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Bionade-Biedermeier jetzt auch als Kaffee-Remix

Konstanz, 12. Oktober 2008, 08:54 | von Marcuccio

Das Schöne am Feuilleton ist ja, dass es das doppelte Privileg hat, »die Krise« (seit Wochen der neue Beiname für den Wirtschaftsteil der FAS)

a) unterhaltsamer als alle anderen Ressorts zum Thema zu machen oder

b) eben auch gar nicht – und stattdessen weiter abgetaucht zu berichten über wirklich wichtige Dinge wie zum Beispiel: Kaffee.

Dessen Konsum fällt wohl spätestens seit Carl Gottlieb Hering in die Allzuständigkeit des Ressorts, behauptete aber erst in den letzten Jahren Eigenständigkeit. Zur Crema des noch jungen Genres würde ich (neben unserer Google-Earth-Datei natürlich) auf jeden Fall mal Martin Reichert und Christopher Schmidt zählen:

Reichert mit seinem legendären Legalize-it-Beitrag in der taz (»Konsensdroge Nummer eins«). Schmidt, der uns das Soundsystem einer Espressomaschine mit Wolfgang Petersen erklärte: »Unter dem extremen Druck stöhnt und ächzt das Material, bevor der Ka-Leu die erlösenden Worte spricht: ›Das muss das Boot abkönnen!‹«

In der taz vom vorletzten Samstag geht Jan Feddersen den notwendigen nächsten Schritt. Sein Porträt der Coffee-Shop-Kette Aran macht klar, dass es nach der Grundversorgung zunehmend um Diversifizierung geht, um die feinen Unterschiede zwischen Starbuck’s, McCafé & Co einerseits und Aran-Lifestyle andererseits.

Feddersens Idee ist die einer Milieuskizze: Aran als die bessere Kaffeehauskette für die besseren Menschen. Doch ein Heißgetränk und ein paar aufgebrühte Allgemeinplätze über die Selbstveredler in den Slowfood-Städten des reichen deutschen Südens machen noch keine gute Cover-Version des »Bionade-Biedermeier«. Umso mehr noch mal Glückwunsch an Hennig Sußebach, dessen Original demnach schon jetzt das Zeug zum Klassiker hat.


Zum Relaunch-Jahrestag der FAZ:
Welche Lesertypen sich bei Relaunchs outen

Konstanz, 5. Oktober 2008, 14:10 | von Marcuccio

[ Inhalt: Prolog1. Der Abbesteller2. Der Gratulant3. Der Betrogene4. Der Buchhalter5. Der Beschwerdeopportunist
6. Der Intimitätenausplauderer7. Der Zurückgebliebene
8. Der Co-Referent9. Der Markenleser10. Der Mythenfortschreiber ]

Prolog

Die einen wurden, so wie Paco & Co. in Madrid, böse überrascht. Die anderen versuchten, den Teufel noch in letzter Minute auszutreiben. Tatsächlich bedeutet so ein Relaunch wie derjenige der FAZ am 5. Oktober 2007 ja viel mehr als eine rein kosmetische Operation: Er ist der Moment der Katharsis jeder Leser-Blatt-Bindung und scheint überhaupt eines der letzten Exklusiv-Events zu sein, die das Printmedium zu bieten hat (nachdem es die Nachrichten als solche ja schon lange nicht mehr sind und echte Scoops auch nur halb so oft vorkommen wie wir Feuilletonjunkies gern behaupten).

Mediensoziologen sollten dringend mal sämtliche Leserreaktionen von allen Layoutreformen der letzten Jahre einsammeln und in einen Sammelband packen. Heraus käme ein ganz wunderbarer Reader über parasoziale Beziehungen voller Marotten und Spleens.

Das Schattenwesen ›Zeitungsleser‹: Es war nach dem Generallifting der FAZ vor einem Jahr genauso zu besichtigen wie bei der NZZ Anfang 2006 – nämlich sonderseitenweise – und hat auf jeden Fall das Zeug zur Typologie. Nirgends sonst lernt man seine Mitleser, aber womöglich auch sich selbst besser kennen wie nach Layout-Reformen seiner Zeitung.

(Alle Zitate stammen aus Leserbriefen der NZZ (26. 1. 2006), FAZ (10. und 13. 10. 2007) sowie den Kommentarsträngen zu Beiträgen des Fontblogs und des Antibuerokratieteams.)

1. Der Abbesteller

»Ich habe mein langjähriges Abonnement noch am selben Tag gekündigt.« Das ist und bleibt verdammt noch mal die aktivste Form, auf einen Relaunch zu reagieren. Deswegen ist der Abbesteller auch der eigentliche Actionheld aller Leser: wie die ganze Abbesteller-Szene längst ein Mythos, der von der Markenstrategie jeder mittelguten Zeitung denn auch ordentlich gepflegt wird. Oder wie sonst soll man es erklären, wenn Tobias Trevisan, Geschäftsführer der FAZ, von »rund 200« Abo-Kündigungen infolge der Layoutreform spricht?

Es irrt, wer glaubt, der Abbesteller kenne nur eine Handlung und Haltung. Der Abbesteller kann viel mehr als abbestellen: Er kann auch bloß vorhaben oder androhen, Abbesteller zu werden (»will ich dann nicht mehr abonnieren«) und er muss noch nicht mal Abonnent sein, um Abbesteller zu spielen:

»Ich sage es Ihnen ganz klar: Ich kaufe die F.A.Z. vorerst nicht mehr. Vielleicht hilft Ihnen mein bescheidener Protest als Korrektiv zu Ihrer zweifelhaften Umfrage, deren Ergebnisse zum ›Souverän‹ zu stilisieren Sie nicht müde werden.«

Der Abbesteller scheint stets aktiv und souverän. Dabei vergisst er, dass es ihn auch im Passiv geben kann. So ist sein natürlicher Feind der Leser, der sich im Relaunch-Graben mit der Zeitung verbündet und fordert: »Entziehen Sie den Nörglern das Abonnement!«

2. Der Gratulant

… ist mindestens so schnell aber eben nur halb so cool wie der Abbesteller. Alles Neue eines Relaunchs einfach gut finden kann auch ein FAZ-Leser. Die auffälligsten unter den Gratulanten sind die älteren Semester, die alle Neuerungen schon allein deswegen gut finden, weil sie um Himmels willen nicht als traditionalistisch und konservativ rüberkommen wollen. Besondere Kennzeichen: das explizite oder implizite »zwar … aber«:

»Gut gelungen, modern, attraktiv. Gratulation. Bin zwar schon 77 Jahre alt, aber für Neues noch immer aufgeschlossen.«

Besonders viele Gratulanten hatte übrigens die NZZ nach ihrem Relaunch vor knapp 3 Jahren. Was wir daraus für Schlüsse auf das Durchschnittsalter der Leserschaft der alten Tante schließen dürfen?

