 | von Marcuccio

Solange ein Carl Seelig tatsächlich noch keinen eigenen Wikipedia-Eintrag hat, werden wir hier nicht aufhören, von seinen Wanderungen mit Robert Walser zu berichten. Nach dem Wandertag vor 70 Jahren dann bald der Krieg, der Dichter und sein Vormund marschieren weiter, heute vor genau 65 Jahren:

»24. Juli 1944. Wanderung zum Bodensee. (…) Als wir die Kirche von Arbon erreichen, gellt Luftalarm. Vom gegenüberliegenden Bodensee-Ufer hört man Abwehrgeschütze krachen. Robert wird still. Wir verschwinden in einer Konditorei, um die Käse- und Rhabarberkuchen zu versuchen.«

Schon allein das ist Weltliteratur! Bombenkrieg in Friedrichshafen, und 15 km gegenüber, am Schweizer Ufer, ziehen sich Carl und Robert zur Tortenschlacht zurück. Es wird aber noch besser:

»Später Fischessen in einem Restaurant am See. Im anstoßenden Saal werden amerikanische Flieger verpflegt, robuste, breitschult­rige Burschen.«

Sind das jetzt die, die ihren Einsatz gleich noch fliegen? Oder die, die dabei schon unfreiwillig im See baden gegangen sind (und sich ans richtige Ufer gerettet haben)? Während man sich noch solche Fragen stellt, sind Seelig und Walser schon wieder einen Satz weiter:

»Wir gehen in der Badeanstalt schwimmen, wo wir die einzigen Kunden sind. Robert klettert mit dünnen Schenkeln auf das hohe Sprungbrett, steigt aber wieder herunter und bemerkt: ›Seien wir nicht zu kühn! Ich muß jetzt wohl auf solche Sprünge verzichten. Früher bin ich ja oft in einsamen Buchten bei Tag und Nacht geschwommen, besonders in Wädenswil und Biel. Aber jetzt bade ich nur noch selten. Man kann die Hygiene auch übertreiben.‹«

Wenn das kein Walser-Wort zur kognitiven Dissonanz ist, mit der wir die Szene heute lesen. Seeligs »Wanderungen mit Robert Walser« oder Der Versuch des Vormunds, am Ende selber der Dichter zu sein?

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Carl Seelig: Wanderungen mit Robert Walser. Frankfurt: Suhrkamp, S. 85f.

 


Vossianische Antonomasie (Teil 2)

Konstanz, 15. Juni 2009, 21:25 | von Marcuccio

 

  1. die Jil Sander der semiautomatischen Waffen
  2. der Che Guevara der deutschen Verlagswirtschaft
  3. die portugiesischen Buddenbrooks
  4. die französische Anne Frank
  5. der Prager Pitaval
  6.  


Wie man Dankesreden für Literaturpreise schreibt

Konstanz, 10. Juni 2009, 07:05 | von Marcuccio

Eine symptomatische Szene aus dem deutschen Literaturbetrieb. Lesen konnte man sie bisher nur im Regionalfeuilleton (»Südkurier« vom 25. Mai 2009), aber sie hat eigentlich doch überregionale, um nicht zu sagen: www-Relevanz:

Annette von Droste-Hülshoff, Porträt von J. J. Sprick, 1838 (Quelle: Wikimedia Commons)Die Ausgangslage ist menschlich, allzu literatur­betriebsmenschlich: Schriftstellerin (in diesem Fall: Marlene Streeruwitz) erhält Literatur­preis, mit dessen Namensgeberin (Annette von Droste-Hülshoff) sie nicht wirklich etwas anfangen kann. Für 6000 Euro Preisgeld wird sie aber trotzdem eine Dankesrede halten und darin irgendeine Beziehung zu der Dichterin finden müssen. Also schaut sie halt mal ins Netz, landet im Gutenberg-Portal bei SP*N und liest den dort eingestellten Lebenslauf der Droste. Über diese »Recherche« schreibt sie, und fertig ist die Dankesrede.

