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Voyage Voyage (Teil 3):
»Männer über fünfzig mit Digitalkameras«

Konstanz, 6. Dezember 2008, 09:48 | von Marcuccio

Arezu Weitholz: Die Tosca-Fraktion. In: Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung vom 26. Juli 2007.

Durst im Reisejournalismus, das müssen nicht zwangsläufig pointenrülpsende Geschichten aus der Biertrinkerzone sein:

»Im Prospekt steht ein Zitat aus der Zeitung: ›Intimes Musizieren – ein Festival, das die durstige Seele erfrischt.‹ Das klingt gut«, denkt sich Arezu Weitholz und fliegt spontan von Berlin in die Toskana, zum so genannten Tuscan Sun Festival von Cortona.

Erste Zweifel kommen unterwegs: »Kann eine Seele überhaupt Durst haben?« Egal.

Vor Ort dann noch mehr Irritierendes: Name und künstlerische Leitung des Tuscan Sun Festival stellt die US-Amerikanerin Frances Mayes, die Cortona schon mit dem gleichnamigen Buch und Film ›beglückt‹ hat.

Ein Festival wie ein Amazon-Algorithmus

Leute, die »Under the Tuscan Sun« gesehen/gelesen und darüber hinaus Bücher gekauft haben, die »Cappuccino zu dritt« oder »How I discovered my inner Italian« heißen – diese Leute mögen sicher nicht nur die Toskana, sondern auch Tosca (zumal das so schön toskanisch klingt), Anna Netrebko, Joshua Bell, Lang Lang usw. Warum also nicht Weinproben, Wellness und Klassik-Konzerte zu einem Paket schnüren? Warum Toskana- und Tosca-Fraktion nicht vereinigen?

Doch bevor Arezu Weitholz realisiert, in welcher Zielgruppenfusion sie da gelandet ist, kommt es schon zum Showdown in Cortona:

»Acht Uhr abends vor dem Konzertsaal. Viele Leute wirken, als kämen sie aus Baden-Baden. Oder einer Folge vom ›Traumschiff‹, kurz vorm Abendessen. Frauen mit schimmernden Lappen um die Schultern. Männer über fünfzig mit Digitalkameras. Eine Frau, die aussieht wie Nancy Reagan, kommt vom Klo.«

Kopfkino vom Feinsten!

Der Artikel hat einen Trick, mit dem Arezu Weitholz die ganze Tuscan-Sun-Szenerie vorführt. Sie sagt nämlich kein einziges Mal »ich«, sondern hält während ihres ganzen Artikels die Wellness verheißende Anrede des Festival-Prospekts durch: Die versprach, die »durstige Seele« zu erquicken. Nur: Für die meisten Festivalbesucher scheint Klassik eher das Gegenteil von Wellness zu sein:

»Alle werfen einander ernste Blicke zu. Sie haben sicher Angst vor der Musik, denkt die Seele. Als Joshua Bell zehn Minuten später die Bühne betritt, lächelt er. Dann spielt er, und sofort schließt die Seele ihre Augen und freut sich: Endlich. Doch nein. Jemand knipst. Es macht plötzlich ›ksst‹. Dann noch mal ›krscht‹. Vom Rang ein ›Pling‹. Es sind die Männer mit ihren Kameras.«

Und die Szene ist noch nicht zu Ende:

»In der Mitte vom letzten Stück (Prokofjew) reißt Bell die Bogensaite. Er zieht sie mit einer Hand sekundenschnell weg, die Männer knipsen jetzt erst recht, ›pling‹, Bell spielt unbeirrt weiter, ›Kssrt‹, doch dann unterbricht er, jetzt ist ihm auch noch der Geduldsfaden gerissen, er bittet das Publikum um Stille: ›Bitte!‹ Dafür gibt es Applaus. Er beginnt von vorn, nun sind alle leise. Am Ende bekommen er und der Pianist weiße Blumen. Die Seele hat noch immer Durst.«

So wird die Kitsch-Ansprache aus dem Prospekt zum Running Gag, und Arezu Weitholz gelingen ein paar schöne Notate über den Klassiker: die Dissonanz zwischen Katalog und Wirklichkeit beim Reisen.


