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Pflicht und Kür im Gedenkfeuilleton

Konstanz, 22. Januar 2009, 15:25 | von Marcuccio

Frankfurt, wir haben ein Problem. Die Kalenderfeuilleton-Novelle. Seit dem 5. Januar werden die Geburtstagsartikel einer FAZ-Woche immer montags auf der Feuilleton-Rückseite gebündelt, Todesnachrichten und andere wichtige Jubiläen bleiben weiterhin tagesaktuell vorn bei den Kollegen im Frontoffice.

Und gleich zum Auftakt dieser Patzer:

»Herwig Birg, dem großen Warner vor den Folgen der geburtenarmen und darum überalterten Gesellschaft, ist von uns gestern zum sechzigsten Geburtstag gratuliert worden. Er beging jedoch seinen siebzigsten. Wir bedauern den Fehler.« (FAZ vom 6. Januar)

Bürokratieabbau geht anders. Mag sich die FAS schon mal zwei Tage vor Inkrafttreten der neuen Jubiläumsartikel-Verwaltungs­richtlinie bei der FAZ gedacht haben und zeigte uns allen, wie es geht:

»So wird 2009 gewesen sein«
(FAS Nr. 1/2009 vom 4. Januar, S. 23)

Das war die Seite mit dem riesenroten Fake-»Spiegel«-Cover von der herrlichen Kat Menschik: eine zum Entkorken bereite Rotkäppchen-Sektflasche, darunter die Titel-Schlagzeile, die uns dieses Jahr in abgewandelter Form sicher noch blüht:

»Die Besser-Ossis. 20 Jahre nach dem Mauerfall:
Wo die Ossis die Nase vorn haben«

Im vorangehenden, echten »Spiegel« (Nr. 1/2009) stand ja diese Prosit-Mauerfall-Story (von und mit Matthias Matussek, S. 38-41), im Inhalt unter dem Rubrum

»Unternehmen: Die Sektkellerei Rotkäppchen
startet ins Jubiläumsjahr des Mauerfalls«

Außerdem enthielt dieses Heft das ominöse Nachrichten-Horoskop (»Was läuft 2009«). Bei der FAS muss man all das zusammenge­dacht haben, und statt der Jubiläumsartikel-Pflicht der FAZ gab es die Kür:

»Die wichtigsten Jubiläen des Jahres und wie
die Medien darauf reagieren werden«

Eine witzig-kreative Meta-Parade auf den Berichterstattungswahn zu runden Anlässen. Lauter Preziosen waren das, Thea Dorn als Running Gag und auch sonst viele feine Ideen, auf die der Umblätterer dann vielleicht mal unterm Jahr zurückkommen wird: »Aus Frankfurt nun die FAS-Jubiläumsvorhersage für morgen Mittwoch, den 500. Krönungstag von Heinrich VIII.«

Usw.


Mit Schirm, Charme und Scheck

Konstanz, 19. Januar 2009, 14:04 | von Marcuccio

Wahlsonntag, 18 Uhr, in der Buchhandlung Osiander. Die erste Hochrechnung aus Hessen ist hier ganz weit weg. Stattdessen große Koalition für Denis Scheck: Lehrerinnen mit Notizblöcken aus Olivenholz. Der Edeka-Geschäftsführer von gegenüber. Studentenpärchen. Und am Eingang ungefähr 150 Regenschirme ohne Garderobe.

Der Mann, der die »Spiegel«-Bestsellerliste zur Show mit der Mülltonne machte, ist da. Und will sich bei Osiander Konschdanz (er sagt natürlich: Konschdanz) ein bisschen von dem Geld wiederholen, das er als Student seinerzeit bei Osiander Tübingen gelassen hat. Lacher im badischen Publikum, das heute (Filialeröffnung) mal ganz auf Kosten der Schwaben da ist.

Dann ein Lob auf die hiesigen Seelen, mit dem er aber auch schon zur Sache kommt, denn vor zu vielen Büchern (90.000 Neuerscheinungen pro Jahr, huch!) fürchtet sich Scheck, bitteschön, »genauso wenig wie vor zu vielen Auslagen einer Bäckerei«. Es folgt: Für TV-Seher eine volle VHS-Kassette »Druckfrisch«. Für Radio-Hörer ein gelungenes Solo zur DLF-Sendung »Bestes und Allerletztes«.

19:40 Uhr. Die ersten Leute wollen heim zur »Tagesschau«. Scheck schalkt durch die letzten Bücher. Im Obergeschoss werden die Häppchen gerichtet. Die Schirme (von oben betrachtet wie ein schlecht genagelter Günther Uecker) warten mit ihren feinen Unterschieden, bis der Wein alle ist.


Die Bratwurst in der Literatur:
»Niemals mit Senf«

Zürich, 31. Dezember 2008, 10:20 | von Marcuccio

Noch ein kleiner literaturgeschichtlicher Nachtrag kurz vor Jahresende. Hanns-Josef Ortheil hat sich in seinem immer noch aktuellen Roman »Das Verlangen nach Liebe« (2007) als Kurator einer exquisiten Sonderausstellung im Bratwurstmuseum empfohlen, und Rainer Moritz unterstützt ihn in der NZZ (23. 1. 2008):

»Selten dürfte in der Weltliteratur derart genüsslich der Verzehr von St. Galler Bratwürsten nebst Bürli beschrieben worden sein«.