3. Der Betrogene

… definiert seine eigene Leser-Blatt-Bindung wie eine langjährige Beziehung und ist, zumindest was seinen Printmedienkonsum anbelangt (Radio, TV und Netz konsumiert man ja insgesamt promisker), streng monogam.

Umso mehr fühlt sich ein unerwarteter Relaunch seiner Zeitung für ihn ungefähr so an, als ob er seine bessere Frühstückshälfte in flagranti beim Fremdgehen erwischt: Da sieht die neue FAZ dann plötzlich so aus wie die alte FR, erinnert die Schreibung der Ressortnamen in Großbuchstaben unvermittelt an das Layout der NZZ. Kurzum: Der Betrogene erkennt sich in seiner eigenen Umblätter-Beziehung nicht mehr wieder.

Es gibt Betrogene, die versuchen, schon im Vorfeld auf den Betrug, den der Relaunch ihnen bescheren wird, vorbereitet zu sein. Sie haben extra einen Beziehungsratgeber gelesen und gelernt, auch in Extremsituationen verständnisvoll zu sein. Für sie geht die Zeitung, nur weil sie sich optisch verändert, noch lange nicht fremd.

»Als langjähriger F.A.Z.-Leser finde ich mich plötzlich in der Rolle eines treuen Ehemannes wieder, dessen Ehefrau gerade frisch vom Friseur kommt. Irritiert, und doch zugleich angenehm überrascht nehme ich Kenntnis von ihrem neuen Outfit.

Auch einen neuen Rock hat sie sich zugelegt. ›Gut siehst du aus‹, sage ich, auch um mich selbst zu überzeugen und meine zögerliche Haltung zu übertönen. Doch, doch, ich freue mich, dass sie sich schick macht. Schließlich tut sie’s ja für mich. Die Hauptsache ist freilich, dass in der Verpackung immer noch die Frau steckt, die ich kenne. Eine Ehe lebt mit wachsender Dauer davon, dass man dem, mit dem man sein Leben teilt, vertrauen kann. Aber auch von der Offenheit beider Partner, sich mit der Zeit weiterzuentwickeln und nicht ewig auf dem gleichen Punkt zu verharren. Zumindest hat das die Beziehung zwischen zwei Menschen mit der eines Lesers zu seiner Zeitung gemein.«

Eine andere Betrogene dachte eigentlich immer, sie führe eine offene Beziehung. Das Äußerliche, die visuelle Anmutung ihrer Zeitung schien ihr (gegenüber dem intellektuellen Gehalt) im Grunde gar nicht so wichtig. Bis zum Tag X: »Ich hätte selbst nicht vermutet, dass ich so emotional auf formale Aspekte reagieren würde, aber wenn man sich über viele Jahre an das Besondere (inhaltlich und eben auch gestalterisch) der F.A.Z. gewöhnt hatte, ist es ein ziemlicher Schlag.«

4. Der Buchhalter

Der Buchhalter führt genau Protokoll über alle Kränkungen, die seine Zeitung ihm und anderen Lesern zufügt. Er ist ein Pedant, der auch und gerade beim jüngsten Relaunch immer sämtliche Daten der Relaunchs aus früheren Jahren parat hat.

»Schon beim Übergang zu den Farbfotos machte sich hochqualifi­zierter Protest bemerkbar in den Leserbriefen vom 14. Februar 2003. Die Farbe Rot in verschiedenen Anwendungen löste dann eine weitere kritische Welle aus in den Leserbriefen vom 9. Dezember 2005 und 22. Dezember 2005. In den veröffentlichen Zuschriften ist damals mit großem Sachverstand und viel Herzblut das Nötige vorgetragen worden. Es war eine Zweidrittel- bis Dreiviertel­mehrheit aller Stellungnahmen. Bewirkt hat sie nichts.«

Warum der Buchhalter all diese Zeugnisse sammelt und ob er sie eventuell noch als Zeugenaussagen braucht, weiß man nicht so genau. Entweder er plant noch ein rückwirkendes Leser-Plebiszit, oder aber er führt für die Zeit seines Ruhestands eine Sammelklage im Schilde: Rückerstattung der Abo-Gebühren oder – wenn das nichts nützt – Schmerzensgeld. Im Grunde ist der Buchhalter ein besonders armer Hund: einer, den es eigentlich volle Breitseite emotional erwischt, der aber mit seinen Emotionen trotzdem nicht umgehen kann. Selbst das Schlussmachen gerät ihm zum formal-bürokratischen Akt: Und deswegen »… beende ich die jahrzehntelange Liebe zu dieser Zeitung bereits jetzt.«

5. Der Beschwerdeopportunist

… hat sowieso schon lange »feststellen müssen, dass die Qualität nachgelassen hat«. Aber im Grunde wird er vor allem jetzt »das dumpfe Gefühl eines Qualitätsverlustes nicht los«, denn jetzt ist Beschwerdezeit. Indiskretion Ehrensache hat dieses Prinzip in seinem schönen Münsteraner Brunnengleichnis zusammengefasst: In Münster wurde ein seit Jahren friedlich plätschernder Brunnen erst in dem Moment wahrgenommen, als man eine Skulptur drumherum baute. Ähnliches gilt für die Stellvertreterkritik am Layout, die eigentlich den Inhalt meint:

»Erst durch den Relaunch scheinen sich einige Leser Gedanken über die Zeitung zu machen, die sie seit Jahren lesen.«

Ein Relaunch ist so gesehen nichts anderes als der Elternsprechtag in der Schule oder das Stadtteilgespräch mit dem OB, ein formal organisierter Anlass zur Aussprache und Beschwerde.