Aber halt! Wer jetzt gleich wieder schreit »Hungert sie aus! Streicht den deutschen Autoren alle Stipendien und Preisgelder!« – der hat eine kleine Sternstunde im Dankesreden-Theater verpasst. Denn Streeruwitz spart sich alles Alibi-Gequatsche von wegen Identifikation mit der Droste: »Das kann ich nicht.« Stattdessen dekonstruiert sie einfach den 10-Zeilen-Lebenslauf der Droste bei Gutenberg@SP*N – sehr gut! Man hätte gar nicht für möglich gehalten, dass die Kurzbio­grafien in dieser Online-Frische-Box für Literatur so gammelig sind:

»Da heißt es. Zitat: ›Seit 1841 lebte sie meist am Bodensee. Dort erfuhr sie eine halbmütterliche Liebe zum 17 Jahre jüngeren Levin Schücking. Sie starb am 24. Mai 1848 in Meersburg am Bodensee.‹

Also. Die halbmütterliche Liebe wird erfahren. […] Die Frau, die eine Liebe erfährt. Das relative Verbum ›erfahren‹ beschreibt im Akkusativobjekt das, was erfahren wird. Hier ist es eine Liebe. Die Liebe dringt als Erfahrung über das Verbum selbst auf das Subjekt ein. […] Das Subjekt ist das Bedeutungsobjekt des grammatikali­schen Objekts.

In dieser Verdrehung wird die Entmächtigung des Subjekts vorge­nommen. […] eine Darstellung, die vollkommen von außen be­stimmt ist. Die Landschaft. Die Liebe. Die Halbmütterlichkeit. Der 17 Jahre jüngere Mann und dann gleich der Tod. So wird über Beschreibung eine Person vollkommen ihres Werks beraubt. Sie wird in minderwertige Kategorien des Geschlechts und der Lebens­führung eingeschrieben.

[…] Über diesen heutigen Text kann ich mich dann sehr wohl mit Annette von Droste-Hülshoff identifizieren. Wir unterliegen aus­schließlich aufgrund unseres Geschlechts dieser Weiterschreibung, die die Männernamen fett druckt und die Frauennamen ins allge­meine zurückfallen lässt und darin die Wertung höchst selbstver­ständlich vorführt.

Ich bitte also die Droste-Gesellschaft, sich dieses Texts anzuneh­men. Denn. Neben der himmelschreienden Beraubung der Leis­tungen einer Person handelt es sich um einen Vorgang des Anti­demokratischen. Vielen Dank.«

Okay, das mit den fetten Männernamen (sie sind halt als Links mar­kiert!) wäre ein eigenes Tagungsthema für die feministische Literatur­wissenschaft: Geschlechterspezifische Hypertext-Hierarchien oder so ähnlich …

Aber der passivisch fomulierte Lebenslauf der Droste ist wirklich un­säglich. Vielleicht sollten sich zukünftig einfach mehr Dankesreden für Literaturpreise an den Dichter-Biografien in Online-Datenbanken abar­beiten. Die Subventionskritiker könnte man damit sicher auch ein we­nig besänftigen, wenn im Literaturbetrieb nicht mehr nur abgestaubt, sondern auch ein bisschen entstaubt wird.

Bildquelle: Wikimedia Commons.
Die ganze Dankesrede gibt es auch bei rebell.tv.


Vossianische Antonomasie (Teil 1)

Konstanz, 9. Juni 2009, 09:04 | von Marcuccio

 

  1. der deutsche Bob Woodward
  2. der Stalin der Reformation
  3. der Capote der Generation Golf
  4. die schwäbische Jelinek
  5. das Pompeji des Einzelhandels
  6.  


Das Feuilleton schwänzt den Walser-Wandertag

Konstanz, 27. April 2009, 14:06 | von Marcuccio

Was dem Dique seine RoRoRo-Monografien, sind mir ja die Suhrkamp-Prachtbände »Sein Leben in Bildern und Texten«. Okay, sie passen eher auf Tische als in Taschen, und hinein kommt auch nur, wer zwingend altgedienter Suhrkamp-Backlist-Autor ist: Also Hesse. Brecht. Und natürlich Walser, Robert, nicht (mehr) Martin.

Doch schon mit diesen wenigen Großkalibern haben sich mir ganze Ikonografien deutscher Literaturgeschichte ins Gehirn gefräst: Hesse mit Strohhut und Gartenfeuer, Brecht auf Frischs Letzibad-Baustelle in Zürich – und eben Robert Walser mit Schirm und Hut am Rand der langen, leeren Straße.

