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Neues vom 1. FC Feuilleton

Konstanz, 12. März 2008, 07:01 | von Marcuccio

Paco und ich hatten an dieser Stelle schon mal den legendären Mannschaftstausch zwischen S- und F-Zeitung rekapituliert – den größten Spielertransfer der jüngeren Feuilleton-Geschichte! Nun geht ein Leser der F-Zeitung den nächsten Schritt und präsentiert seine persönliche Feuilleton-Auswahl:

Der FAZ-Linksaußen

Manche werden jetzt erst mal fragen, ob diese Position überhaupt bespielt wird. Aber ja doch, zumindest wenn man die »Angriffe auf die Feuilletonredaktion« ernst nimmt, von denen Stefan Kleie aus Basel auf der Leserbriefseite der F-Zeitung vom 28. Februar (S. 38) schreibt. Danach haben die »Leser Herbert J. Exner und Ernst Liebert in der F.A.Z. vom 11. und 22. Februar« dem für die Sachbuchseite zuständigen Redakteur Christian Geyer »Linksfundamentalismus« vorgeworfen. Das möchte Kleie so nicht gelten lassen:

»Geyers subtile Anmerkungen (…) sind keineswegs schlicht links, sondern können ebenso als Bekenntnisse eines skrupulösen Wertkonservatismus gelesen werden.«

Der Rechtsaußen

Ähnliches, so Kleie, gelte auch für die »Beiträge von Lorenz Jäger, in dem manche den Rechtsaußen des Feuilletons sehen wollen, und die Versuche Frank Schirrmachers, mit Blick auf Stefan George und Ernst Jünger nichts Geringeres als eine Neubwertung der deutschen Geistesgeschichte vor 1945 vorzunehmen.«

Insgesamt hält Leser Kleie nicht viel vom althergebrachten, starren Rechts-Links-Schema. Vielmehr gibt er sich – wie wohl die meisten Feuilleton-Fans seines Alters – als Anhänger eines flexiblen Spielsystems zu erkennen:

»Für mich als Angehörigen einer jüngeren, noch dazu in Ostdeutschland geborenen Generation sind solche Grabenkämpfe der alten Bundesrepublik irrelevant (…).«

So wundert’s einen auch nicht, dass Kleies größte Sympathie einer Feuilleton-Position gilt, die sowieso alle gängigen Schemata unterläuft:

Der Libero

»Zu Dietmar Daths großartigen Pop- und Marxismus-Exegesen brauche ich hier nicht eigens etwas auszuführen. Es wäre zu wünschen, dass er wieder einmal ganze Artikel schriebe.«

Ja, so bescheiden klingen Fans der Halbwelt … Tatsächlich liest man Dath zurzeit nur noch in der samstäglichen Sputnik-Kolumne. (Vielleicht macht er aber auch gerade Kreativpause für ein nächstes Buch? Was weiß ich. Dienstältester Dath-Umblätterer ist ja auch Paco …)

Und die Mannschafts-Hymne

»Es ist die Polyphonie der unterschiedlichen Ressorts und der einzelnen Positionen im Feuilleton, die die F.A.Z. für mich zu einer der besten Zeitungen der Welt macht.«

Das ist doch mal ein Bekenntnis. Und überhaupt wäre es toll, wenn sich auf den Leserbriefseiten neben all den Herrenreitern noch viel mehr Stefan Kleies zu ihren feuilletonistischen Lieblingsspielern zu Wort melden würden. Forza!


Walsers Propaganda-Krawatte

Konstanz, 5. März 2008, 07:16 | von Marcuccio

Letzten Freitag war Krawattentag im deutschen Feuilleton, denn in Weimar, bei einem der kollektiven Betriebsausflüge letzte Woche, hatten se dann doch so intensiv in Walsers Krawatte gelesen, dass der Perlentaucher tatsächlich sinnig titelte:

»Heute in den Feuilletons: Giftig hellblaue Muster«

Konsequenterweise hätten die Perlentauchers bei der Gelegenheit aber auch gleich mal wieder von ihrer neuen (zuletzt bei Isabella Rosselinis »Green Porno« angewandten) Sitte der illustrierten Presseschau Gebrauch machen müssen.