Mancher Beschwerdeführer läuft dabei richtig zur Hochform auf und spinnt das Szenario gleich schon mal weiter. Science-Fiction für uns Leserbriefleser sozusagen:

»In zehn Jahren wird der ›Wandel der Lesegewohnheiten‹ zur F.A.Z. im Tabloid-Format mit noch größeren Farbanteilen und hundert Seiten Umfang geführt haben.«

6. Der Intimitätenausplauderer

Ähnlich wie der Beschwerdeopportunist hat auch der Intimitätenausplauderer eigentlich nur auf die Gelegenheit gewartet, sich mal mitteilen zu können – allerdings vor allem in eigener Sache.

Der Intimitätenausplauderer kann zum neuen Layout niemals nur gratulieren, er tut dies zum Beispiel als »Ihr treuester ostdeutscher Leser (seit 17 Jahren)«. Richtig so: Da wohnt der Typ also in Leipzig und will auch einmal Anerkennung (und sei es nur Leserbrieföffentlichkeit) dafür, dass er seine innere Einheit mit seinem damals extra bestellten Abo der Zeitung für Deutschland jetzt auch schon fast zur Volljährigkeit gebracht hat.

Mitteilen kann man – bzw. frau – sich aber auch, indem man seine Lebensgeschichte erzählt …

»Ich bin eines der selten gewordenen Kinder, die tatsächlich mit der täglichen Zeitungslektüre, sowohl der eigenen als auch der der Eltern, aufgewachsen sind.«

… seine aktuelle Lebenssituation schildert …

»Ich darf Ihnen mitteilen, dass mein Freund und ich, seit wir in unsere Studentenwohnung gezogen sind, Ihre Zeitung abonniert haben. Mein Freund, der von seinen Eltern eine andere Zeitung kannte, empfindet die Lektüre der F.A.Z. mittlerweile ebenfalls als Bereicherung.«

… oder seine Lesegewohnheiten. Hier wird es schon wieder ganz interessant, vor allem da, wo es Schnittmengen zum eigenen Verhalten gibt:

»Ich lese die F.A.Z. auch an Tagen, an denen ich wenig Zeit habe. (…) Wenn mich ein Text besonders interessiert, so hebe ich ihn für das Wochenende auf.«

Die letzten drei Zitate übrigens von ein- und derselben Leserbriefschreiberin. Übel spielt das Schicksal auch jenen mit, die eine Layoutreform als erhebliche Störung ihrer rituellen Lesepraktiken empfinden:

»Jede Ausgabe wird von mir mit der großen Papierschere zerschnitten nach interessanten Beiträgen, die ich an befreundete Menschen, aber auch an meine Kinder verschicke. Die Quellenangabe F.A.Z. konnte ich mir oft sparen, denn die Empfänger erkannten schon an der Aufmachung, aus welcher Zeitung der Beitrag stammte. Das ist nun vorbei (…).«

Wer weiß, wie viele Verwandte und Freunde jetzt nur deswegen keine Post kriegen, weil der Herr keine Lust mehr hat, extra überall FAZ dazuzuschreiben. Solange die Leute noch nicht erzählen, wie der Fischhändler heißt, der seine Fische mit ihrer alten Zeitung …

7. Der Zurückgebliebene

… ist der tragischste aller Lesertypen, die sich nach einem Relaunch outen. Er kriegt wohl weiter mit, dass es mal wieder – schon wieder – Veränderungen im Blatt gab, doch in Wahrheit leckt er immer noch seine Wunden vom vorletzten und vorvorletzten Relaunch. Seine Meinung zur aktuellen Layoutreform äußert er nur, um die Erinnerung wach zu halten. »Vor einigen Jahren hatten Sie freitags die Spalte für den Philatelisten. Ich vermisse sie immer noch.«

Zum Loser in den Leserbriefspalten wird der Zurückgebliebene vor allem neben dem Gratulant, der fragt: »Wann kommt der nächste Schritt?«

8. Der Co-Referent

… scheint auf den ersten Blick emotionslos, weil er nach dem Relaunch nicht zürnt, nicht lamentiert, nicht leidet. Seine Leidenschaft gilt den überzeitlichen Dimensionen: Wie wäre es zum Beispiel mit einem Nachruf auf die Fraktur?

»Am 6. Oktober 2007 endete ein halbes Jahrtausend der ›Zweischriftigkeit‹, das heißt der Konkurrenz der gebrochenen Schriften aus Mittelalter und der römischen Antiqua, welche die Humanisten zu neuem Leben erweckten. Während in den Nachbarländern die sogenannten gotischen Schreib- und Druckschriften mit ihren eckigen, spitzen, verzierten Buchstaben bald außer Brauch gerieten, blieben sie im deutschen Sprachgebiet für alle deutschen Texte bewahrt, die Antiqua war lateinischen und anderen fremdsprachigen Texten vorbehalten und kurioserweise allen Fremdwörtern, die auf diese Weise – mitten im Fraktur-Fließtext – als Ausländer markiert würden.«

Wer sich für den ganzen Vortrag interessiert – in dem es u. a. noch um Friedrich den Großen, der »als frankophoner Literat die Antiqua bevorzugte«, eine Reichstagsdebatte 1911 und den Führererlass zur Fraktur 1941 geht – sollte bei eBay dringend eine FAZ vom 13. Oktober ersteigern oder sich direkt an Prof. Dr. Horst Haider Munske aus Erlangen wenden.

9. Der Markenleser

Der Markenleser schätzt seine Zeitung wie den Manufactum-Katalog. Es gibt sie noch, die gute alte Fraktur, die Titelseite ohne Bild, die Linien zwischen den Spalten. Der Markenleser ist also ein Leser, der sich ganz bewusst entschieden hat. Er ist bzw. war stolz, »eine Zeitung zu lesen, die es nicht mit den Boulevardzeitungen hielt, nämlich eine Verkaufsaufmache für Analphabeten zu gestalten«.

