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Fußball-Feuilleton (Teil 4):
Eidgenössisches Protektorat Ostpreußen

Konstanz, 7. Juni 2008, 16:52 | von Marcuccio

Käse stand bis jetzt noch nie in Tobi Müllers Eurokolumne, aber die Sache mit Tilsit wäre doch mal ein echter Leckerbissen für die deutsch-schweizerische Völkerverständigung zur EM (von wegen »Nazi«-Sturm usw.). Denn ich frage mich manchmal: Ist das wirklich passiert? Dann muss ich es noch mal lesen, aus dem Protokoll der Gründung von Tilsit vom 1. August 2007:

»Zum Ostpreussen- und Thurgauerlied wurde die Tilsit-Ortstafel enthüllt. […] Horst Mertineit, Vorsitzender der Stadtgemeinschaft Tilsit e.V. mit Sitz in Kiel, überbrachte als Gastgeschenk den Bronzenen Elch (Symbol von Ostpreussen/Tilsit) und eine Tilsit-Fahne. Im Anschluss an die Unterzeichnung der Gründungsurkunde wurden die Tilsit-Strassentafeln gesetzt. Sie erinnern daran, dass hier der erste Schweizer Tilsiter hergestellt wurde […].«

Da machen die Schweizer also klar, was in Deutschland noch nicht mal mehr ein Vertriebenenverband öffentlich zu fordern wagt: Sie sorgen dafür, dass in Tilsit wieder deutsch gesprochen wird, ja, sie holen Tilsit heim ins (Käse-)Reich. Und als stolze Bürger, die seit angeblich über 160 Jahren (Weltrekord?) keinen Krieg kennen, tun sie das sogar noch zu ihrem Nationalfeiertag. Sogar die NZZ berichtete über diesen, klar, am Ende natürlich nur käsemarkenstrategisch erfolgreichen Feldzug. Trotzdem liegt die Frage nahe: Wie viel Löwenzahn, hehe, steckt eigentlich in so einem Stück Schweizer Tilsiter?


Fußball-Feuilleton (Teil 3):
Die Nazis der Schweiz

Konstanz, 1. Juni 2008, 10:57 | von Marcuccio

Die taz hat vor allem bundesdeutsche Leser, und also musste Tobi Müller die Sache in der Eurokolumne (I) schon mal kurz erwähnen: Die Sache ist nämlich die, dass Helvetien bei internationalen Turnieren, sowohl neulich beim Eishockey wie auch jetzt zur Fußball-EM, ganz offiziell von Nazi-Spielern vertreten wird.

In der eidgenössisch-landschaftlichen Koseform wird »Nationalmannschaft« nämlich »Nati« geschrieben und »Nazi« gesprochen (jedoch mit kurzem –a–, also »Nazzi«). Und so gibt es, zumindest mündlich, einen Nazi-Sturm, Nazi-Verteidiger, einen Nazi-Trainer (der ja bald Ottmar Hitzfeld heißt) usw. Schriftlich macht das –t– anstelle des –z– im schriftlichen Nachrichtenverkehr also Sinn, sonst blieben Schlagzeilen wie diese ja wirklich grenzwertig:

»Eishockey-Nati schlägt Weissrussland«

Und dann fällt mir in diesem Zusammenhang auch immer dieses Stück Schweizer Fernsehgeschichte ein (ich transkribiere aus »Stuckrad bei den Schweizern«, Folge 7):

BENJAMIN VON STUCKRAD-BARRE im Zug (blättert Zeitungen, schnellt von seinem Sitz hoch und fragt): Gibt’s hier eigentlich ne Fußball-Nationalmannschaft?

Schweizer antworten spontan längst nicht auf alles, schon gar nicht auf pöbelnde Deutsche im Zug.

STUCKRAD-BARRE (zu einer Mitreisenden am gegenüberliegenden Fenster): Sagt man hier Nati zur Nationalmannschaft?

DIE MITREISENDE: Nazi.

STUCKRAD-BARRE: Nazi? Also, das ginge bei uns nich‘. Das ginge nicht bei uns in Deutschland. Da könnte man nicht sagen: Die Nazis haben heut gewonnen … Sagt man wirklich Nazi hier. Die Nazi?