Die Szene im O-Ton: Ortheils Ich-Erzähler Johannes besucht den Grillstand am Zürcher Bellevue (S. 25):

»Als ich den Platz erreichte, erkannte ich einen schmalen, zum Teil überdachten Grillstand, der in einer Häuserlücke untergebracht war, diesen Grillstand kannte ich, ja genau, hier gab es diese unvergleichlichen Bratwürste, wie hießen sie doch gleich, diese leicht gedrungenen Würste mit einer hellen, porenlosen, milchig wirkenden Füllung von Kalb- und Schweinefleisch. Wegen ihres intensiven und für Bratwürste ganz raren Eigengeschmacks aß man sie niemals mit Senf, sondern mit dunkelbraunen, knusprigen Bürli, die ebenfalls eine Köstlichkeit waren und in nichts mehr erinnerten, was man im Deutschen als Brötchen bezeichnete. Bürli waren nämlich innen flockig, porös und weich wie gewisse Pilz-Schwämme, außen aber überzogen von einer hier und da aufgeplatzten Kruste mit einer ganz unmerklich dunklen Lasur. Eine solche Bratwurst und ein solches Bürli, dazu ein kaltes Glas Bier – das war genau richtig (…).«

Irgendwann wird es also sicher Zeit, Elisabeth Frenzels »Motive der Weltliteratur« um die Bratwurst zu erweitern.


Zeitungsgeburtstage 2008 (Teil 3):
1 Jahr FR im Tabloid-Format

Konstanz, 23. Dezember 2008, 01:25 | von Marcuccio

Nach Teil 1 (60 Jahre WamS) und Teil 2 (30 Jahre taz) gibt es heute:

Das Feuilleton-Match des Jahres! Wir feiern nach und übertragen (re-live, wie es bei Eurosport so schön heißt) die Partie:

Österreich–Schweiz (AUT–SUI)

Das ist das redaktionelle Benefizspiel, das die »Frankfurter Rundschau« am 30. 5. ausgetragen hat, zur Feier ihres ersten Geburtstags im neuen Tabloid-Format und zur Einstimmung auf die Euro 2008 natürlich auch. Deswegen mal schnell White Stripes einlegen und los geht’s!

Die Spielidee: Die beiden EM-Gastgeberländer sollten mal über eine komplette Zeitungslänge zu einem sportlich-landeskundlichen Vergleich antreten. Eine Zeitung als Zweiländerturnier, quer durch alle Ressorts und Themen, ja in insgesamt 30 Kategorien. Das ging von der Frage nach der schöneren Flagge und dem besseren Humor bis hin zu Hunderassen, Schriftstellern und Nobelpreisträgern.

Die Spielregeln: Auf jeder Zeitungsseite hatte die FR unten so einen kleinen redaktionellen Fight Club eingerichtet. Mit jeweils 600 Zeichen Text ging es für die Kombattanten aus Österreich und der Schweiz zur Sache. In jedem Fall wurde per Schiedsspruch ein Zweikampfsieger erklärt, gewertet in Form von einem Treffer (Punkt).

Das Spiel: Was für ein enzyklopädisches Match. Im Prinzip war die FR an diesem Tag das, was Moritz Baßler einen deutschen Pop-Roman nennt: ein Verfahren, das mit Lust und Laune Exponenten aus zwei Landeskulturen archiviert. Neben Klischeevergleichen (Sissi vs. Heidi, Mozartkugel vs. Toblerone) gab es da auch das ein oder andere Tertium comparationis der weniger landläufigen Sorte, ich denke nur an den Umgang mit den Türken vor den Toren.

Ein Zweikampf ist derweil auch schon historisch: Im Duell der Rechtspopulisten vom Mai schlägt Christoph Blocher noch Jörg Haider, inzwischen aber wohl nur noch sich selbst bei Eidgenössischen Bundesratswahlen.

Jetzt aber endlich direkt zur

1. Halbzeit (mit den Ressorts:)
POLITIKREPORTAGEMEINUNGWISSEN & BILDUNGWIRTSCHAFT

Halbzeitpause

2. Halbzeit (mit den Ressorts:)
SPORTFEUILLETONMEDIENMAGAZINRHEIN-MAIN

Zum Endergebnis

*

Und ab hier die eigentliche Liste, also so was wie der archivierte Live-Ticker der gesamten Partie AUT–SUI (mit Ressort / Zwei­kampfkategorie / Resultat).

1. Halbzeit mit den Ressorts

– POLITIK

Fahne: Rot-Weiß-Rot vs. Schweizerkreuz 0:1.

Klarer erster Treffer. »Ist die schon Pop, die Schweizer Fahne?«, fragt die FR. Von Swissness mal ganz zu schweigen.