Voyage Voyage (Teil 2):
Rimini revisited

Konstanz, 5. Dezember 2008, 08:58 | von Marcuccio

Weiter geht’s mit im Gedächtnis gebliebenen Reisefeuilletons:

Sönke Kröger: Ein Wiedersehen mit der Adria.
In: Welt am Sonntag, 29. Juni 2008.

In einer Serie für die WamS fuhren Reise-Redakteure diesen Sommer mal zurück an die Urlaubsorte ihrer Kindheit. Also dahin, wo sie vor vielleicht 20, 30 Jahren mit ihren Eltern die »großen Ferien« verbracht haben. Eine Idee, die auf jeden Fall zum Erzählen einlädt, denn besichtigt wird neben der touristischen auch die eigene familiäre Vergangenheit.

Sönke Kröger zum Beispiel fuhr in den Siebzigern mit Mama, Papa, Bruder immer »im weinroten Opel Rekord« an den Teutonengrill, und allein das als Bekenntnis hat für manche ja schon doppelten Outing-Charme.

Zum ersten Mal nach 30 Jahren kehrt Kröger nun also mit seiner Mutter an die Originalschauplätze zurück:

Sie nehmen die gleiche Unterkunft (»Heute wissen wir, wie man ›degli Angeli‹ korrekt ausspricht«), sie mieten die gleichen organisierten Liegestühle am Strand, und sie hören den gleichen »cocco bello«-Lockruf des Kokosnussverkäufers durch die Schirmreihen.

Ja, sie begegnen sogar den gleichen Leuten: Die Lamms aus Bayern kommen immer noch nach Rimini! Wie eh und je fahren sie samstags in der Früh los, damit sie abends im Hotel die schöne Lasagne bekommen, »die seit Jahrzehnten samstags auf dem Speiseplan steht«.

»Immer noch« oder »so wie früher« sind überhaupt Schlüsselwörter des Artikels. Dass Krögers Text trotzdem nicht in einen Generation-Golf-Reise-Remix abdriftet, liegt daran, dass neben aller Nostalgie eben auch ganz reale Gegenwart herrscht: Im Hotel haben die (wiewohl schon fast wieder hippen) Badfliesen aus den Siebzigern halt nur überlebt, weil die Hotels hier allesamt unter »Sparzwang« stehen: Neben treuen deutschen Rentnern stellen nämlich vor allem »italienisches Prekariat« und »Polen auf Schnäppchenjagd« das Gros der Gästeschaft.

›Das Gegenteil von Gentrifizierung‹ würde man wohl sagen, wenn die Destination Rimini ein Stadtteil wäre. Wer – wie Sönke Kröger – 30 Jahre nicht mehr da war, stellt Fragen: Waren die Käsenudeln im Hotel damals eigentlich auch schon so matschig? Haben wir wirklich nie was vom Hinterland gesehen?

»›Dein Vater wollte das so‹, sagt meine Mutter«, und spätestens jetzt wird klar, dass auch Krögers nicht mehr die von früher sind. Die Eltern haben sich Ende der Siebziger scheiden lassen, und man weiß nicht, wie sehr auch der Teutonengrill dran schuld war:

»Meine Mutter entwickelte sich fortan zur neugierigen Reisenden (…). Mein Vater ist dagegen dem Strand treu geblieben. Gerade war er in der Türkei, im Hotel Sandy Beach in Komköy, direkt am Meer. ›32 bis 45 Grad, Essen und Zimmer sehr gut, mehr Urlaub geht nicht‹, schrieb er.«


Voyage Voyage (Teil 1):
»The coolest thing to do in Dubai«

Konstanz, 4. Dezember 2008, 09:13 | von Marcuccio

Voyage Voyage! Endlich was über Reisefeuilletons! Ich fange gleich mal mit einem der eindrücklichsten Reisetexte aller Zeiten an:

Andreas Lesti: Dubai. Ein Wintermärchen. In: Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung vom 2. Juli 2006.