DIE MITREISENDE: Jaja, das ist einfach Dialekt.

STUCKRAD-BARRE: Bei uns sagt man: Nazis raus. Is ja lustig.

Er blättert weiter Zeitungen, bleibt auf einer Seite hängen und liest laut vor:

STUCKRAD-BARRE: Polizei hebt Bande junger Neonazis aus. Hier, sind ja auch Nazis. Neonazis. (Er zeigt auf einschlägige Szene-Outfits.) Die U21 mit ihren Trikots.

Usw. usf.


Fußball-Feuilleton (Teil 2):
Alles außer Hochdeutsch. Heute: Der Baselbieter

Konstanz, 26. Mai 2008, 10:13 | von Marcuccio

Warum ich von der Eurokolumne der taz so begeistert bin? Kann ich erklären. Da war, gleich in der Auftaktfolge, dieses Foto, das Ottmar Hitzfeld zum »Baselbieter« deklarierte. Baselbieter, Baselbieter. Dieses Wort einfach mal so als Bildlegende einer bundesdeutschen Tageszeitung, ohne dass irgendeine Schlussredaktion das wegredigiert hätte, das spricht absolut für die taz. Denn kaum ein Nichtschweizer weiß, was ein Baselbieter ist: Selbst im nahen Baden-Württemberg dürften nicht viele was mit dem Begriff anfangen können.

Ein Baselbieter kann nur jemand aus dem Kanton Basel-Land sein, und deswegen ist die Idee, Hitzfeld, der aus Lörrach stammt, zum quasi deutschen Baselbieter zu erklären, natürlich eine ganz wunderbare staatsgeografische contradictio in adiecto. Und doch viel mehr als das: Am deutschen Hochrhein spricht man alles außer Hochdeutsch, und wer Hitzfeld jemals hochalemannisch parlierend im Schweizer Fernsehen erlebt hat, der begreift erst, wie bedenkenlos die Eidgenossen ihn, und nur ihn, als ersten Deutschen überhaupt zum zukünftigen Schweizer Nationalcoach verpflichten konnten. Denn der typische Deutsche, der nur Schriftdeutsch kann, ist Hitzfeld eben gerade nicht.

Nur rein statistisch trägt er deshalb auch zur deutschen Gastarbeiterschwemme bei. Wie Tobi Müller in schönen Sätzen zu berichten weiß, machen es die vielen Teutonen den Schweizern ja nicht gerade leicht:

Seit im Land eine Umschichtung in der Zuwanderung von Norden nach Süden einsetzt, seit hochqualifizierte Deutsche en masse in die Schweiz ziehen und die Italiener als größte Einwanderergruppe, zumindest in Zürich, abgelöst haben, seither hört man auch in linksliberalen Kreisen Dinge, die man über Italiener nie gehört hat. Früher hielt man sich ja stets an Max Frisch: Man rief Arbeiter, und es kamen Menschen. Für die Deutschen übersetzt heißt das heute: Man rief Arbeiter, und es kamen Chefärzte. Und: Die sich dann auch noch erfrechen, sich wie solche zu benehmen.

Hitzfeld hingegen ist so etwas wie der lebende Beweis dafür, dass auch deutsche Integration in der Schweiz möglich ist – wenn die Mund- und Umgangsart stimmt, denn an der Sprache hängt nicht alles, aber doch so viel im deutsch-schweizerischen Verhältnis. Insofern ist dem taz-Artikel mit der Ernennung Hitzfelds zum ›Baselbieter h.c.‹ eine schöne Chiffre gelungen.


Fußball-Feuilleton (Teil 1):
Die beste Stadionzeitung zur Fußball-EM

Konstanz, 23. Mai 2008, 07:19 | von Marcuccio

Fußball-Paralipomena gibt’s heutzutage eigentlich überall, und wohl spätestens das Masern-Szenario im letzten »Spiegel« (20/2008, S. 44) macht klar: Zwar ist die »Euro 08« noch lang nicht angepfiffen, aber trotzdem (oder gerade deswegen) läuft der Nachrichtenzirkus längst rund.