Vom Relaunch wird er aufgescheucht wie ein Stück Wild. Es gefällt ihm ganz und gar nicht, »im Einerlei des Blätterwaldes keine Zuflucht mehr zu haben«, und er wünscht sich nichts sehnlicher zurück als seine alte Schutzzone: »Warum muss die F.A.Z. die Leser mit Bildern auf der Titelseite behelligen, wo wir doch Tausende Bilder täglich auf uns einwirken sehen?«

Als aufgeklärter Leser hat natürlich auch der Markenleser verstanden, dass Relaunchs heute zur Marketingstrategie dazugehören. Also versucht er, auf dieser Ebene zu argumentieren:

»Ich wünsche mir sehr, dass Sie zu Ihrem bisherigen Layout zurückkehren, ich betrachte es nicht zuletzt auch als einen betriebswirtschaftlichen Wert, eine Unique Selling Proposition.«

Aber im Grunde seines Herzens überwiegt die Enttäuschung:

»Es bleibt mir auf der ganzen Linie unerklärlich, wie eine Zeitung wie die Ihrige auf die Idee verfallen kann, ein weltweit einzigartiges Markenzeichen – Titelseite ohne Foto – (…) einfach aus der Hand zu geben.«

Vielleicht muss sich aber mal wieder ein Christian Kracht für ein neues Bilderverbot stark machen, um die Leser-Blatt-Bindung zu reaktivieren?

10. Der Mythenfortschreiber

Was den Mythenfortschreiber von allen anderen Leserreaktionen abhebt, ist sein Gespür für das, was geht und kommt und bleibt. Schon im Vorfeld kann er den Relaunch, so wie Kommentator Bernie, kaum erwarten:

»Als Abonnent freue ich mich schon seit Tagen darauf! Die Leserbriefspalten waren zuletzt so lustig, als sie die neue Rechtschreibung eingeführt haben. Erst in den FAZ-Leserbriefen erfährt man, was das Abendland wirklich ausmacht (und wie bald es untergehen wird).«

Der Mythenfortschreiber tut so, als ob er klein-klein über Typo-Fragen fachsimpelt, so wie die Jungs vom Antibuerokratieteam oder die Fontblogger. In Wahrheit schreibt er die alten großen Erzählungen unserer Feuilletonväter fort: Dinge wie die »Prantelei« der S-Zeitung oder die Farbenlehre der »Zeitung für Deutschland«. Schwarz die Politik, rot das Feuilleton, gold (gelb) der Wirtschaftsteil. Es gibt Hunderte solcher Geschichten, bei Relaunch-Gelegenheiten kommen sie bevorzugt ans Licht.

Ganz großes Kino ist natürlich auch der taz-Genosse, der sich in der FAZ vom 13. 10. 2007 als Abbesteller outete: Vielleicht zeigt gerade sein Statement, was taz und FAZ zu den besten Verbündeten innerhalb der Halbwelt des Feuilletons macht:

»In Wahrheit war die F.A.Z. – mit ihrer anarchistischen Frakturschrift, der ästhetisch schwarz-weißen Titelseite inmitten der allgegenwärtigen Bilderflut, der David-gegen-Goliath-Standhaftigkeit gegen die unsinnige Rechtschreibreform, dem unabhängigen, exzentrischen Feuilleton (die besten Artikel über Reggae-Platten und Pop-Konzerte), dem Pfund guerrillahaft-unabhängiger Medienberichterstattung, den anachronistischen Konservativ-Kommentaren und vor allem dem altmodischen Mut zur Ernsthaftigkeit – die radikale Tageszeitung Deutschland.«

Eine schönere Liebeserklärung hat man jedenfalls lange nicht gelesen. Ob der schwer verliebte taz-Genosse sich am Tag X auch so sehr in diese Seite seiner taz verknallt hat?

TAZFAZ


Der Rilke-Panther unter den Geysiren

Konstanz, 13. September 2008, 09:25 | von Marcuccio

»Unbedingt vermeiden«: Die aus »Ferien für immer« bekannte Rubrik für alle, die unterwegs sind, bekommt heute mal einen neuen Eintrag: den »Brubbel«.

Brubbel ist ein Kaltwassergeysir, der einzige des europäischen Festlandes. Heißt es. Und also für jeden Wanderer in der Gegend eine Reise wert. Dachten wir. Weil man bei Geysiren ja immer gern an Island und Naturgewalten denkt, eventuell auch an Erdspuk und Gespenster von Judith Hermann.

Doch: Deutschland ist nicht Island, und Brubbel in der Vulkaneifel ist vielleicht geologisch ein Geysir; rein optisch könnte er auch ein Dorf-Springbrunnen mit Intervallschaltung sein oder, das noch viel mehr, die verdreckte Kneipptretanlage von Wallenborn.

Brubbel ist ein domestizierter Geysir, aber was für einer. So ziemlich der worst case dessen, was einem Geysir passieren kann: Eingefasst in eine kreisrunde Betonschalung mit Metallbrüstung drumherum darf Brubbel (auch bei YouTube) alle 30-35 Minuten brubbeln.

Wie wir ums Brubbel-Gitter stehen und warten, dass das passiert, gehen uns, zwei Dumme, ein Gedanke, die Lyrics nicht mehr aus dem Kopf:

Ihm ist, als ob es tausend Stäbe gäbe / und hinter tausend Stäben keine Welt.

Natürlich, das hier ist der Rilke-Panther unter den Geysiren. Und hatte »R.M.R« nicht sowieso ein Faible für alles, was sprudelt? Fontänen? Vielleicht müssen die Philologen ja noch mal ran, und am Ende beschreibt der Panther-Knacker der deutschen Literatur gar keine Kreatur im Pariser Jardin des Plantes … all das passiert hier, im Wasser-Verlies von Wallenborn:

Nur manchmal schiebt der Vorhang der Pupille / sich lautlos auf

… das ist genau der Moment (bei YouTube die Min. 0:20), in dem sich unter dem armseligen Drahtkäfig die braune Brühe hebt und anzeigt, dass Brubbel, nun ja, gleich kommt.