Mein Lieblings-Alpin-Journalist heißt ja schon lange Andreas Lesti. Es war diese unerhörte Begebenheit, die seinen Skibericht aus dem Morgenland zur preisgekrönten Novelle (PDF) machte:

Mitten in der Wüstenhitze von Dubai liegt Schnee. In einer Skihalle. Und mitten in dieser Skihalle steht eine Skihütte, in der die von 46 Grad (Außentemperatur) auf minus zwei Grad runtergekühlte Luft (Skihalle) wieder auf 25 Grad (Hüttentemperatur) erwärmt wird.

»The coolest thing to do in Dubai« besticht durch sein durchweg surreales Setting, das Lestis Reportage phänomenal einfängt:

Da ist die Glaswand, durch die man das Schnee-Spektakel aus einer Shopping Mall heraus beobachten kann:

»Touristen in kurzen Hosen und ärmellosen Tops machen Bilder mit ihren Fotohandys. Frauen in Tschador und Burka sehen durch die dünnen Sehschlitze ihrer Kopfbedeckungen. (…) Drinnen liefern sich junge Männer in der Dischdascha, dem weißen Gewand, und schwarzen Daunenmänteln darüber eine Schneeballschlacht.«

Da sind die Wintersport-Fachgeschäfte der Wüsten-Metropole:

»›Im Sommer kann es bei uns zu bis 46 Grad haben‹, sagt er [der Verkäufer] – und verkauft aber Mützen, Handschuhe und Carvingski, weil es in der Halle fast 50 Grad kälter ist.«

Und da ist Lesti selbst, der das alles unaufgeregt und (wie man aus einer Neben-Storyline erfährt) irgendwie auch nicht richtig angemeldet für die »FA Sat« notiert:

»Ich fahre mit dem sehr langsamen Vierersessellift nach oben, an der Mittelstation könnte ich aussteigen, aber ich will auf den Gipfel von Dubai.«

Irgendwann wird es dann auch mal Zeit für einen Einkehrschwung, denn »schon während der vierten langsamen Sesselliftfahrt frieren meine Finger ab. Ich hatte auf Handschuhe verzichtet, weil ich mir draußen einfach nicht vorstellen konnte, daß es hier drinnen wirklich kalt wird.«

Aufwärmen dann im »Avalanche Café«, der eingangs erwähnten Skihütte, wo Nina aus Indonesien »die angeblich beste Heiße Schokolade im Nahen Osten« serviert. Und Lesti fühlt sich »ungefähr so, als würde man sich im Hochsommer mit Wärmedecke in die Gefriertruhe setzen«.

Inklusive der Überschrift einer der eindrücklichsten Reiseberichte aller Zeiten! Man liest jede Zeile schaudernd-fröstelnd und hat sich selten so amüsiert.


Journalistische Interpunktion:
Kleist-Sätze und Satz-Kleister

Konstanz, 22. November 2008, 10:01 | von Marcuccio

Ein seit jeher praktischer RSS-Feed ist ja der so genannte »Blick in die Zeitschriften«. Neulich (FAZ vom 4. 11.) blickte Thomas Gross da in die Zeitschrift »Deutsche Sprache«, seine Überschrift:

Lesernähe. Durch Brüche!
Das sogenannte »parataktische« Schreiben nimmt zu.

Ich als Aficionado aller Leser-Blatt-Bindungen natürlich sofort angeteast … Mein Leserbriefgedächtnis schlug ein paar Purzelbäume, und dann war er wieder da, der legendäre Leserbrief »zur Grammatik in der FAS« (26. 6. 2005):

»Es fällt mir unangenehm auf. Daß in mehr und mehr Artikeln. Auch Ihres Blattes. Keine korrekten Sätze. Stehen, mit Subjekt, Prädikat, Objekt. Sondern Punkte. Regellos gesetzt werden. Ein Kniefall. Vor der Reklamesprache. Jetzt aber. Punkt!«

Keine Ahnung, ob Britt-Marie Schuster dieses formvollendete Traktat kannte. Auf jeden Fall hat sie – und darauf wies Gross‘ FAZ-Artikel hin – eben diese interessante Studie verfasst: Sie hat am Bsp. von »Spiegel«, »Zeit« & »stern« mal lingistisch untersucht, was Printjournalisten so alles anstellen, um Nebensätze zu vermeiden. Die gliedern ihre Sätze nämlich anders als früher, zum Beispiel so:

»Sie hat es geschafft, doch noch: Kanzlerin der Bundesrepublik Deutschland – die erste Frau, die nach oben durchgekommen ist.« (stern 48/2006, S. 29)

Die Interpunktion (»:«, »–«) übernimmt den Part, Satzteile zusammenzuhalten ohne sie syntaktisch unterzuordnen. Sie funktioniert also wie ein Nebensatz-Vermeidungsmechanismus, ein Satzkleister, der syntaktische Abhängigkeiten durch Gedanken­striche, Doppelpunkte usw. nivelliert. Für Gross haben die so instrumentalisierten Satzzeichen aber auch noch eine andere Wirkung:

»Sie rhythmisieren, heben etwas hervor, beziehen es auf ungewohnte Art auf andere Satzglieder und unterstützen den Dialog mit dem Leser, den der Text eröffnet.«

In diesem Sinne hat auch Gross alles richtig gemacht. Er eröffnete seinen FAZ-Beitrag nämlich gleich mal mit einem Zitat von Kleist (»Die heilige Cäcilie oder die Gewalt der Musik«):

»Auf die Antwort der jungen Klosterschwester: ja! sie erinnere sich davon gehört zu haben, und es pflege seitdem, wenn man es nicht brauche, im Zimmer der hochwürdigsten Frau zu liegen: stand, lebhaft erschüttert, die Frau auf, und stellte sich, von mancherlei Gedanken durchkreuzt, vor den Pult.«

Und hier ist exzessive Interpunktion natürlich nichts anderes als jener Kunstgriff, der Kleists Prosa so herrlich dramatisiert. Mit ihrer Dynamisierung von Schriftsprache haben Kleist-Sätze und moderne Medientexte mehr gemeinsam als man gemeinhin denkt.


Knigge und die Filmpiraterie

Konstanz, 1. November 2008, 17:41 | von Marcuccio

Manche meinen ja, das »Baader-Meinhof-Ärgernis«

»fängt schon mit dem Vorspann an. Dort wird man als zahlender Kunde erstmal wieder eingeschüchtert und mit Gefängnis bedroht, weil man ja theoretisch diesen Superdupi Film abfilmen und im Internet anbieten könnte. (…) Das ist genauso frech wie diese nicht vorspulbaren Spots auf Kauf-DVDs, in denen mehrere Jahre Knast angedroht werden, wenn man diese DVD jemals auch nur im Ansatz kopieren sollte. Als zahlender Kunde muss ich mich erstmal einschüchtern lassen?«

Nein, und deswegen kann man schon mal festhalten: Diese Angriffsrhetorik gehört zu den nervigsten neueren Film-Paratexten überhaupt.

Ginge der Pirateriehinweis nicht auch anders? Höflicher, stilvoller, umgänglicher? Vielleicht so wie gestern, im Kino.

Noch läuft die Eiswerbung. Dann geht das Licht wieder an, damit auch alle im Hellen auf den Eisverkäufer warten können. Jede Minute Verspätung ein Eis weniger, sage ich immer.

Neben mir kramt Palma ihre neueste Errungenschaft raus. Adolph Freiherr von Knigge: »Über den Umgang mit Menschen«.

»Eure Cover-Version unseres Libro del Cortegiano. Aus einem italienischen Epochenwerk für den Adel wurde eine deutsche Stilfibel für das Bürgertum.«

(Woher kennt sie eigentlich das Wort Stilfibel? Egal.)

Ich halte dagegen, dass zwischen Castiglione und Knigge immerhin 260 Jahre und eine Aufklärung liegen. Trotzdem: irgendwie ein Missverständnis, dass Knigge zum Knigge für Tischregeln und Kleiderkonventionen verkam … Übrigens sagt Palma tatsächlich »Njiddsche«. Wie eine Mischung aus »Gnocchi« und »Dittsche«.