So kommt mit jedem Turnier wieder dieses Festival der Meldungen, die die Welt nicht braucht und doch ganz gerne feiert. Mein liebstes Genre ist ja die Großveranstaltungs-Apokalyptik: Neulich zum Beispiel gingen der Schweiz schon die Kartoffeln für die Stadionpommes aus, davor die Pelle für den Cervelat … (und wer erinnert sich nicht noch an diesen ominösen Stadiontest, mit dem die Stiftung Warentest vor 2 Jahren sogar dem Bundesinnenminister ein Statement abrang, vor allem aber Franz Beckenbauer die legendäre Empfehlung, man solle sich doch besser um »Gesichtscremes, Olivenöl und Staubsauger« kümmern …).

Für alle, die in den nächsten Wochen da wieder mittendrin statt nur dabei sein wollen, empfehle ich heute mal die Original-Veredelungs­rubrik dieser Euro 08 im Feuilleton: die »Eurokolumne« der taz.

Die sympathische Serie erscheint immer wieder samstags (hier die Folgen I, II, III, IV, V, VI, VII zum Nachklicken) und ist allein schon wegen ihres ebenso simplen wie genialen Drehbuchs originell: Tobi Müller (CH) und Ralf Leonhard (A) zählen den Euro-Countdown im wöchentlichen Wechsel von der Gastgeberseite her runter und sortieren, stilisieren, zelebrieren dabei EM-Notizen, was das Zeug hält.

Daneben schlagen die beiden nativen Korrespondenten aber auch über den Fußball hinaus schöne Flanken aus der Tiefe des deutschsprachigen Raums, Flanken, auf die ich – als Umblätterer mit Euregio-Einsitz – natürlich noch zurückkommen muss und werde. Just for fun also ab sofort eine kleine Eurokolumnen-Eskorte mit allen Toren, den schönsten Szenen und Hintergründen zum Spiel.


Oliver Gehrs macht nicht mehr den Gehrs

Konstanz, 15. Mai 2008, 13:39 | von Marcuccio

Habe eben bei WatchBerlin meinen ganzen Rückstand an »Blattschuss!«-Videos aufgeholt – und plötzlich ist eine Blog-Epoche Geschichte, denn: Oliver Gehrs hat jetzt einen Gemischtwarenladen eröffnet.

Mittlerweile bespricht er »Humanglobaler Zufall«, »Weltwoche«, »Liebling«, »Vanity Fair«, »SZ«, WamS, FAS, ein Magazin namens »clap« und die »Zeit« mal eben alle neben- und durcheinander. Ein Kommentator bei WatchBerlin pointiert das so: »blattschuss ist jetzt ja fast wie heidenreich, nur die promis fehlen.«

Also, ich fand seine Fixierung auf den »Spiegel« einfach markiger, die Hassliebe, dieses junkiehaft-besessene Dransein am »Spiegel« allein. Die plötzliche Erweiterung hin zur Presseschau verwässert das ganze Gehrs-Projekt.

Denn »den Gehrs machen«, das war ja eben gerade NICHT die Idee, ein, zwei, drei beliebige Blätter, die der Wind des Medienkarussells gerade heranweht, aus der Luft zu greifen (ach, Poschardt jetzt bei der WamS, schauen wir also mal in die WamS).

Nein, »den Gehrs machen« hieß, das deutsche Nachrichtenmagazin so exklusiv und unbedingt zu bebloggen, dass es schon fast etwas (sympathisch) Fanatisches, ja Absolutistisches hatte. In seinen besten Momenten war er fantastisch mythenbildend, dieser »Spiegel«-Vorleser mit dem Erfahrungsvorsprung eines Ex-Redakteurs, der uns »Spiegel«-Mitleser immer wieder grandios unterhalten konnte.

Wir haben den WatchBerlin-Vlogger ja nicht umsonst mit einer Großen Oliver-Gehrs-Nacht gefeiert, und als Fans hätten wir uns natürlich auch in Zukunft einen exklusiven Fürsprecher für erhaltenswerte »Spiegel«-Traditionen gewünscht.