Krawatten-Exeget der Stunde war Dirk Knipphals, der im Perlentaucher nicht nur ausführlich zitiert wurde sondern, sich seiner neuen Verantwortung als führender Krawatten-Experte des deutschen Feuilletons bewusst, am Tag drauf sogar noch mal nachlegte und in der taz vom Wochenende (S. 18) berichtigte:

»Von wegen anarchisch, nur weil ihre Farben etwas giftig waren. Der Schluss war ohne Blick auf ihren Zipfel gezogen: Da prangte, passend zur Lesung aus einem Roman über den alten Goethe, dieser höchstselbst beziehungswiese seine Silhouette nach dem berühmten Gemälde von Heinrich Tischbein ›Goethe in der Campagne‹«.

Witzigerweise heißt das Tischbein-Gemälde ja eigentlich »Goethe in der Campagna«, aber Knipphals soll sich ja nicht noch mal berichtigen müssen, und Campagne mit »-e« passt zu Walsers Propaganda-Schlips natürlich auch, hehe.


Wie ich mal wieder die taz las

Konstanz, 4. März 2008, 07:56 | von Marcuccio

Als ich einem Kumpel vor ein paar Jahren erzählte, dass ich genauso gern wie die FAZ eigentlich nur noch die taz läse, runzelte er die Stirn. Komischerweise machen die Leute das öfter, wenn ich das erzähle. Weil ich die taz nur reziprok so häufig wie die FAZ zur Hand habe, kaufte ich mir am letzten Sonntag mal wieder eine Ausgabe. Vier Beobachtungen und ein Fazit auf Basis der Wochenend-Ausgabe vom 1./2. März:

Die Titelseiten sind ein Spiel

Es fängt taz-typisch, taz-gefällig mit politischer Farbenlehre an: Ein Rubik-Zauberwürfel mit allerlei schwarz-grüner Unordnung obenauf, aber auch rot-grün-gelb an den Seiten. Dazu die hübsche Bildunterschrift »Noch ein Dreh, und alles sieht schon wieder ganz anders aus.«

Großes Thema dieses taz-Wochenendes ist also die Balz der Hamburger CDU mit den Grünen. Im Innern (S. 4/5) ein distanzierter Hintergrundbericht zur Entscheidung der Grünen, mitzuflirten (Motto: »Die Basis nickt das ab«) und ein Worst-Case-Szenario mit Paul Nolte im Interview (»Es gibt ein schwarz-grünes Projekt«).

Im Wirtschaftsteil (S. 9) labt sich jeder F-Zeitungs-Leser an den erfrischend flapsigen Unternehmensnachrichten: »McDonald’s macht jetzt auf fair und bio.« Auf der Seite »Meinung und Diskussion« (S. 11) scheint ein Hintergrund-Kommentar von Raul Zelik zur »Vergifteten Nachbarschaft« zwischen Kolumbien und Venezuela schon allein deswegen interessant, weil er, um mit Oliver Gehrs zu sprechen, mal nicht Medien-Mainstream ist.

Ritter Sport schmeckt nicht jedem

In den Leserbriefen, die erwartungsgemäß »leserInnenbriefe« heißen, setzt es Ärger: Offenbar hatte sich die taz erlaubt, »zu hymnisch« über die Firma Ritter Sport zu berichten, und das ist …

»(…) eine arge Zumutung für Lesende, die seit Jahren fair produzierte Bio-Schokolade in nicht quadratischer Form genießen« (S. 12)

Doch die taz wäre nicht die taz, wenn es dafür keine redaktionelle Wiedergutmachung gäbe: Auf der allerletzten Seite, der Genossen-Seite (»taz muss sein«), werden unter dem Stichwort »Fairführt« (und expliziten Bezug auf die Ritter-Sport-Geschichte) ökologisch korrekte und fair gehandelte Schokoladenhersteller wie Rapunzel oder Gepa bedacht.

In der tazzwei dann ein sehr schönes, doppelseitiges Reisefeuilleton mit S/W-Fotos aus Sils-Maria (S. 16/17), eines von der Sorte, wie man es als Kulturklatschmensch schon allein deshalb schätzt, weil man sich spätestens beim nächsten Engadinbesuch dann doch wieder ganz genau dafür interessiert, in welchem Chalet Annemarie Schwarzenbach nun noch mal mit Erika und Klaus Mann gekifft hat.