Polit-Frauen:
Benita Ferrero-Waldner vs. Beatrice Weder di Mauro 0:1

Bei diesem Duell mit dem onomastischen Etwas hätte die Schweiz mit Carla Del Ponte noch mindestens eine ebenbürtige Auswechselspielerin auf der Bank gehabt.

Nationalheldinnen: Sissi vs. Heidi 0:1

Heidi ist wohl der größere Global Player (Japan usw.)

Demagogen: Jörg Haider vs. Christoph Blocher 0:1

Im Mai vergab die FR noch einen »Punkt für die Schweiz: Weil die Eidgenossen ihren Demagogen trotz Wahlsieg aus der Regierung kickten.« Haider hat sich derweil selbst aus dem Verkehr gezogen, bürgt aber als »Lebensmensch« weiterhin für das österreichische Wort des Jahres 2008.

Chor / Korps: Wiener Sängerknaben vs. Schweizer Garde 1:0

Homophonetisch die attraktivste Kategorie – laut FR 1:0 für Österreich, »weil Weltruhm als Musikstar verlockender ist als Rumstehen im Clownskostüm«.

– REPORTAGE

Autobahngebühr: Pickerl vs. Autobahn-Vignette 0:1

Legendär sind ja die Pasing-Münchner, die die Maut auf der Landstraße Mittenwald-Innsbruck-Brenner umfahren. (SBB gegen ÖBB, wäre auch noch ein Duell gewesen, ein sehr unfaires jedoch.)

Kulinarik: Wiener Schnitzel vs. Zürcher Geschnetzeltes 1:0

Hier wurde aus dem Gästeblock der FAZ-Leser der Ruf nach »Schiedsrichterball« laut: Jürgen Dollase, bitte übernehmen Sie!

– MEINUNG

Bundespräsident: Heinz Fischer vs. Pascal Couchepin 1:0

Oh je, dieser Vergleich ist wohl besonders heikel. Zur politischen Staatskunde immer empfehlenswert: die Neugieronautik von rebell.tv!

– WISSEN & BILDUNG

Nobelpreisträger: Elfriede Jelinek vs. Kurt Wüthrich 1:0

Alte Feuilleton-Frage: Wollen wir den »Wahnsinn« als Land (Österreich) oder als Protein-Molekül in Rinderhirnen?

Psychoanalytiker: Sigmund Freud vs. Carl Gustav Jung 1:0

Künstler: Alfred Hrdlicka vs. Niki de Saint Phalle 0:1

Eigentlich ja ein sicherer Treffer für Österreich, allein schon wegen der Pferdenummer für Kurt Waldheim, aber versehentlich verbucht die FR dann doch einen Punkt für die Mutter aller Nanas.

– WIRTSCHAFT

Manager: Ferdinand Piëch vs. Josef Ackermann 1:0

Hotel(ier)s: Sacher vs. Ritz 1:0

Alpenkräuter: Almdudler vs. Ricola 1:0

Alpenkräuter im unterschiedlichen Aggregatszustand, nicht schlecht. Die FR ist also von der Werbung (»Wer hat’s erfunden?«) genervt. Man hätte dem Almdudler auch eine Rivella zur Seite stellen können (Kategorie Alkoholfreies Skihütten-Kaltgetränk), dann sähe das Ergebnis andersrum aus.

Tunnel: Arlberg vs. Gotthard 1:0

Die Austriakos mögen im Tunneltest siegen, aber haben sie auch ein Réduit?

Hunderassen: Österreichischer Pinscher vs. Bernhardiner 1:0

Apropos: Christian Kracht aß Hund bei Grissemann & Stermann …

Architektur: Hundertwasser vs. Herzog & de Meuron 0:1

Klare Entscheidung.

Halbzeitpause

Spielstand zur Halbzeit: Österreich führt 10:7 gegen die Schweiz.

Zur Halbzeitpause, die natürlich hier die Mitte der Zeitung ist, zeigt die FR, was auch ein Tabloid-Centerfold so alles kann: Ein rot-weiß-rot gerahmtes Arnold-Schwarzenegger-Porträt.

Der Unehrenbürger

Bernd Melichar schreibt über das Hadern des Herminators mit seiner ihm einst so hagiografisch zugewandten Heimat (hier eine Version für die »Mitteldeutsche Zeitung«).

2. Halbzeit mit den Ressorts

– SPORT

Steuerfluchthilfe: Franz Beckenbauer vs. Michael Schumacher 0:1

= 1:0 für das Bankgeheimnis oder (mit dem Schiedsspruch der FR): »Treffer für die Schweiz, weil sich der Steuerflüchtling Schumi da wohler fühlt als der Fußball-Gott in Österreich«.

Die Türken vor den Toren: Wien 1683 vs. Istanbul 16.11.2005 0:1

Die FR vergibt einen »Punkt für die Schweizer, die vor den Toren ihren Mann stehen, statt sich hinter Mauern zu verstecken«, hehe.

Karriere: Hansi Hinterseer vs. Roger Federer 0:1

Auch gut: »Punkt für die Schweiz, weil bei Federer noch die Hoffnung besteht, dass er nach der Sportkarriere keine Volkslieder singen wird«.