Oder wer sollte und wollte jetzt so grinsend aus dem Ärmel heraus bemängeln, dass die Hamburger eine kleine aber feine Rubrik wie »Der Spiegel vor 50 Jahren« im Leserbriefteil einfach mal zugunsten des billig medienkonvergenten »Diskutieren Sie auf Spiegel Online« aufgegeben haben?

Anyway, es ist vorbei. Gehrs’ »Spiegel«-Absolutismus hat abgedankt, und der plötzlich mit relativem Allerlei konfrontierte »Blattschuss!«-Zuschauer weiß noch nicht, ob er die neue egalité gut finden soll.

Es ist natürlich das Schicksal eines jeden, der seine Sache so gut macht(e), dass wir ihm nicht zugestehen, etwas Neues zu machen. Und so müsste man vielleicht auch akzeptieren, dass Gehrs sich lebensphasentechnisch an seinem »Aust-Komplex« abgearbeitet hat.

Die Demission dieser Leitfigur (wie auch die seines Lieblingsfeindes No. 2, Matthias Matussek) hatte er ja in gewisser Weise (z. B. mit »Blattschuss!« flankierenden »taz«Artikeln) gefeiert wie Trophäen. Jetzt scheint diese Beute aber erle(di)gt, und die ursprüngliche Blattschuss-Mission des Jägers Gehrs irgendwie auch. Und bei dem ganzen neuen Blatt-Wild vor seiner Vlog-Flinte hat er einfach noch nicht die optimale Form gefunden.

Warum küren wir in dieser Phase des Übergangs nicht schon mal die »Best of« des Gehrs’schen Frühwerks? Zu meinen Lieblings-Blattschüssen zählt die mit dem emsigen Fleiß eines echten Fans aufgemalte und geklebte und in ihrer Faktizität eben doch ernüchternde Verkaufskurve der Titelgeschichten (»Hitler zieht immer«). Ob diese Erkenntnis am Ende vielleicht schon als Erklärung für das Ende der »Spiegel«-Monogamie genügt?


Paratext-Posse:
Ein Vorspann vor Gericht

Konstanz, 8. Mai 2008, 06:12 | von Marcuccio

Palma hatte in letzter Zeit eine besondere Mission: Sie war Beobachterin in einem Prozess, der außerhalb der Schweiz nicht halb so hohe Wellen geschlagen hat wie in den eidgenössischen Medien. Dabei hat die Sache, davon ist Palma überzeugt, »Brisanz und Relevanz für den ganzen Journalismus«.

Und darum ging’s: Ein »Weltwoche«-Journalist hatte sich wegen angeblich rassistischer Wortwahl vor Gericht zu verantworten. Das Kuriose: Dieser Journalist war für Teile seines Artikels angeklagt, die er nachweislich gar nicht geschrieben hatte.

Freie Journalisten kennen das Problem

Da liefern sie ihre sorgfältig erarbeiteten Reintexte ins Text-OP namens Redaktion ein und müssen wie unsere Testimonials Malte Welding oder Jürgen Dollase immer wieder feststellen, dass bestimmte Amputationen oder hässliche Operationsnarben einfach dazugehören: Hier ein wichtiger Satz, Halbsatz, Begriff rausredigiert, da Textsinn verändert, schlimmstenfalls entstellt! Wie viele Artikel auf diese Weise schon zum Krüppel gemacht wurden, hat die Journalistik bislang nicht eruiert, vielleicht sie sollte es mal tun.

Doch längst nicht nur wo durch die Redaktion gekürzt wird, sondern auch im umgekehrten Fall, also da, wo durch die so genannten Paratexte etwas zum Reintext hinzukommt, lauern Gefahren für das journalistische Gelingen. Es handelt sich zumeist um die Teile von Texten, an denen verschiedene Verfasser beteiligt sind und in der Hauptsache nicht unbedingt der Autor des Artikels selbst: Überschriften, Artikelvorspänne, Teaser, Zwischenüberschriften, herausgestellte Zitate, sonstige separate Hinweise usw.