»Leibesübungen« gibt’s nur mit Daily Dope

Im legendär überschriebenen Sportteil der taz gefällt der sympathisch offensive Umgang mit dem offensichtlichen Mut zur Lücke: »Was alles nicht fehlt« – so sind die wenigen Meldungen überschrieben, hehe. Zukünftige Umblätterer-Praktikanten könnten die sporadisch-zufälligen Sportnachrichten doch glatt mal zum Ausgangspunkt nehmen, um uns über die Lieblings-Leibesübungen der taz-Redaktion aufzuklären (Sport-Idole setzen wir erst kaum voraus, denn das könnten ja allenfalls Fußballtrainer vom Schlage Hans Meyer sein).

Außerdem gibt’s eine Rubrik namens »daily dope«, Folge 263 – werden hier also tatsächlich tagtäglich Meldungen zum Thema Doping aufbereitet? Im Vergleich zu den Blutbeutel-Beichten im »Spiegel« ist so eine nachrichtliche Daily Soap natürlich echtes, konsequentes Trockenfutter. Damit bin ich jetzt endlich bei den fünf Seiten Food-Feuilleton im tazmag:

Eine Seite davon ist echtes Supermarkt-Feuilleton: Gina Bucher vergleicht so naja das Einkaufen bei Galeria Kaufhof, bei der LPG BioMarkt und auf dem Wochenmarkt. Schade finde ich allerdings, dass an die ganz normalen Supermärkte in Deutschland offenbar erst gar keine Ansprüche mehr gestellt werden. Und dann kommt noch ein echtes Highlight zum Schluss:

Warum die taz nicht an Bord der Lufthansa darf

Das kann man auf der schon erwähnten Seite »taz muss sein« nachlesen. Hier ist nämlich nicht nur Platz für den schokoladigen Sündenablass vor den taz-Genossen; hier wird auch knallhart am eigenen Mythos weitergeschrieben. Ein Foto mit winkender Retro-Stewardess erklärt uns die taz als Flugbegleiterin – ein Thema, das man bei anderer Aufbereitung jetzt nicht unbedingt gelesen hätte, denn es geht um die reichlich perfiden Finessen der so genannten Bordexemplare, mit denen Tageszeitungen gern ihre Auflagenzahlen türken (›türken‹ schreibt die taz natürlich nicht).

Jedenfalls darf die taz der Lufthansa keine Bordexemplare mehr ausliefern, seit das Blatt zur Trauerfeier des 1991 von der RAF ermordeten Treuhandschefs Detlev Rohwedder diese Schlagzeile brachte:

»Weizsäcker: Detlev, der Kampf geht weiter!«

Das bezog sich auf die bundespräsidiale Trauerrede für Rohwedder und verstand sich als Referenz (»Holger, der Kampf geht weiter!«, hatte Rudi Dutschke am Grab von Holger Meins gerufen). Doch für solchen Humor hatten die Rohwedderschen Trauergäste auf dem Heimflug von der Beerdigung nachvollziehbar kein Verständnis. Seither (und angeblich bis heute) möchte die Lufthansa ihren Passagieren an Bord keine taz mehr zumuten. Naja, vielleicht hat man mittlerweile Angst vor der ersten emissionsfreien Zeitung, vielleicht will man aber auch einfach nur die überbordende Papierflut in den ACP-Areas im Zaum halten.

Fazit

taz hat mal wieder Spaß gemacht. Vor allem die allseits kreativen, intelligenten Ressort-/Rubriken-/Artikel-Benamsungen künden von einer erfrischend wachen Zeitung. Ein paar mehr Leser als Genossen könnte sie im Interesse der Leser allerdings schon vertragen – damit’s bei aller angenehmenen Selbstironie nicht nur noch genossenschaftlich selbstreferenziell wird.


Wann fusioniert das deutsche Feuilleton?

Konstanz, 2. März 2008, 22:00 | von Marcuccio

Nach dieser Woche kann und muss man sich das schon mal fragen, denn so viel Gemeinsamkeit im Protokoll war selten. Donnerstag abend waren sie alle im Berliner Ensemble, bei Jonathan Littells einzigem Auftritt in Deutschland:

Eckhart Fuhr erlebte für die »Welt« einen »Nazi-Synthesizer«, Harry Nutt von der FR einen »Schriftstellerdarsteller« und Lothar Müller (S-Zeitung) einen Yale-Absolventen.