Und wie er das (bitte schön spritzsicher hinter dem Geländer) vor aller Augen tun muss,

der sich im allerkleinsten Kreise dreht,

mit einem

»Tanz von Kraft um eine Mitte, / in der betäubt ein großer Wille steht«

Sogar der tolle Umstand, dass Brubbel, wenn er kommt, bis zu 3 Meter hoch kann, ist dann doch eine ziemliche Porno-Nummer für Touristen: Man verengte vor ein paar Jahren einfach den Durchmesser der Bohrleitung. Das erhöhte den eruptiven Druck und gibt der ganzen Geschichte sowieso den Rest, denn Brubbel kam ja nie naturgewaltig ans Licht der Welt: Er wurde, wie die örtliche Website in seltsamer Diktion vermeldet, 1933 »in seiner Einmaligkeit ›geschaffen‹«.

Wie gesagt, bitte unbedingt vermeiden.


Darf man das lesen? (Teil 14):
Das D-Radio-Programmheft

Konstanz, 3. September 2008, 14:25 | von Marcuccio

Diesen Monat muss man das D-Radio-Programmheft sogar lesen, wenn man die ganze Wahrheit über uns Umblätterer erfahren will: »Ein guter Umblätterer ist ein Segen, ein schlechter ist ein Fluch«, heißt es im aktuellen September-Heft (S. 5). Und weiter:

»Die edle Kunst des Umblätterns beherrschen offenbar nicht viele. (…) Umblätterer bekommen keinen Applaus. Sie werden ignoriert, sind eigentlich nicht da. (…) Welche Fauxpas geschehen immer wieder? Und: Wie sehen Umblätterer-Karrieren aus? Die Musikszene gibt Einblick in eine unterschätzte Kunst.«

Die »Geschichten von Notenwendern und Blätterknechten« am kommenden Sonntag, 7. September, um 15:05 im Deutschland­funk …

Das D-Radio-Programmheft liest man also niemals nur aus den bekannten praktischen Gründen. Man muss es vor allem als monatliche Mythen-Beigabe lesen:

Zum Beispiel: Der Seewetterbericht

Wenn Jörg Kachelmann sich im Gastkommentar (# 8/2007) als Reformator des DLF-Wetterberichts bewirbt (Es »gäbe natürlich schon eine Welt jenseits des ›teils heiter, teils wolkig‹.«), dann denke ich: Wohl wahr, hehe, aber scheint ja nichts draus geworden zu sein … zum Glück für den (zumal am Binnengewässer) doch immer wieder gern gehörten, ominösen Seewetterbericht: »Östlich Fehmarn West bis Südwest 5 bis 6, Böen 7«. So geil.

Zum Beispiel: Die Mittagsfrau

Wenn Julia Franck auf der Promi-Seite des Programmhefts (# 12/2007) erklärt …

»Auch die Nachrichten sind meine Lieblingssendungen. Ihre Sprecher und Moderatoren kann ich größtenteils von den Stimmen her unterscheiden.«

… dann weiß ich, dass meine Favoritin auf jeden Fall die »Mittagsfrau« ist, die um 12 Uhr 50 immer die »Internationale Presseschau« spricht. Da wird »die Zeitung ›Die Welt‹« mit der gleichen öffentlich-rechtlichen Sorgfalt zitiert wie »Jyllands-Posten« oder der »New Zealand Herald«.

Zum Beispiel: Das Gesamtwerk

Hat eigentlich schon jemand gemerkt, dass das Deutschlandradio-Programmheft die Edition Suhrkamp unter den Rundfunk-Postillen ist? Man muss es nur lang genug abonnieren und archivieren, dann steht man irgendwann wie Siegfried Unseld vor seinem berühmten Spektral-Regal.

Deutschlandradio, Deutschlandfunk, Sammlung von Programmheften

Das schafft kein arte- und kein 3sat-Magazin. Und die kosten sogar noch extra, während das D-Radio-Heft, man sollte es eigentlich nur flüstern, immer noch für nichts als unsere Gebühren frei Haus geliefert wird. GEZ-Teilnehmer sollte man bei Abo-Abschluss freilich schon sein, es sei denn, man will sich gerade auf diese Art anmelden …


Das Wetter vor 95 Jahren

Konstanz, 15. August 2008, 06:20 | von Marcuccio

Das Wetter vor 95 Jahren, nicht zu verwechseln mit Wolf Haas‘ Roman »Das Wetter vor 15 Jahren«, nach dessen Lektüre sich der »Zeit«-Rezensent Hubert Winkels »postkoital erschöpft« fühlte, das Wetter vor 95 Jahren also präsentierte sich so:

»Über dem Atlantik befand sich ein barometrisches Minimum; es wanderte ostwärts, einem über Rußland lagerndem Maximum zu, und verriet noch nicht die Neigung, diesem nördlich auszuweichen. Die Isothermen und Isotheren taten ihre Schuldigkeit. Die Lufttemperatur stand in einem ordnungsgemäßen Verhältnis zur mittleren Jahrestemperatur, zur Temperatur des kältesten wie des wärmsten Monats und zur aperiodischen monatlichen Temperaturschwankung. Der Auf- und Untergang der Sonne, des Mondes, der Lichtwechsel des Mondes, der Venus, des Saturnringes und viele andere bedeutsame Erscheinungen entsprachen ihrer Voraussage in den astronomischen Jahrbüchern. Der Wasserdampf in der Luft hatte seine höchste Spannkraft, und die Feuchtigkeit der Luft war gering. Mit einem Wort, das das Tatsächliche recht gut bezeichnet, wenn es auch etwas altmodisch ist: Es war ein schöner Augusttag des Jahres 1913.«

Natürlich: Das ist der berühmte Wetterbericht, mit dem Robert Musils »Mann ohne Eigenschaften« anhebt, der neben dem Joyce-»Ulysses« und der Proust-»Recherche« allseits anerkannte Dritte im Bunde der »dicken Drei« der klassischen Moderne.