Da kann es kleinere befremdliche Brüche geben, auf die der Umblätterer gelegentlich hinweist, aber eben auch presserechtlich richtig relevante Risiken und Nebenwirkungen. Von dem Fall, in dem solche Paratexte einen Journalisten bis vor den Kadi gebracht haben, berichtet nun Palma aus der Schweiz.

»Jäger, Räuber, Rätoromane. Die frechste Minderheit der Schweiz«

So hatte die »Weltwoche« auf ihrem Cover der Ausgabe 37/2006 getitelt, und im Heft gab es dann einen für Schweizer Konsens­verhältnisse ziemlich provokanten Artikel von Urs Paul Engeler, in dem der Autor zu dem Schluss kam: Rätoromanisch, offiziell immer noch die vierte Landessprache der Schweiz, sei bei nur mehr 34.000 verblie­benen Sprechern nichts anderes als hochsubventionierte staatliche Folklore.

Das war für die inneralpinen Restposten des Vulgärlateins sicher nicht nett, politisch ebenso wenig bequem, aber alles andere als rassistisch. Doch der Stein des Anstoßes lag anscheinend auch weniger im eigentlichen Artikel als in seinem Vorspann:

»Anachronistisch, kryptisch, erpresserisch, exotisch, fanatisch, neurotisch, räuberisch: Diese Worte fallen einem ein zu Rätoromanisch. Erfinderisch auch. Das sind die paar Schweizer, die diese Sprache sprechen, wenn es um Subventionen geht: um gigantische Subventionen.«

Vorspann mit Nachspiel

Für Palma ist der Lead »offenkundig satirisch«, und überhaupt: die terroni in ihrer Heimat müssten die gleichen Attribute über sich quasi nonstop in »La Padania« lesen … Grinsende Zustimmung meinerseits. Umgekehrt kann man sich natürlich schon fragen, wie hierzulande die Sorben darauf reagiert hätten, wenn sie in einem Leitmedium entsprechend angefeatured worden wären.

Ein rätoromanischer Verein jedenfalls sah darin lauter diskriminierende Attribute und reichte Beschwerde beim Schweizer Presserat ein. Die wurde abgelehnt, der Verein erstattete sodann Strafanzeige und hatte das Glück, auf einen Staatsanwalt zu treffen, der es mal grundsätzlich wissen wollte.

Angeklagt wegen mutmaßlichem Rassismus gegen die Rätoromanen wurde: Urs Paul Engeler. Der aber konnte, wie Palma aus dem »Tages-Anzeiger« vorliest, beim ersten Prozesstermin 2007 geltend machen, diesen Lead gar nicht verfasst zu haben:

»(…), die Produktionsabteilung der ›Weltwoche‹ habe die umstrittenen Passagen verfasst, und nicht er selber. Sein eigener Vorspann habe anders gelautet. Er wäre aber bereit, ›für das Gesamtkunstwerk‹ die Verantwortung zu übernehmen.

Dies gehe nicht, befand damals der zuständige Staatsanwalt. Es müssten die tatsächlichen Autoren zur Verantwortung gezogen werden.«

Dann war Engeler also plötzlich der falsche Angeklagte, versuche ich zu verstehen. Ja, und es war ziemlich peinlich für das Gericht, das erst während der Verhandlung festzustellen, meint Palma. Überhaupt: Wie wenig Ahnung vom Redaktionsalltag müsse man haben, um daraufhin die Verhandlung zu vertagen mit der Forderung, jetzt sollten »die tatsächlich Verantwortlichen für die inkriminierten Passagen« belangt werden?! Als ob jemand ein Register darüber führt, wer welchen Artikelvorspann und wer welche Bildlegende getextet hat!

Kennt die Schweiz kein »V.i.S.d.P.«?

Wieso stand eigentlich überhaupt Engeler und nicht die »Weltwoche« vor Gericht, will ich jetzt dann doch mal von meiner persönlichen Prozessbeobachterin wissen.