Rinder: Red Bull vs. Lila Kuh 0:1

Ski-Destinationen: St. Anton vs. St. Moritz 0:1

»Lieber Champagner zu Kaviar als Schnaps zu DJ Ötzi«, findet die FR. :-)

– FEUILLETON

Schriftsteller: Thomas Bernhard vs. Max Frisch 1:0

Waaahh … aber doch nicht »Holzfällen« gegen »Homo Faber«, »Wittgenstein« gegen »Gantenbein«, »Reger« gegen »Stiller«! Wo bleibt das Fairplay? Auf 3:3 unentschieden hätte ich hier entschieden …

Musiker: Falco vs. Yello 0:1

»Oooh, yeah!«

Filmemacher: Stefan Ruzowitzky vs. Marc Forster 1:0

Was sagt denn San Andreas?

Pop: Christina Stürmer vs. Stefanie Heinzmann 0:1

– MEDIEN

Models: Werner Schreyer vs. Raquel 1:0

Die Match-Szene auf der Medien-Seite ging völlig unter, weil alles durch Markus Peichl und sein »Neues Deutschland« abgelenkt war. Flitzer!

– MAGAZIN

Naschen: Mozartkugel vs. Toblerone 1:0

»Punkt für Österreich, weil Naschen dort eine runde Sache ist, während die Schweiz sich mal wieder kantig gibt«.

– RHEIN-MAIN

Es gab dann noch zwei weitere Treffer, die wegen regionaler Abseits-Stellung aber nicht gewertet wurden:

Humor: Erste Allgemeine Verunsicherung vs. Kurt Felix & Paola 1:0

Mehr Mythos als der »Ba, ba, Banküberfall, bis die Behörden einschritten«, geht natürlich nicht.

Eintracht-Spieler:
Markus Weissenberger vs. Christoph Spycher 0:1

Endergebnis

+++ AUT–SUI 14:14 unentschieden +++

Ein politisch korrektes Ergebnis. Trotzdem: Ein großes Match und eine große Idee, für einen Tag einfach mal eine komplette Austro-Suisse-FR zu machen, anstatt dem üblichen Nachrichteneinerlei hinterher zu hecheln. Zumal die FR neben allen Zweikämpfern noch jede Menge andere im Blatt hatte. Und Nachahmer, jedoch meistens auf das Feuilleton beschränkt, gefunden hat: siehe Antike-Spezial der FAS, Darwin-Spezial der FAZ usw. usf.


Zeitungsgeburtstage 2008 (Teil 2):
30 Jahre »taz«

Konstanz, 21. Dezember 2008, 09:54 | von Marcuccio

Die taz ist in diesem Jahr endlich halb so alt geworden wie die jetzt 60-jährige WamS.

Aber: »Ist die taz überhaupt schon 30?« Das war die meistgestellte Frage zum Geburtstag, und sie wird wohl noch bis zum 17. April 2009 weiter gestellt werden. Nach dem, was man so hört, wollen die taz’ler dann eh noch mal feiern und die neue »sonntaz« starten.

Aber fürs Erste gab’s die üppige Sonderbeilage »30 Jahre. 30 Ereignisse« zum Feiern. Das Betriebsgeheimnis aus 30 Jahren taz lässt sich vielleicht am besten mit der Jahreslosung von 1995 begreifen: »Wie immer, wenn es brennt, lief die taz zur anständigen Form auf«.

Das galt für den Brent-Spar-Sommer ’95 offenbar genauso wie für Tschernobyl ’86. Die taz boomte offenbar immer dann, wenn weitaus mehr Leser als normal einen Grund hatten, sich alternativen Hintergrundinformationen zuzuwenden. Die Frage, ob es für eine wirtschaftlich florierende taz also öfters einen Super-GAU bräuchte, hat die Sonderbeilage dann aber nicht weiter vertieft.

Und noch zwei Highlights. Einmal die Gratulantendichte. »Bild«, »Spiegel«, »BP« – sie alle (und noch viel mehr) waren mit wirklich originellen Anzeigen am Start. Die brachten bestimmt auch ein bisschen Bares, wo man an der Rudi-Dutschke-Straße doch immer so chronisch klamm ist.

tazsächlich: Schon 30? Der SPIEGEL gratuliert! (Preview)

Und dann hatte die taz zu ihrem 30. echt mal schön dekoriert: So ein bisschen im Retro-Look der Deutschen Nationalbibliothek (formerly known as Deutsche Bibliothek), deren altes Logo ja tatsächlich auch aus diesen drei Streifen in den drei Farben bestand. Die Jubiläums-taz als Deutsche Nationalbibliothek auf Zeitungspapier. So mit 30 wirklich ein gut durchgezogener Marsch durch die Instanzen.


Zeitungsgeburtstage 2008 (Teil 1):
60 Jahre »Welt am Sonntag«

Konstanz, 20. Dezember 2008, 08:40 | von Marcuccio

Wie war das noch? Alles muss raus!? Jetzt noch mal feiern, bevor die Krise richtig kommt … Auf jeden Fall war 2008 ja noch mal ein Jahr voller Extrablätter, sprich Party-Time für Umblätterer.