Der Eisverkäufer ist im Saal (endlich!). Während tatsächlich noch was gekauft wird, flüstert mir Palma den Knigge ein. Über den Umgang mit Frauen. Über den Umgang mit Juden. Mit Geistlichen. Mit Gelehrten, Künstlern und Kaufleuten. Mit Fürsten, Vornehmen und Reichen. Mit Bauern, mit Tieren, mit »sich selbst« … und – das scheint gerade jetzt, wo das Licht runterdimmt und der Film endlich losgeht, angebracht: Über den Umgang mit Raubkopierern:

»Einige meiner Schriften sind in Wien und Leipzig nachgedruckt worden; sollte einer von der berüchtigten Zunft etwa auch auf dies Büchelchen eine korsarische Unternehmung von der Art wagen wollen, so dient demselben die Nachricht, daß alle Vorkehrungen getroffen sind, den Schaden eines solchen Diebstahls auf den Räuber fallen zu machen.«

Der Witz ist, dass Adolph Freiherr von Knigge das vor 220 Jahren schrieb (»Hannover, im Jänner 1788«). Am besten wir Kinogänger machen jetzt auch eine korsarische Unternehmung und projizieren den Satz mit unserem Handy-Beamer so lange an die Kinoleinwand, bis die Branche spannendere Urheberrechtshinweise textet.


Die Metapher »2.0«

Konstanz, 31. Oktober 2008, 18:28 | von Marcuccio

Wie lange sagen wir eigentlich noch »2.0«? Das frage ich mich schon länger, auch heute wieder, wo mir via »Börsenblatt«-Newsletter eine Anzeige für einen Reader zum Thema E-Book in die Mailbox flattert:

»Gutenberg 2.0« heißt das Werk. Gab es eigentlich in den letzten 2,0 Jahren etwas, das noch nicht 2.0 war? Was und wieviel muss eigentlich noch 2.0 werden, damit es mal wieder was Neues (3.0? bestimmt nicht, hehe) geben kann.

Und ich bin mir meiner Mitschuld (»Lesen 2.0«) ja durchaus bewusst, möchte an dieser Stelle aber trotzdem Dirk Knipphals danken. Denn ich glaube, es war Feuilletonpremiere, als er neulich (taz vom 18. 9.) schon mal versuchsweise so etwas wie einen Nachruf auf die Chiffre verfasste, um sie – weil’s so schön ist – doch noch ein letztes Mal selbst in Anspruch zu nehmen:

»Aus dem engeren Umfeld von Internet und Update hat sich diese Chiffre längst gelöst. Sie besagt nur noch, dass irgendetwas anders geworden ist als früher, und zwar leichter, anpassungsfähiger, aber dennoch keineswegs unverbindlich. Von der Ehe 2.0 hat man schon gelesen (man redet in ihr auch miteinander) und auch vom Hausputz 2.0 (offenbar gibt es besonders leistungsfähige Staubwischtücher).«

Wann aber kommt der wahre, lange Ganzseiter über den Anfang vom Ende der Endung 2.0? Vielleicht druckt die FAZ – wie seinerzeit das Genom – ja auch einfach mal seitenweise 2.0-Belege ab. In Form von Wortfeldern und Tag Clouds, das wäre vielleicht ein echter Nachruf 2.0.


Thomas Buddenbrook zur Finanzkrise:
»Wenn alles schon wieder abwärts geht …«

Konstanz, 30. Oktober 2008, 22:31 | von Marcuccio

20 Jahre später als Daniel Kehlmann lese ich dann auch endlich mal die »Buddenbrooks«, halb inspiriert von Kehlmanns Rede, halb getrieben von Panik, den Buddenbrooks womöglich alsbald unvorbereitet im deutschen Fernsehfilm-Kino zu begegnen.