Na ja, so Palma: Das konnte die Hauptverhandlung nicht klären. Immer­hin wurde Engeler am 18. April freigesprochen. Ob der Artikelvorspann nun polemisch-provokant, rassistisch, diskriminierend oder was auch immer war, wurde erst gar nicht weiter verhandelt.

Jetzt prüfen die Untersuchungsbehörden wohl noch, ob und wie es weitergeht. Aber es ist doch schon verrückt: Da ist der Verfasser eines Artikels ist für Teile seines Artikels freigesprochen worden, die er gar nicht verfasst hat. Und die »Weltwoche« entzog sich ihrer Verant­wortung in der juristischen Paratext-Posse bislang anscheinend ganz.


Helmut Krausser über Oliver Kahn

Konstanz, 3. Mai 2008, 08:05 | von Marcuccio

Zwar lässt das erste Panini-Album der Halbwelt wegen Willi Winklers Weigerung, Bildchen von sich rauszurücken, weiter auf sich warten. Aber ansonsten müssen Feuilleton und Fußball irgendwie fusioniert haben.

So überträgt der Perlentaucher neuerdings schon mal ein mittel­mäßiges Derby mit allen Fouls live. Und umgekehrt ist »auffem Platz« (Otto Rehhagel) wahrlich keine feuilletonfreie Zone mehr:

– alles großartige Rasen-Aktionen, die überhaupt nur fürs Feuilleton stattgefunden zu haben scheinen. Und ja, der Kahn-Text von Helmut Krausser erschien tatsächlich im »stern« (17/2008) – was beweist: Auch was man nicht lesen darf, muss der Umblätterer ab und zu anblättern.

Kraussers Artikel steckt voller guter Beobachtungen. Allein der Ausgangspunkt: Kahns jetzt zu Ende gehende Karriere mal nicht mit der großen Meistererzählung abzurunden, sondern festzustellen,

»dass Oliver Kahn zu jener raren Sorte Mensch gehört, zu der ich noch immer keinen klaren Standpunkt habe«

– das zog mich sofort in den Text hinein.

»Normalerweise legt man sich ja irgendwann fest und stellt sich da oder dort hin. Selten gibt es Typen, die einem die Wahl derart schwer machen, und beinahe immer spricht das für diese Typen.«

Und was Krausser weiter über den inkommensurablen Typen Kahn schreibt, trifft den Punkt:

»Er tat immer so, als ob das Spiel in Wahrheit blutiger Ernst sei. Und ich glaube sogar, er tat nicht nur so. Natürlich ist man ihm für alle Ausraster, selbst jene am Rand des Amoklaufs, letztlich dankbar. Angesichts entsetzlich vieler früh saturierter Fußballer ist ein wenig Wahnsinn stets willkommen. Andererseits trug der Wahnsinn Kahns manchmal den Strampelanzug eines im Grunde etwas biederen Ehrgeizes.«

Strampelanzug ist herrlich, im gemeinen Mediendeutsch kommt bei ähnlichen Gedanken ja immer das »Hamsterrad«, »Laufband« oder dergleichen …

Angenehm auch, dass endlich mal einer die ewige Medien-Floskel vom »Kahn-Titan« ins Reich der Legende verweist: Denn diesen seinen Mythos hat Kahn, wie Krausser notiert, ja längst selbst vereitelt:

»Er lieferte in den letzten beiden Jahren einfach nur gute Arbeit ab. Und genau das ist der Punkt. Von Titanen erwartet man entweder geniale Arbeit oder den kompletten Absturz.«

Und eben weil da einer noch eine Rechnung mit dem eigenen Mythos offen hat, ist man mit Kahn genauso wenig fertig wie Krausser am Ende seines Artikels:

»Ich bin sehr gespannt, was passiert, wenn dem Menschen Kahn die Altlast des sportlichen Ehrgeizes von den Schultern gefallen sein wird. Wenn er sich als physische Maschine ein für alle Mal abhakt. Es kann gut sein, dass er dann auf ganz andere Art interessant werden wird.«

Ich hoffe doch sehr, dass Krausser im Fall der Fälle weiter informiert, und wenn’s wieder der »stern« ist …


Darf man das lesen? (Teil 11: »getAbstract«)

Konstanz, 29. April 2008, 07:01 | von Marcuccio

Wer sich schon immer die Frage stellte, »wie man über Bücher spricht, die man nicht gelesen hat«, für den geht es heute mal um eine ganz spezielle Dienstleistung in der boomenden Branche: Es geht um Abstracts von »getAbstract« – also die Produkte des (nach eigenen Angaben) Weltmarktführers für Buch-Zusammenfassungen.