Unsere/meine* Lieblingsjubiläen (*falls ich hier Umbl-Minder­heitenpolitik mache, hehe): Es gab 60 Jahre WamS30 Jahre taz – und 1 Jahr »Frankfurter Rundschau« im Tabloid-Format.

+++ Nürnberg verhängt 12 Jahre Gefängnis für Alfred Krupp +++

+++ Die Kapazität der Luftbrücke jetzt bei 8000 Tonnen täglich +++

+ Der sowjetische Außenminister Molotow auf dem Rückweg nach Moskau +

Soweit die Nachrichtenlage des 1. August 1948. Die WamS hatte zur Feier ihres Sechzigers nämlich ein feines Reprint der Erstausgabe beigelegt (PDF), und das ist schon deswegen klasse, weil plötzlich alles wieder Alliiertenlizenz ist. »WamS«, »Spiegel« oder »Zeit« – sie sind ja alle älter als die BRD.

Noch älter ist eigentlich nur der Stern, Günter Stern. Der WamS-Veteran der ersten Stunde bekommt in der Jubiläumsausgabe sein Ehrenfoto, weil er 1948, kaum aus der Kriegsgefangenschaft zurück, die WamS mit der Nullnummer zu lesen begann und bis heute liest – als Abonnent, versteht sich.

Im Prinzip, hehe, könnten wir hier ruhig auch schon mal in die nicht existierenden Statuten schreiben, wer denn anno 2061 zum 60. der FAS posiert … Ich finde ja: Dique und Paco sollten das tun, und dann bitte so wie Statler & Waldorf von der Ehrenloge.

60 Jahre WamS sind irgendwie auch staatsmännisch, eine Zeitung voller Altkanzler. Auf einem Foto von 1961 sitzt Konrad Adenauer in einer Maschine der Bundesflugbereitschaft und liest Zeitung, »Welt am Sonntag« natürlich (siehe PDF).

»Im Namen von Freiheit und Lesefreude« steht drüber, und drunter »der Alte« mit getönter Brille und ernster Miene (Mauerbaujahr). Nur bleibt das ja trotzdem eine Text-Bild-Schere: Will uns die Jubilee-WamS damit wirklich sagen: 1961, 40 Jahre vor dem Start der FAS, sah Sonntags-»Lesefreude« so uninspiriert aus wie der späte Adenauer beim WamS-Lesen? Sorgenvoll und matt und müde?


Noch mal die Buddenbrooks zur Finanzkrise:
»Die mißtrauischen Banken«

Konstanz, 18. Dezember 2008, 13:22 | von Marcuccio

Schon neulich hatte Thomas Buddenbrook im Rückblick auf das Wort des Jahres (»Finanzkrise«) den treffendsten Kommentar parat (»Wenn alles schon wieder abwärts geht …«).

Damals ging es um die Arbeitslosenzahlen, die trotz angesagter wirtschaftlicher Totalapokalpyse weiter auf irgendein Rekordtief gesunken waren. Hier jetzt noch eine Passage gleich vom Anfang des Romans (S. 22, Fischer Taschenbuchausgabe von 1996):

»Tja, traurig«, sagte der Makler Grätjens; »wenn man bedenkt, welcher Wahnsinn den Ruin herbeiführte … Wenn Dietrich Ratenkamp damals nicht diesen Geelmaak zum Kompagnon genommen hätte! Ich habe, weiß Gott, die Hände über dem Kopf zusammengeschlagen, als der anfing zu wirtschaften. Ich weiß es aus bester Quelle, meine Herrschaften, wie greulich der hinter Ratenkamps Rücken spekuliert und Wechsel hier und Accepte dort auf den Namen der Firma gegeben hat … Schließlich war es aus … Da waren die Banken mißtrauisch, da fehlte die Deckung … Sie haben keine Vorstellung …«

Für die B’s ist die Welt auf diesen ersten Buchseiten noch heil, sie sind grad in die Mengstraße eingezogen. Und doch gibt der genuis loci dieser Immobilie »dieser ehemals so glänzenden Familie, die das Haus erbaut und bewohnt hatte und die verarmt, herunterge­kommen, davongezogen war …« schon den weiteren Verlauf vor.


Die Regionalzeitung der Buddenbrooks

Konstanz, 17. Dezember 2008, 15:36 | von Marcuccio

Das Schimpfen auf die lokalen Lübecker »Anzeigen« ist ein sehr kleines, aber feines von 1000 Motiven in den »Buddenbrooks«.