Es ist DAS Bild des Spaziergängers Robert Walser, oder muss man sagen: des von seinem Vormund zum Spazierengehen abgeholten Anstalts-Insassen Robert Walser? Das Foto, aufgenommen von Carl Seelig am 23. April 1939, wurde dieser Tage 70 Jahre alt. Aber was macht das sonst so jubiläumsgeile Feuilleton? Es schwänzt diesen Wandertag.

Dabei war es doch ein großer Tag: »Wir machen den Weg Herisau–Wil, ständig plaudernd, in dreieinhalb Stunden«, schreibt Seelig, und weiter: »Er läßt sich auch ohne Widerstand fotografieren. Ich bin baff. Es macht ihn glücklich und lustig, daß wir die 26 Kilometer so schnell hinter uns gebracht haben, nur mit einem Vermouth als ›Benzin‹.«

Und naja, in Wil wurde natürlich, wie immer bei solchen Gelegen­heiten, noch zünftig eingekehrt: »Wir essen ›Im Hof‹, haben gewaltigen Hunger und kehren nachher von einer Wirtschaft zur anderen ein. Im ganzen waren es fünf.« So halb stolz, halb betreten konnte es nur ein Carl Seelig protokollieren, wahlweise auch mit Speisenfolge, Rotweinsorten, Walsers Worten zu den Serviertöchtern.

Solange »Der Vormund und sein Dichter« nicht endlich mal wieder gesendet wird, bleibt »Robert Walser. Sein Leben in Bildern und Texten« die einzige Alternative zum Nachwandern durch Text und Bild, herausgegeben und gestaltet von dem wie immer unermüd­lichen Bernhard Echte.


Schöner lesen

Konstanz, 25. April 2009, 09:01 | von Marcuccio

Unter der Hand entwickelt sich die taz zur führenden Zeitung für die Berichterstattung von und zu Lesungen. Immerhin war es auch ein Artikel der taz, der mich anno 2004 zu meinem ersten »Tropen«-Buch verführte.

Weiter war es die taz, die Walsers Krawatten-Kampagne unter die Lupe nahm, und auch gestern war es wieder die taz, die mit gleich zwei Genrestücken aus der Welt des gelesenen Buchs bestach. Programmatischer Titel: »Die Fans und die Kritiker«.

Zunächst Judith Luig über Jonathan Franzen: Na gut, der zu Anfang gezogene Vergleich »Die Lesung … beginnt wie ein Pop­konzert« ist ein Topos, von dem sich das Lesungsrezensionswesen langsam ruhig mal emanzipieren könnte – sollte! Aber der Schluss ist schon richtig, richtig gut, weil eben einfach wirklich Pop, und zwar ohne Konzert: »Fast hat man das Gefühl, man sei selbst ein bisschen lebendiger geworden, weil man ihn an diesem Abend erlebt hat.«

Dann »Alles über Alice« – Wiebke Porombka über Judith Hermann, deren »Gespenster«, wiewohl 2007 noch mal im Kino, auch schon wieder 6 Jahre her sind: »Sechs Jahre … in Literaturbetriebs­kreisen eine halbe Ewigkeit.« Jetzt, endlich bald, kommt das neue Buch, und deswegen, so Porombka plausibel, war’s auch »rappelvoll«, und zwar mit namhaften Kritikern:

»fast wäre es hier und da zu kleinen Handgreiflichkeiten gekommen, weil diejenigen, die nur noch auf den improvisierten Gartenstühlen, halb zwischen Gang, Bar und Tür geklemmt sitzen konnten, sich der freien Sicht auf die lang entbehrte Autorin beraubt sahen.«

Herrlich. Und ungemein treffend, witzig und richtig Judith Hermanns seit Stuckrad-Barres »Livealbum« ja auch nicht mehr so oft gelesene Bemerkung, sie müsse sich »für solche Gespräche erst wieder ein bisschen konditionieren«. Trainingsauftakt, erstes Testspiel für die jetzt anstehende »Alice«-Saison: 18 Spieltage gegen den gleichen Gegner (»Ist das autobiografisch?«), und Judith Hermann sucht noch nach ihrer Form. Das werde, will ich heute um 20:05 Uhr im DLF unbedingt nachhören.