Das Prinzip

Jeder noch so dicke Wälzer der Wirtschafts- und Weltliteratur wird auf ein Standard-Format von fünf bzw. acht PDF-Seiten (oder entsprechende MP3-, Palm-, Blackberry-Äquivalente) komprimiert. »Heiße Luft aus Büchern rauslassen«, nannte Rolf Dobelli, der Mitbegründer von getAbstract, das Verfahren mal ganz treffend.

Content von brutto auf netto, sozusagen, wobei dieser Service, nur als Flatrate zu bekommen, nicht ganz billig ist: das Abstract-Abo für die Bibliothek der Wirtschaftsbücher kostet 299 €, das für die Klassiker 189 € pro Jahr. Vielleicht, hehe, fragen wir also besser nicht: »Darf man das lesen?« Sondern: »Möchte man sich das leisten?« Und: Kann das, was für Business-Bücher passen mag, für belletristische oder philosophische Werke überhaupt funktionieren?

Wir machen die Probe aufs Exempel und nehmen heute endlich das Abstract zu Nietzsches »Zarathustra« zur Kenntnis, das uns die NZZ seinerzeit als Gratis-Beilage zum legendären Sonntagstaucher-Frühstück servierte. (Als Promotion bzw. in Kooperation mit Printmedien lanciert getAbstract immer wieder solche Buchzusammenfassungen zum Sammeln. Aktuell kriegt man mit der NZZ am Sonntag die »Klassiker der Wirtschaftstheorie«, 2007 gab’s eine Philosophen-Serie und schon 2006 zwei Staffeln Belletristik.)

Also sprach Zarathustra kompakt – der netto 11 DIN A 5 Seiten (brutto 420 Buchseiten) umfassende Nietzsche hat folgende Inhaltsstoffe zu bieten:

Die »Buchinformation«

… bildet gewissermaßen vorneweg das Abstract des Abstracts. Bis auf die Allerwelts-Attribute, die begründen müssen, warum der »Zarathustra« überhaupt eine Buch-Zusammenfassung wert ist, geht der Satz in Ordnung:

»Das faszinierende und irritierende Hauptwerk Nietzsches, in dem er die Ideen des Übermenschen und der ewigen Wiederkehr als Rettung für die Menschheit verkündet.«

Die »Take-Aways«

… heißen wirklich so und sollen, Bourdieu lässt grüßen, wohl so etwas wie eine Liste gesellschaftlich verwendbarer Stegreifsätze über das Werk anbieten. Nur klingen die meisten von ihnen eher nach der Sorte Floskeln, wie sie ahnungslose Lehramtsstudentinnen verfertigen, um sie für die nächste Prüfung auswendig zu lernen. Stilschublade G8 Abiturwissen, Grundkurs Reli respektive Philo:

»Zarathustra hatte besonders große Wirkung in der Literatur, der Musik und der bildenden Kunst, weniger in der Philosophie.«

Oder hier, das Take Away zum Plot:

»Der Einsiedler Zarathustra steigt nach Jahren der Einsamkeit aus den Bergen herab, um den Menschen seine Weisheit mitzuteilen.«

Wüsste man es nicht besser, man könnte Nietzsche glatt für einen Märchenonkel halten.

Das eigentliche Abstract

Die banalisierende Sprache ist der Dreh- und Angelpunkt, ja vielleicht das eigentliche Problem eines solchen Abstracts, denn in ihr kommt der souveräne Umgang mit dem Gegenstand weiß Gott nicht immer zum Ausdruck: Wenn es etwa heißt, Nietzsche hätte »lange mit dem Nihilismus geliebäugelt«, dann ist das einfach mal das völlig falsche Verb zum richtigen Sachverhalt. Oder liebäugelt man mit Nihilismus wie man mit einem, sagen wir, Topfenstrudel in der Kaffeehausvitrine liebäugelt? Eben.