Auf S. 126 (in der Fischer-Taschenbuchausgabe von 1996) ist Tony Buddenbrook zur Sommerfrische in Travemünde. Zu Gast bei den Schwarzkopfs gibt’s Scheibenhonig zum Frühstück – und einen Plausch mit Morten, dem Sohn des Hauses:

(…) Tony, indem sie auf die Zeitung deutete:
»Steht etwas Neues drin?«
Der junge Schwarzkopf lachte und schüttelte mit spöttischem Mitleid den Kopf.
»Ach nein … Was soll wohl darin drinstehen? … Wissen Sie, diese städtischen Anzeigen sind ein klägliches Blättchen!«
»Oh? … Aber Papa und Mama haben sie immer gehalten?«
»Ja, nun!« sagte er und wurde rot … »Ich lese sie ja auch, wie Sie sehen, weil eben nichts Anderes zur Hand ist. Aber daß der Großhändler Konsul So und so seine silberne Hochzeit zu feiern gedenkt, ist nicht allzu erschütternd … Ja – ja! Sie lachen … Aber Sie sollten mal andere Blätter lesen, die Königsberger Hartungsche Zeitung … oder die Rheinische Zeitung … da würden Sie etwas Anderes finden!«

Bekanntlich ist Tony von Morten Schwarzkopf ganz angetan. Er bleibt aber bis zum Ende der Buddenbrooks ihre unerfüllte Liebe. Und so wird sie nach diesem einen Frühstück nicht nur für immer den Scheibenhonig vom Lande loben (erstmals S. 120). Auch Mortens markige Worte zu den Anzeigen leben in ihr fort: Jahrzehnte später, im Gespräch zwischen Tom und Tony, taucht das Motiv mit expliziten Versatzstücken wieder auf.

»Schwach, sehr schwach, diese ›Anzeigen‹«, sagte er.
»Mir fällt jedesmal dabei ein, was Großvater von faden und konsistenzlosen Gerichten sagte: Es schmeckt, als ob man die Zunge zum Fenster hinaushängt … In drei langweiligen Minuten ist man mit dem Ganzen fertig. Es steht einfach gar nichts darin …«
»Ja, Gott weiß es, das darfst du getrost wiederholen, Tom!« sagte Frau Permaneder, indem sie ihre Arbeit sinken ließ und an dem Klemmer vorbei auf ihren Bruder sah … »Was soll auch wohl darin stehen? Ich habe es von jeher gesagt, schon als ganz junges, dummes Ding. Diese städtischen Anzeigen sind ein klägliches Blättchen! Ich lese sie ja auch, gewiß, weil eben meistens nichts anderes zur Hand ist … Aber daß der Großhändler Konsul So und so seine silberne Hochzeit zu feiern gedenkt, finde ich meinesteils nicht allzu erschütternd. Man sollte andere Blätter lesen, die Königsberger Hartungsche Zeitung oder die Rheinische Zeitung.« (S. 617)


Moritz Baßler und der Schoko-Igel

Konstanz, 13. Dezember 2008, 09:00 | von Marcuccio

Dass Kracht seine S.S.R. als grandiose Spielzeug- und Modelleisenbahn-Kulisse aufbaut, ist das eine. Das andere ist der Schoko-Igel auf S. 46! Der ist natürlich ganz große Deko in Krachts Suisse en miniature.

Ich habe mich, nun ja, tierisch gefreut, dass wenigstens Moritz Baßler das Utensil in seiner Kracht-Besprechung für die letzte »Literaturen« erwähnte. Unter anderem wegen Baßler kann und soll man ja mindestens immer dann, wenn ein neues Kracht-Buch erscheint, mal in die »Literaturen« schauen. Baßler spricht von einem »Roman für Spurensucher«, der eine akribische Lektüre lohnt:

»Viele Anspielungen (…) sind wahrscheinlich nur für Schweizer zu decodieren.«

Und als wollte er genau das beweisen, nennt er im nächsten Satz »die Schoko-Igel aus ›Es geschah am hellichten Tag‹«. Aber versteht sich der eine Igel, den der einbeinige Soldat an den Kommissär verkauft, nicht vielmehr als Reminiszenz an die Expo 1964 in Lausanne?

Damals präsentierte sich die wehrhafte Schweiz als Nation, die sich im Ernstfall nach innen zusammenrollt wie ein Igel. Was für ein Symbol für den Mythos Réduit!

Dass das Einigeln als Verteidigungsstrategie im wirklichen militärischen Klammergriff mindestens so zusammengeschmolzen wäre wie ein Schokoladen-Igel in der Hand, ist natürlich so »niedlich« wie das gleichnamige Klischee, das von den Schoggi-Beuteln der Migros bis zur Swissminiatur in Melide schweizweit verkauft wird.

Dass die Verteidigung der Schweiz zudem auf Black Power setzt, macht den Kracht-Schoko-Igel zur zartesten Versuchung, seit es Cover-Versionen literarischer Symbole gibt.


Der Eisenbahner Christian Kracht

Konstanz, 11. Dezember 2008, 18:00 | von Marcuccio

Ich kann es ja immer noch nicht glauben, aber angeblich macht die nächste Nummer der Zeitschrift »Loki« mit Christian Kracht auf. Irgend so ein Freak von den Schweizer Modellbahnfreunden scheint nämlich Krachts letzten Roman nachgebaut zu haben. Also die ganze Kulisse der Schweizerischen Sowjet-Republik (S.S.R.), mit Neu-Bern, Meiringen, beleuchtetem Réduit, e tutti quanti. Im selben Zusammenhang war irgendwo auch die Rede von einer Kracht-Lesung in der SWR-Sendung »Eisenbahn-Romantik«.