Meteorologie als epische Aufgabe

Das Tolle an diesem Wetterbericht: Er ist ein »Tagesthemen«-Strömungsfilm vor seiner Zeit: Denn natürlich sind Isothermen und Isobaren, die ihre Schuldigkeit tun, Ironie pur: die (noch) heile Welt Kakaniens fügt sich sogar am Himmel in ihre satte atmosphärische Ordnung.

Wer den Wetterbericht aber nur den poetischen Fähigkeiten Musils zuschreibt, der wird nun eines Besseren belehrt. Wie Hermann Bernauer in seiner kleinen, feinen Studie namens »Zeitungslektüre im ›Mann ohne Eigenschaften‹« schreibt, war so ein epischer Wetterbericht damals das Normalste von der Welt:

»Die Wetterberichte in den Wiener Zeitungen um 1913 waren von einer Ausführlichkeit, wie sie heute unbekannt ist. (…) Die Wetterkarte wurde nicht gedruckt, sondern beschrieben (…). Daher (…) technisches Vokabular, das einige Ansprüche stellte an das Vorwissen der Leser. Die Neue Freie Presse brachte ausser den täglichen Wetterberichten Mitte und Ende des Monats noch einen ausführlicheren über das Wetter der vergangenen Wochen, geschrieben von einem Meteorologen.« (S. 149)

Und dann wartet Bernauer tatsächlich mit einem solchen O-Ton auf, und auffällig natürlich zuallererst die Tatsache, dass Meteorologen vor 95 Jahren noch nicht »Ben Wettervogel« hießen:

»Ausdauernd schlechtes Wetter. Von Dr. O. Freiherrn v. Myrbach, Assistenten der Zentralanstalt für Meteorologie.

›Wie zu befürchten war, hat das heurige Sommerwetter im Wesentlichen den Charakter treulich beibehalten, den es von Anfang an trug. Seine Härten haben freilich etwas nachgelassen (…). Das will aber noch nicht viel sagen, denn der Beginn des Sommers war so aussergewöhnlich schlecht, dass auch die spätere Zeit trotz der Besserung noch als schlecht bezeichnet werden muss …‹.« (S. 150)

Das war in der »Neuen Freien Presse« vom 15. August 1913 zu lesen. Der Wetterbericht als narratives Entertainment, er begann also schon Jahrzehnte vor der Kachelmann’schen Blumenkohlwolken-Show. Und auch der Meteorologe als Wettertröster bei schlechtem Wetter praktizierte schon, immerhin: er hatte sprachlich Niveau.

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Hermann Bernauer: Zeitungslektüre im »Mann ohne Eigenschaften«.
München: Wilhelm Fink Verlag 2007. (Verlagswebsite / Rez. FAZ)


Europa sucht den Superleser

Konstanz, 14. August 2008, 06:56 | von Marcuccio

»Zu Hause lese ich schon seit Jahren kein Buch mehr (…), ich habe niemals in meinem Leben ein einziges Buch ausgelesen, meine Art zu lesen ist die eines hochgradig talentierten Umblätterers, also eines Mannes, der lieber umblättert als liest …«

(Thomas Bernhard: Alte Meister. Ffm.: Suhrkamp 1985, S. 38 f.)

Hatte es der Umblätterer, auf den Spuren von Thomas Bernhard, getAbstract und Lesen 2.0, nicht immer prophezeit? Das ungelesene Buch wird das Mega-Thema der nächsten Jahre. Jetzt geht’s los: Der Literaturbetrieb schreibt sein erstes Lesestipendium aus.

Richtig gelesen: Le–se–sti–pen–di–um. Subventioniertes Schreiben im Bahnwärterhäuschen ist megaout, neu gibt’s Geld und Zeit und Haus (ok, Gästewohnung) fürs Lesen, offeriert von der Grazer Schreibkraft.

Was man mitbringen muss, ist eine Leseliste mit zehn Titeln. Eine Begründung, warum man die zu lesen vorhat. Plus die Bereitschaft, sich als Vertreter der »subventionswürdigen Spezies« Leser (FR) hinterher interviewen zu lassen. Im Gegenzug bekommt man drei Wochen Lesezeit in Graz mit 1100 Euro spendiert. Ist das ein Angebot für Umblätterer oder ist es keins?


Markus Peichl und sein »Neues Deutschland«

Konstanz, 2. Juli 2008, 22:46 | von Marcuccio

Neulich wurde in der FR die Partie Österreich–Schweiz ausgetragen, ein redaktionelles Benefizspiel, bei dem sich die beiden Länder mal über eine komplette Zeitungslänge und quer durch alle Ressorts duellieren durften. Wobei es nicht nur zu spannenden Zweikämpfen kam, über die wir hier vielleicht noch mal gesondert berichten. Es gab mit Franz Schuh auch eigens einen Günter Netzer (»Ich behaupte, dass die Schweiz die Antwort auf die Fragen ist, die Österreich stellt«). Vor allem aber gab es diese Überraschung:

48. Spielminute respektive Zeitungsseite: Arno Widmann führt uns in seiner schönen Rückblende »Tutti Frutti und der Zeitgeist« noch mal vor Augen, was die beiden wichtigsten Medieninnovationen in der BRD vor dem Internet waren: das Privatfernsehen à la Helmut Thoma und der Zeitgeistjournalismus à la Markus Peichl. Wahrlich historische Achtziger-Jahre-Flanken aus Österreich, während die späteren drei Rogers aus der Schweiz, von denen Oliver Gehrs im aktuellen »Dummy«-Magazin erzählt, nicht wirklich torgefährlich wurden.

Doch zurück zum Widmann-Artikel. Wirklich augenfällig an dem war nämlich dieser Markus Peichl auf dem Foto von anno ’88:

Peichl, Neues Deutschland, Quelle: FR 2008

Da steht er und liest sein »Neues Deutschland«, als ob ihn das Duell AUT–SUI in der FR überhaupt nichts anginge. Und er hat ja recht, schließlich, hehe, war diese Partie bei »Tempo« längst entschieden: Da saß Peichl im Chefsessel, und Kracht und Kummer standen am Kopierer

Das Peichl-Foto erinnert selbstverständlich an die »Tempo«-Aktion schlechthin:

Frühjahr 1988. Redakteure des Hamburger Zeitgeist-Magazins fälschen eine komplette Ausgabe des ND und schmuggeln sie in die DDR: Immerhin 6.000 Exemplare verkünden den neuen Glasklar-Kurs der SED und machen aus dem ND ein historisch einmaliges Lesevergnügen.