Umgekehrt gilt aber auch: Nicht alles ist schlecht. Was im hinteren Teil des Abstracts über Nietzsches Stellung in der modernen Philosophie zu lesen ist, hätte so oder so ähnlich in jedem Feuilletonartikel zum nächsten »Zarathustra«-Jubiläum Platz:

»Nietzsche hielt es für eine Illusion, alles Menschliche auf Basis der Vernunft zu konstruieren, weil die Vernunft nur ein Teil des Menschen ist: Wer sie auf ein Podest erhebt, missachtet den Körper und die Leidenschaften. Der Leib, der Rausch, der Impuls gehören genauso zum Menschen wie die Rationalität. Damit nahm der Philosoph die Grundgedanken Sigmund Freuds vorweg. (…) Der moderne Mensch ist auf sich selbst gestellt, absolute Gewissheiten und eine universelle Moral gibt es nicht mehr, insbesondere keine christliche.«

Fazit: »Gott ist tot«

Und der »Nietzsche kompakt« war nicht grad eine lebendige Lektüre. Ein bisschen so wie eine Tube pures Tomatenmark: ordentlich konzentriert wohl, aber als reine Masse fad schmeckend. Wer den »Zarathustra« gelesen hat, wird von diesem Konzentrat wenig überzeugt sein. Und wer das Buch nicht kennt wohl kaum zur Lektüre des Originals verführt.

Das viel bessere Abstract eines Buches versteckt sich manchmal ganz woanders, in einem anderen Buch zum Beispiel. Fabelhaft fasst etwa Rüdiger Safranski den »Zarathustra« zusammen, auf den Seiten 297-301 seines Romantik-Buchs gerät man ganz unversehens in eine süffige, bonmotreiche Paraphrase. Damit gelingt Safranski auf 4 Seiten, was getAbstract auf 11 nicht schafft: Kürze mit Würze.


Kaffeehaus des Monats (Teil 30)

sine loco, 28. April 2008, 20:12 | von Marcuccio

Wenn du mal richtig Zeitung lesen willst:

Bregenz Kunsthaus KUB-Café Interieur

Bregenz
Das KUB-Café neben dem Kunsthaus, Karl-Tizian-Platz.

(Auch bekannt als Drehort von rebell.tv. Wenn das
österreichische Feuilleton (Die Presse, Der Standard)
ausgelesen ist, lohnen die Coffeetable Books aus
dem benachbarten KUB-Shop: Jeff Koons‘ bunte
Balloon Dogs vor Zumthor-Sichtbeton usw.)


Das Uefa-Cup-Finale von Leipzig

Konstanz, 13. März 2008, 11:58 | von Marcuccio

Für alle Fans des Feuilleton-Sports wird dann heute nachmittag erst mal der Uefa-Cup der deutschen Buchpreise ausgetragen. Das war übrigens schön, wie Wiebke Porombka in der taz das Standing der konkurrierenden Buchmesse-Awards (Frankfurt vs. Leipzig) mal so beschrieb:

» (…) der ›Preis der Leipziger Buchmesse‹ (…) gilt hinter vorgehaltener Hand eher als Uefa-Cup-Teilnahme. Entspannen wir uns also ein bisschen bis zur Frankfurter Champions League, die im Oktober 2008 ausgetragen wird.«

Wobei so ein Uefa-Cup ja durchaus auch mal mehr Qualität bieten kann als ein vermeintlich hochkarätiges CL-Finale: Wir alle erinnern uns an 2003, als es bei Juve gegen Milan auch nach 90 Minuten plus Verlängerung immer noch 0:0 stand (gähn). Rein von der Aufstellung (keine Julia Franck II, kein Arno Geiger IV) steckt dieses Leipziger Shortlist-Finale heute sowieso schon voller Überraschungen. 16 Uhr wissen wir mehr.