Und es ist jetzt natürlich Zufall (oder doch Fügung? nein, einfach nur banal!), dass ich just heute auf Seite 431 angelangt bin: Das ist gut die Mitte in der Fischer-Taschenbuchausgabe von November 1996 (812.-836. Tausend) und zugleich der Punkt, wo Tom Buddenbrook eigentlich alles hat: einen Stammhalter, einen Posten im Senat, ein neues Haus. Allein …

»Ich weiß, daß oft die äußeren, sichtbarlichen und greifbaren Zeichen und Symbole des Glückes und Aufstieges erst erscheinen, wenn in Wahrheit alles schon wieder abwärts geht. Diese äußeren Zeichen brauchen Zeit, anzukommen, wie das Licht eines solchen Sternes dort oben, von dem wir nicht wissen, ob er nicht schon im Erlöschen begriffen, nicht schon erloschen ist, wenn er am hellsten strahlt …«

Was Tom da zu seiner Schwester Tony sagt, lässt nicht nur weiter großepische Niedergangsdiagnostik (»Verfall einer Familie«) erwarten. Es liest sich irgendwie auch wie eine Miszelle zu den rekordniedrigen Arbeitslosenzahlen inmitten der globalen Finanzkrise.


»Die Messe ist gelesen«

Konstanz, 20. Oktober 2008, 21:50 | von Marcuccio

Was für eine naheliegende, nichtsdestotrotz geile FAS-Headline für den Sonntag gestern, und für eine SONNTAGszeitung überhaupt.

Ich bin jetzt auch durch die FAS-Lit-Beilage vom vorletzten Wochenende: Tobias Rüthers Text zur JoachimKaiser-Biografie – voller Einlassungen und Anekdoten: Rainald Goetz, der leider nie zum Vorstellungsgespräch kam …

Meine Lieblingsstelle in der »Suada«: die Frage, wo Juli Zeh eigentlich steckt und die Mutmaßung:

»Bestimmt arbeitet sie zur Stunde an einem diesmal etwas ausführlicheren Essay über die Wirtschaftskrise und darüber, was speziell ihre Generation jetzt dagegen tun muss.«

Mäßig eigentlich nur Dirk Schümer, von dem ich ja sonst gern lese, aber vielleicht doch lieber über Slowfood- und andere italienische Themen als über deutsche Nachkriegsliteratur.

Übrigens, die »Teenage«-Besprechung in der Beilage der werktäglichen FAZ ist mit einem Bild von Franz Marc illustriert, witzigerweise musste ich sofort an Austins Diktum denken, über das Paco und ich uns im Kunsthaus Zürich unterhielten: Franz Marc ist der Deko-Maler fürs Mädchenzimmer.

Die FAZ-Rezensionen sind immer vollkornig, d. h. man kann die echt nur stückweise zu sich nehmen, wird dafür aber ausnahmslos nahrhaft versorgt und nicht so wischi-waschi-softi wie zuletzt vom neuen ZEIT-Literatur-Magazin, in dem man das Meiste vergessen kann und den Rest auch – bis auf Ursula März‘ Homestory bei Ruth Klüger.

Laut Dirk Knipphals (»buchmessern«) wird da hinter den Kulissen wohl noch um die Ausrichtung gerungen (Greiner vs. Illies).

Überhaupt ist ja ein ziemlicher Trend zur Ausdifferenzierung zu erkennen. Die FAZ macht jetzt sogar eine extra Buchmessenzeitung (!), mit People-Kram und Pics wie in der »Bunten« (schon gesichtet? Jürgen Dollase: in PDF Nr. 5, S. 12).

Insofern hoffe ich wirklich, dass die klassischen Rezensionsfriedhöfe noch viele Jahre weiter leben, weil die eben auch wirklich ein Service sind und das Saisonpanorama bieten.

Ende der Durchsage bzw. um zum Titel zurückzukommen: Amen.


Wie die FR das FAZ-Titelbilder-Voting erfand

Konstanz, 19. Oktober 2008, 20:12 | von Marcuccio

–Auch schon gevotet?
–Nee.
–Aber schon gehört?!
–Was?
–Na, wovon die halbe Halbwelt flüstert …
–???
–Von dem FAZ-Titelbilder-Voting, das ja eigentlich die FR erfunden hat. Genauer gesagt Arno Widmann, als er am 12. Juli diese Hymne anstimmte:

Das Foto ist inzwischen meistens völlig unerwartet und die Bildunterschrift klärt dieses Überraschungsmoment nicht flugs auf, »um die Leser« – wie es auf Journalistenschulen heißt – »abzuholen«, sondern spielt mit ihm, treibt es weiter bis zur Selbstpersiflage.