Also: Ist Kracht, unser Christian Kracht, in Wahrheit ein Fetisch-Künstler für die Szene? Haben wir da irgendwas verpasst? Der Umblätterer hat einmal nachgecheckt, was an den Gerüchten dran ist und wer denn da wie auf seine Kosten kommt:

Kracht für –

    – Modellbahnbauer
    – Streckenwärter
    – Bergbahnfahrer
    – Eisenbahn-Ethnografen
    – Anschlussreisende

*

Kracht für Modellbahnbauer

Man kann sagen, was man will, aber »Ich werde hier sein im Sonnenschein und im Schatten« ist durch und durch eisenbahnsemantisch codiert. Schon die Ausgangskonstellation: »Stell dir vor, Lenin hätte den Zug verpasst …« Und gleich auf den ersten Seiten wird klar, dass Kracht hier nicht einfach eine Gegenwelt, sondern ein Modellbau-Spektakel par excellence zelebriert:

»Der Weg zum Bahnhof schien jeden Morgen wie eine Theaterkulisse, erst ging es an mit Rauhreif überzogenen Wellblechhütten vorbei, dann kam ein Gatter, Bäume, immer wieder schwarze Vögel, die gerade so aufflatterten, als ziehe sie ein unsichtbarer Bühnenmeister an einem Bindfaden durch die Szenerie.« (S. 13)

Spielt da einer Hitchcock im H0-Maßstab? Auch später im Buch wirken die Häuser immer so, als ob »die jemand dort hingeschoben oder -gezogen hatte«. Und interessanterweise baut die S.S.R. nicht aus Glas & Stahl, sondern aus »Glas & Eisen, modern und vor allem mit menschlichen Zügen und Proportionen« (S. 26).

Schließlich wird klar, dass das hier alles Teil einer großen Vision für große Jungs ist, die sich zum Spielen am liebsten in ihren Hobbykeller (vulgo: Réduit) zurückziehen.

»Über den neuen Ring, Eidgenosse, (…) wird eine silberne Schienenbahn fahren, rund um die Uhr. Und am Steuer werden unsere zuverlässigen Bruder-Freunde sitzen, sie werden jedem Fahrgast salutieren.« (S. 27)

Salutierende Bruder-Freunde am Steuer? Schaut ganz so, als ob auch Krachts Modellbahnwelt den Beresina-Alarm kennt. Wie überhaupt so manche Elemente aus dem Film »Beresina oder die letzten Tage der Schweiz« die S.S.R.-Deko stellen: Sowohl die Wegzeiten-Beschilderung aus dem Réduit-Stollen wie auch die Jagdhütte hat Kracht – Modellbahnerehre! – filigran eingearbeitet. Vielleicht hätten sich Scheck und Kracht neulich – statt in einer Kaverne der Kölner Kanalisation – also auch gut unter den Kulissen des Hamburger MiWuLa gemacht.

*

Kracht für Streckenwärter

Schon »Faserland« war – trotz HaFraBa – ganz schön eisenbahnig. Und zwar nicht nur in Form des berühmt-berüchtigten Bord-Bistros, an das jetzt alle denken, mit Recht denken. Da war vor allem auch das Ding mit der Eisenbahn-Hochbrücke, von der die Exkremente runterplumpsen, weil die Zugklos ja früher wirklich offen auf die Strecke entleerten. Was das für darunterliegende Häuser und Gärten bedeutet hat, lässt dieser YouTube-Clip erahnen.

Jedenfalls: Die Fahrt von Sylt nach Hamburg verbringt der Ich-Erzähler weitgehend auf der Zugtoilette, und da fällt ihm ein, mal gelesen zu haben, »daß sich irgendwelche Menschen bei Kassel immer beschwert haben, wenn der Zug über eine hohe Eisenbahnbrücke fuhr«. Klar: Exkremente, eklig, Beuys, Kassel – die Assoziationskette passt. Aber, liebe Eisenbahnfreunde, noch mal zum Mitschreiben: Da rattert der »Faserland«-Erzähler zwar hinter »Blindglas« (Kracht, der alte Fuchs!), aber doch wohl mit der Marschbahn über den Nord-Ostsee-Kanal und faselt was von irgendeiner hohen Eisenbahnbrücke bei Kassel!? Für einen Hagen von Ortloff muss diese Form von Streckenblindheit die gleiche »parsifalhafte Unwissenheit« haben wie für Martin Hielscher die Tatsache, dass der »Faserland«-Held Walther von der Vogelweide und Bernhard von Clairvaux als mittelalterliche Maler bezeichnet.

(Vgl. Martin Hielscher: Pop im Umerziehungslager. Der Weg des Christian Kracht. Ein Versuch. In: Johannes Pankau (Hg.): Pop Pop Populär. Popliteratur und Jugendkultur. Oldenburg: Aschenbeck & Isensee 2004, S. 105.)