In dem ganzen Widmann-Artikel wird die Sache, auf die das Foto verweist, übrigens mit keinem Satz erklärt oder erwähnt, insofern war das wirklich Feuilleton für Fortgeschrittene. Als Genuss-Umblätterer kann man aber trotzdem noch mal die schöne Seite 3 der »Berliner Zeitung« hinzuziehen. Dort hat Andreas Förster nicht nur erschöpfend zu der Tempo-Aktion geschrieben, er wartet auch mit der eigentlichen Pointe der Geschichte auf, die – wie könnte es anders sein – in der Nachwendezeit spielt.

Nicht zu vergessen das falsche »Neue Deutschland«, dessen Lektüre im Original natürlich unbedingt lohnt, voilà.


Vor dem Spiel:
Sehr sehr, ganz ganz, absolut

Konstanz, 25. Juni 2008, 18:44 | von Marcuccio

Überraschungsmomente in der Regionalzeitung, heute: Fußballer­sprache. Aber keine Sorge, keine weiteren Kalauer vom Schlage »Mailand oder Madrid – Hauptsache Italien« oder »Die Medien haben das alles hochsterilisiert«. Nein, an Ralf Mittmanns »Anpfiff« im heutigen »Südkurier«-Sportteil ist überhaupt nichts regionalzeitungssteril.

»Auch für Medienvertreter sind Pausentage schwierige.« Endlich mal ein Sportreporter, der überhaupt noch ausspricht, dass nun nicht jeder Trainingslagergrashalm das ultimative Rasenereignis vor dem Spiel ist. Und der sich, weil trotzdem täglich neue Presse­konferenzen von und mit der deutschen Elf anstehen, auch mal auf neue Standardsituationen verlegt, etwa das Zusammen­rücken der »Sprache vom Bundestrainer bis zum 23. Spieler«:

»Da ist alles ›sehr, sehr‹ oder ›ganz, ganz‹, und muss ein Wort ausreichen, Aussagen zu unterstreichen, dann gibt es nur eines: ›absolut‹. Tag für Tag, ›sehr, sehr‹, ›ganz, ganz‹ und ›absolut‹. So passen wir uns also an und teilen mit: Die sehr, sehr lange Zeit des Wartens hat heute ein Ende. Auch wenn es ein ganz, ganz schwerer Gang gegen die Türken wird, ist es absolut gut, dass gespielt wird. Sehr sehr überzeugt sind wir von einem deutschen Sieg, ganz ganz sicher sind wir aber absolut nicht.«

Das ist doch mal fein aufgegriffen. Und man malt sich schon jetzt zukünftige Strafarbeiten für Medienlinguisten oder Sportpublizistik-Studenten aus: Ermitteln Sie aus den Mannschaftsleistungen auf dem Platz und dem Sprachgebrauch der Spieler bei Presse­gesprächen den Teamgeist-Koeffizienten aller DFB-Pflicht­spiele seit der Ära Klinsmann. Oder so.


Darf man das lesen? (Teil 13):
»Bücher«

Konstanz, 25. Juni 2008, 07:55 | von Marcuccio

Na, selbstverständlich darf man Bücher lesen. Bei der gleich­namigen Zeitschrift ist eine gewisse Sigrid Löffler vermutlich anderer Meinung, schließlich hat sie ihr »Journal für Bücher und Themen« seinerzeit nicht umsonst »Literaturen« getauft (und die Domain-Posse mit Christian Kracht nahm ihren Lauf, aber das ist eine andere Geschichte …).

»Bücher. Das unabhängige Magazin zum Lesen« erscheint seit 2003, in einem Verlag, von dem der eine oder andere vielleicht schon mal die »blond«, das »snowboarder MBM« oder auch »Sylt geht aus« (stand hierzu nicht schon alles in »Faserland«?) in der Hand hatte.

Zur Optik nur soviel: Heft 3/2008, mit einer makellosen Nina Hoss auf dem Cover und dem Titelthema »Einsamkeit: Das Gefühl 2008«, könnte glatt als Klon des G&J-Titels »emotion« durchgehen.

Aber ich muss gestehen, ich fühle mich, seit ich das Magazin kenne, vom normalen Feuilleton ein wenig unterversorgt, denn mindestens vier feine »Bücher«-Rubriken gibt es, die es so sonst nirgends gibt:

1. Das »Cover-Ranking«

Please judge a book by its cover: Hier werden Bücher (und zwar jeweils zwei) endlich mal unter rein verpackungsästhetischen Gesichtspunkten rezensiert. »Denn das Auge liest mit« … Die in Heft 3/2008 gestellte Frage, warum ein- und dasselbe Cover (»a rose is a rose is a rose«) hier vollkommen in Ordnung und da total daneben geht, ist wirklich eine hübsche Idee, zumal für Paratext-Freunde.

2. »Wiederentdeckte Klassiker«

Das Prinzip der Buchpatenschaft als solches ist ja nichts Neues, die lit.Cologne hat ein eigenes Veranstaltungsformat draus gemacht und der »Spiegel« präsentiert allwöchentlich »Das Buch meines Lebens«. Ob es funktioniert, hängt wie im DLF bei »Klassik-Pop-et cetera« eben immer auch davon ab, wer den Paten macht. Hier schreibt Helmut Krausser, und das seit mittlerweile 28 Folgen – womit sich das Ganze schon jetzt als Steilvorlage für ein zukünftiges Bibliotheksporträt bei »Cicero« empfiehlt.