Tatsächlich ist das Seite-1-Foto der F-Zeitung nur selten ein klassisches Nachrichtenbild (dann ohne Strich direkt an den Aufmacher-Artikel gekittet). Meistens bildet das Titelbild eine Nische für sich, vom informationsjournalistischen Nachrichten-Rest durch einen mitteldicken Strich getrennt. Gedeiht hier also so was wie ein neues Feuilleton über dem Strich? Wenn man Widmann glauben darf, schon:

Man lese den von durchtriebenster Jean Paulscher Umständlichkeit inspirierten FAZ-Zehnzeiler, der gestern unter dem Foto von Seite eins stand: »›Unterteuft‹ nannte Thomas Mann die Tiefenschichten deutscher Geschichte und Politik (im ›Doktor Faustus‹), ein Wort aus dem Bergbau, wo Schächte nicht einfach gebohrt, sondern abgeteuft werden. Das Wort hat aber auch etwas von Taufe und Teufel in sich, weshalb es zu weitreichenden Betrachtungen über die unterschwellige Religion mancher Politik taugen könnte (zum Beispiel in der Atompolitik). Unser Bild zeigt eine Nische im Endlager Schacht Konrad mit der heiligen Barbara, der Schutzheiligen der Bergleute.«

Ein Klick ins Titelbilder-Mosaik und schon ist Widmanns Lieblingsnische (2. von links, 2. von unten) zu entdecken. »Auf sie soll’s tausend Preise regnen«, sagt Widmann, der seinerseits aber auch einen Preis verdient hat, für seine FAZ-Foto-Love-Story.


Dialektologie mit dem »Spiegel«

Konstanz, 18. Oktober 2008, 10:45 | von Marcuccio

Dass Leserbriefe für mich Feuilleton sind, dürfte sich ja mittlerweile herumgesprochen haben. Heute frage ich mich, ob ich neulich nicht eine Kategorie vergessen habe: das Bastian-Sick-Double, das nach gegenwärtiger Sachlage nur durch Matthias Matussek – und zwar mit Hilfe von Martin Walser –, nicht aber durch Alexander Osang gebannt werden kann. Doch immer schön der Reihe nach:

Auf S. 15 des aktuellen »Spiegel« (Nr. 42/2008) wird Alexander Osang von einem Leser aus Mainz für seine miserable Dialekt-Transkription kritisiert. Osang hatte in seiner Reportage »Pamelas Prinz« einen Pforzheimer Bordellbesitzer mit den Worten zitiert:

»Schöne Frau und schönes Auto. Pascht zusamme.«

»›Pascht zusamme‹ hat der Prinz mit Sicherheit nicht gesagt«, entrüstet sich nun der Leserbriefschreiber, nach unserer Typologie wohl eine Mischung aus Beschwerdeopportunist und Co-Referent, und erklärt:

»Das ist eine verbreitete Unart Norddeutscher, das süddeutsche Idiom misszuverstehen. Das ›sch–t‹ statt ›s–t‹ wird nicht bei allen Endungen verwendet. Das heißt ›passt‹ wie im Hochdeutschen, eventuell auch ›basst‹ – nie und nimmer aber ›pascht‹ –, vielleicht schon, weil man es ›sonscht‹ mit ›baschteln‹ oder ›Bascht‹ verwechseln könnte.«

Witzigerweise gibt es im selben »Spiegel«-Heft aber auch mal Norddeutsche, die es können. Auf S. 196 transkribiert Matthias Matussek einen Satz von Martin Walser:

»Das ischt doch alles Hysterie«.

Sagt der zur aktuellen Finanzkrise, und hier ist das »ischt« (unter Eingeborenen ja eigentlich nur »isch«) tadellos, ja sogar sehr gut beobachtet, weil nachgerade typisch: Nicht nur für Walser, sondern auch für Wolfgang Schäuble oder Volker Kauder, wenn sie Hochdeutsch intonieren, aber tatsächlich nur ihren Dialekt überkorrigieren.

»Der Spiegel«, diese Woche das deutsche Mundartmagazin.