*

Kracht für Bergbahnfahrer

Eisenbahnsemantisch legt Krachts S.S.R. im Vergleich zu »Faserland« noch mal deutlich eins drauf, und zwar nicht nur wegen der »Kaliber-52-Krupp-Schienengeschütze« (S. 105). Das ganze Réduit ist im Grunde nichts anderes als eine bombastische Bahnanlage, »hunderttausend Werst unterirdische Schienen (…), soviel wie zweimal um den gesamten Erdball« (S. 60).

Es sind, notabene, auch nicht irgendwelche Schienen im Réduit verlegt, sondern »die Schienenstränge einer Schmalspurbahn« (S. 100). Man fährt auf »Loren« durch lange Stollen und »mit eisernen Fahrstühlen, die wie Käfige an Stahlseilen befestigt waren, tiefe Schächte hinab« (S. 104).

Die Lieblingsszene aller Bergbahnfahrer ist natürlich die, wo der Aufzug steckenbleibt und ein junger Soldat (»es war ein Welscher«) so dermaßen Schiss hat, dass er dem schwarzen Kommissär blaue Flecken in den Arm kneift. Dass Welsche in dem Buch Rassisten sind, die ihrerseits dem Rassismus der Deutschschweizer ausgesetzt sind (»Die Welschen waren einfach nicht zu erziehen!«), ist eine Nebenstrecke des Romans und natürlich mal wieder Kracht, krachtiger geht’s nicht. Dass sich in steckengebliebenen Aufzügen zeigt, was ein echter Schweizer ist, findet wie Kracht übrigens auch Sibylle Berg, weswegen ihr NZZ-Text »In der Standseilbahn« ein ganz wunderbarer Stellenkommentar zu dieser Szene ist.

*

Kracht für Eisenbahn-Ethnografen

Wie jede Fantasy spiegelt sich auch Krachts S.S.R. auf Schienen an Vorbildern aus der Wirklichkeit. NEAT-Feeling weht durch die »pneumatischen Tunnelbahnen, gigantische, sich in der von knisternder Elekrizität erhellten Dunkelheit kreuzende Netze. Von Basel bis Mailand in nur sieben Stunden.« (S. 27).

Zum zivilisatorischen Netz, das die Schweizer »mit manischer Effizienz« über Ostafrika legen, gehören neben – natürlich! – Eisenbahnstrecken (S. 76f.) auch »Militärakademien, um die Afrikaner zu Soldaten zu machen und damit den gerechten Krieg, der in der Heimat wütet, endlich zu gewinnen«.

Auf alle möglichen literarischen Matritzen des neuen Kracht-Buchs wurden und werden wir ja aufmerksam gemacht. Aber kein Hinweis, nirgends, auf Isolde Schaads »Knowhow am Kilimandscharo«. Wenn Krachts »Oktoberhaut« kein Pendant zu Schaads »Fitness-Bräune« ist, dann weiß ich auch nicht. Warum reagieren die Schweizer überhaupt so diskret auf das Buch? Oder nimmt man Kracht-Interviews (»Keine Satire«) neuerdings ernst?

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Kracht für Anschlussreisende

Einen seiner Höhepunkte nimmt das Kracht’sche Eisenbahnepos, als sich der afrikanische Ich-Erzähler an die wohl wichtigste Station seiner Ausbildung erinnert: eine Manöverübung, »die uns nicht nur die Wetterverhältnisse in der Schweiz simulieren, sondern auch die Metaphysik unseres neuen Vaterlandes näherbringen sollte« (S. 61f.).

Es geht zum Kilimandscharo. Aber wie! Jeder, der schon mal (once in a lifetime!) den Klassiker aufs Jungfraujoch gefahren ist (also: mit dem ICE bis Interlaken, der BOB bis Wengen, der Wengernalpbahn bis zur Kleinen Scheidegg und von dort mit der Jungfraubahn), versteht, warum Kracht die Episode so und nicht anders schildert:

»Wir bestiegen für den ersten Teil der Strecke einen Zug (…).«

Dann ist Umsteigen angesagt:

»Aus den offenen Waggons des Eisenbahnzugs ausgeladen, hatten wir kaum am Rand der Gleise unter der afrikanischen Sonne ein wenig rasten können, als ein junger schweizerischer Korporal uns schon zu einem Nebengleis führte, auf dem eine Draisine stand. Hinauf!«

Kürzeste Umsteigezeiten und immer perfekter Anschluss. Ein Swiss Travel System wie es im Buche steht. Der immer näher rückende Gipfel des Kilimandscharo dient dann unter anderem dazu, schon mal so Dinge wie das Alpenglühen aushalten zu lernen. Dann ist Endstation in Schweizerisch-Afrika: »Die Draisine wurde am Bahnhof von Moschi ordentlich auf ein Abstellgleis gefahren«, und wo es helvetisch zugeht, darf eben auch dieses Ritual bahnpostlicher Infrastruktur nicht fehlen: »wir meldeten uns alsbald beim Stationskommandanten, lieferten den mitgebrachten Postsack aus dem Nyasaland ab«.

Fantastisch! Also, ich würde mal sagen, mehr Persiflage auf die Choreografie der Schweiz geht gar nicht.

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