3. »Verhinderte Bestseller«

Egon Friedell als »Klassiker, der in diesen Ferien dran ist«? Was uns Peter Richter in der FAS empfiehlt (neben »Maschinenwinter« als Strandlektüre), steht vorher hier: Schon im letzten »Bücher«-Heft feierte Björn Vedder die »Kulturgeschichte der Neuzeit« (»ein barocker Überfluss an Wissen, eine virtuose One-Man-Show«) und ihren Autor gleich dazu:

»Seinen Künstlernamen Friedell trug er seit seiner Dissertation über ›Novalis als Philosoph‹ 1904. Sein Leben in der Wiener Boheme erforderte bald Kuren gegen Alkoholismus und Fettlebigkeit. Als am 16.03.1938 SA-Männer den ›Juden Friedell‹ abholen wollten, wie er selbst meinte, sprang er aus dem Fenster seiner Wohnung in den Tod – jedoch nicht, ohne die Passanten vor seinem Aufprall zu warnen.«

4. »Überschätzte Bücher«

Eine so überschriebene Seite als letzte Seite einer Zeitschrift namens »Bücher« – das ist doch mal ein super selbstironisches Heftfinale. Dabei versteht sich das Motto durchaus als seriös, nämlich als Gelegenheit, um zwischen allerlei akuten »Feuchtgebieten« und dem nicht zitierfähigen »Neid. Ein Privatroman« noch mal nachzufragen: Was war eigentlich dran an Elfriede Jelineks »Lust« vor fast 20 Jahren, was stand da drin? Klare Antwort von Andrea Neuhaus in Bücher 3/2008: Nichts, außer einem einzigen »Altherrenwitz, ausgebreitet auf mehr als 250 Seiten«.

Literaturhypes revisited, ein Gegengift zu mancher Feuilleton-Sause, das erst retrograd so richtig heilsam wirkt.


Mit Thomas Bernhard auf NZZ-Rallye

Konstanz, 18. Juni 2008, 07:05 | von Marcuccio

Wir Umblätterer tun ja viel, um an unseren Stoff zu kommen: Wir stellen uns dem Tauben-Terror und teilen brüderlich den »Spiegel«. Aber bei aller Passion haben wir immer noch ein unerreichtes Role Model: Thomas Bernhard.

»Und es ist mir damals auch klargeworden, daß ein Geistesmensch nicht an einem Ort existieren kann, in dem er die Neue Zürcher Zeitung nicht bekommt. (…) Wir sollten uns nur immer da aufhalten, wo wir wenigstens die Neue Zürcher Zeitung bekommen (…).«

Was sich hier und heute wie ein bestelltes Testimonial-Statement liest, steht so tatsächlich in »Wittgensteins Neffe« (Suhrkamp-Ausgabe von 1982, S. 90) und kündet von weiland echter Not: Denn erstens gab es damals weder NZZglobal noch Perlentaucher noch sonstige Netz-Dienstleistungen des »betreuten Lesens« (Kathrin Passig). Und zweitens war die papierne NZZ in Österreich seinerzeit wohl wirklich nicht an jeder Ecke erhältlich. »Jedenfalls«, so Bernhard, »nicht an jedem Tag und gerade dann, wenn man sie unbedingt braucht.«

km 0

Einmal aber, schreibt Bernhard in »Wittgensteins Neffe«,

»(…) hatte ich die Neue Zürcher Zeitung haben müssen, ich wollte einen Aufsatz über die Mozartsche Zaide, der in der Neuen Zürcher Zeitung angekündigt gewesen war, lesen und da ich die Neue Zürcher Zeitung, wie ich glaubte, nur in Salzburg, das von hier achtzig Kilometer weit weg ist, bekommen kann, bin ich im Auto einer Freundin mit dem Paul um die Neue Zürcher Zeitung nach Salzburg, in die sogenannte weltberühmte Festspielstadt gefahren. Aber in Salzburg habe ich die Neue Zürcher Zeitung nicht bekommen. Da hatte ich die Idee, mir die Neue Zürcher Zeitung in Bad Reichenhall zu holen und wir sind nach Bad Reichenhall gefahren, in den weltberühmten Kurort. Aber auch in Bad Reichenhall habe ich die Neue Zürcher Zeitung nicht bekommen und so fuhren wir enttäuscht nach Nathal zurück. Als wir aber schon kurz vor Nathal waren, meinte der Paul plötzlich, wir sollten nach Bad Hall fahren, in den weltberühmten Kurort, denn dort bekämen wir mit Sicherheit die Neue Zürcher Zeitung und also den Aufsatz über die Zaide und wir sind tatsächlich die achtzig Kilometer von Nathal nach Bad Hall gefahren. Aber auch in Bad Hall bekamen wir die Neue Zürcher Zeitung nicht. Da es von Bad Hall nach Steyr nur ein Katzensprung ist, zwanzig Kilometer, fuhren wir auch noch nach Steyr (…)« usw. usf. (S. 88)

Man mag die absatzlose Rallye kaum unterbrechen, um raffend zu erwähnen, dass es bei dieser ganzen erfolglosen NZZ-Besorgungsfahrt noch »durch halb Oberösterreich und bis nach Bayern« ging. Gleichzeitig läuft Bernhards Österreich-Zorn, sein »Zorn gegen dieses rückständige, bornierte, hinterwäldlerische, gleichzeitig abstoßend größenwahnsinnige Land«, in dem noch nicht mal eine ordentliche Zeitung zu bekommen ist, mal wieder zur Hochform auf.

km 350

Am Ende sind es dann wirklich »dreihunderfünfzig Kilometer« geworden, noch dazu, »das muss ausdrücklich gesagt werden, in einem offenen Auto, was unweigerlich eine wochenlang anhaltende Verkühlung von uns dreien zur Folge gehabt hatte«.

Der vermutlich längste, auf jeden Fall atemloseste Zeitungs­einkaufsversuch der deutschen Literatur. Und alles wegen eines einzigen Artikels über die Zaide.

»Ich habe den Aufsatz längst vergessen und ich habe naturgemäß auch ohne diesen Aufsatz überlebt. Aber im Augenblick hatte ich geglaubt, ihn haben zu müssen.« (S. 91)

That’s true passion for the paper. Das ist Umblättern. Wer das nächste Mal zu faul für den Sonntagsspaziergang zur FAS-Ausgabestelle ist, denke gefälligst an den Bernhard’schen Roadmovie.