Sieglinde Geisel von der NZZ griff »sicherheitshalber zur Simultanübersetzung (…); doch auch der Übersetzer hat zu kämpfen«. Dirk Knipphals von der taz sah einen Littell, der mit allem, was er sagte, drauf aus war, »die Sache niedriger zu hängen«, während Hubert Spiegel für die F-Zeitung (Reading Room!) natürlich betont, dass Littell gar »nicht daran denkt, die Provokationen seines Romans kleinzureden«.

Schon am Mittwoch abend waren sie in Weimar kollektiv zur Urlesung von Martin Walsers »Ein liebender Mann« versammelt (und zwar nicht nur die gleichen Zeitungen, sondern sogar Eckhart Fuhr und Dirk Knipphals, so dass man sich unwillkürlich bei der Frage ertappte, ob taz und »Welt« denn jetzt schon Fahrgemeinschaften bilden).

Neben Walsers Krawatte, auf die wir wohl noch eigens in unserer Umblätterer-Rubrik »Eingeschneidert« zurückkommen werden müssen, bleibt uns aus Weimar vor allem Edo Reents als Lach-Detektor in Erinnerung:

An der Stelle »noch Gelegenheit gab zu rühmen, wie gesund er sich hier fühle«, lacht Joachim Kaiser das erste Mal laut auf: »Ha!« In den Anlaut ist ein kleines p hineingeschmuggelt, das a hat leichte Tendenz ins ä oder ö: »Hpäöh!« Was es da zu lachen gibt? Der nächste Lacher kommt bei »dringend zu wünschen«, wo Goethe Ulrike das Wort »unvorgreiflich« erklärt: »Hpäöh!« Das geht dann so weiter: Martin Walser liest in seinem alemannischen Singsang seine nicht immer ganz stubenreinen Goetheana, und Joachim Kaiser macht alle paar Minuten »Hpäöh!«

Das Live-Lachen des Kaisers hat sogar soviel News-Wert, dass es zu einem eigenen Interview mit dem »Leit-Lacher« geführt hat. Da findet man Martin Walser lustig, und schon ist man selber im Feuilleton, hehe.


Frühjahrsputz:
Die FAZ und ihre Leserbriefe

Konstanz, 23. Februar 2008, 06:15 | von Marcuccio

Zu den festen Momenten eines jeden Umblätterer-Jahres gehört der Frühjahrsputz. Denn was gibt es Schöneres, als beim lesenden Entsorgen zerfledderter Alt-Feuilletons noch allerletzte Perlen zu bergen. Ich persönlich fröne bei diesem Ritual ja immer ganz gerne der Leserbriefseite der FAZ, also der Seite, die in der F-Zeitung vornehmer als anderswo »Briefe an die Herausgeber« heißt.

Man kann dieser Seite mit den berühmt-berüchtigten Koreferaten der Oberstudienräte und Bundesverwaltungsrichter a. D. nachsagen, was man will. Sie ist manchmal wirklich eine Seite zum Wegschmeißen – was ihre Lektüre gerade beim Wegschmeißen sehr empfiehlt, hehe. Zum Beispiel hier, ich blättere eine F-Zeitung vom 12. Juni 2007 und lasse mich auf der Briefe-Seite von der schönen Headline »Herrenreiter-Mentalität« fangen:

»Vielen Dank für Ihren Artikel Potsdams Spaßbürger (F.A.Z.-Feuilleton vom 24. Mai). Dieser Fall ist, wie Heinrich Wefing treffend aufzeigt, eben leider symptomatisch für dieses Land. An die Herrenreiter-Mentalität nicht weniger Fahrradfahrer hat man sich ja schon gewöhnt, aber ein paar Oasen der Kultur sollen bitte erhalten bleiben.«

Na, nun kommt der Untergang des Abendlandes schon auf dem Drahtesel angefahren, denke ich mir noch, und blättere weiter. Bis ich ein paar Wochenstapel später, nämlich in der F-Zeitung vom 16. Juli 2007, schon wieder bei den Briefen an die Herausgeber hängen bleibe. Diesmal ist »Desavouiert« der Teaser – ein hübsches, schönes Bildungsbürgerwörtchen, das man auch nicht alle Tage zu lesen bekommt. Und dann steht da das:

»In seiner Zuschrift vom 12. Juni beschwert sich Leser Müller über die ›Herrenreiter-Mentalität‹, soll wohl heißen, das Verkehr und Natur gefährdende Rauditum von Radfahrern, besonders Mountainbikern. Ja, wenn diese sich doch wie Herrenreiter verhielten, dann würden sie in jeder Lage ihr Gefährt beherrschen, sich an Radwege halten und nicht auf Schnellstraßen fahren, nicht querfeldein über Saatfelder oder Lichtungen im Wald radeln. Die Begriffe ›Herrenreiter-Mentalität‹ und ›Gutsherrenart‹ werden heute von Leuten zur Bezeichnung rücksichtslosen autoritären Verhaltens gebraucht, die weder einen sein Pferd feinfühlig beherrschenden echten Herrenreiter noch einen stetig um seinen Betrieb besorgten Gutsbesitzer jemals kennengelernt haben. (…) Als Mann, der über 65 Jahre in Ehren korrekt im Sattel sitzt, fühle ich mich durch Leser Müller desavouiert.«

Leserbriefe, die auf andere Leserbriefe reagieren, ein echtes Schatten-Genre. Und wohl nur in der F-Zeitung kann sich eine Zuschrift an einem 16. Julei mit der natürlichsten Selbstverständlichkeit auf eine durch ein Kompositum ausgelöste Desavouierung vom 12. Juno beziehen. Das zeigt mal wieder die wahren Zeitläufe dieser Zeitung: Sie ist eben auch nach mehr als einem Monat noch frisch.

Womöglich, denkt sich der Umblätterer beim Frühjahrsputz, begreift man diese Zeitung überhaupt erst im Abtrag eines Jahres. Dazu muss sie dann natürlich möglichst lückenlos archiviert sein (von daher darf man nicht zu oft mit der FAZ-Abbesteller-Szene sympathisiert haben und sollte seine F-Zeitung auch immer gut vor San Andreas in der Bahn verteidigen, hehe).

Denn wer weiß, wieviele Briefe an die Herausgeber übers Jahr noch so miteinander kommunizieren? Die geheimen Leser-Netzwerke in der Offline-Blogosphäre der FAZ, das wäre doch mal eine schöne Plotstruktur für die nächste Staffel dieses Buches. Und ist für mich schon jetzt ein Ansporn zum nächsten Frühjahrsputz.


Kummer, Kracht und das
Copy-Shop-Feeling bei »Tempo«

Konstanz, 20. Februar 2008, 12:12 | von Marcuccio

Vor knapp einem Jahr sind Tom Kummers Memoiren »Blow up« erschienen. Eben gelesen stimme ich mit Gerrit Bartels absolut überein, dass das Buch »große, feine Momente« hat. So gibt es zum Beispiel endlich mal wieder frische Mythen aus dem Hause »Tempo«. Zwei davon exklusiv hier, in unserem Reading Room. (Zahlen in Klammern = Seitennachweise aus »Blow up«).

1. Wie Tom Kummer enthüllt: »Tempo« war eigentlich gar kein Zeitgeist-Magazin, sondern ein Copy-Shop!

»Mein erster Gedanke beim Betreten der Redaktionsräume war dieser: Habe ich mich im Eingang geirrt? Hier sah alles wie in Copyland aus. (…) Die Tempo-Redaktion erinnerte mich an eine Mischung aus (…) schmucklosen Kopierläden und studentischen Wohngemeinschaften. Ich war ein wenig überrascht, wenn man bedenkt, wie edel das Gebäude von außen wirkte und wie glamourös sich das Heft gab«. (104 f.)

Im Innern war »Tempo« also eigentlich ein Copy-Shop. Und als solcher zugleich die Achtziger-Jahre-Vorform der Blogosphäre. Kummer schreibt das jetzt nicht explizit (zum Glück!), aber er suggeriert es durchaus plausibel:

»Mit Kopierläden kannte ich mich gut aus, das waren (…) die besonderen Treffpunkte zeitgeistiger Strömungen. Man konnte in Kopierläden die aufregendsten Menschen kennenlernen, Leute, denen man sonst nie begegnen würde. Recherchen im Internet gab es noch nicht – alles musste mühsam aus Heften und Büchern rauskopiert werden, und so wurden bestimmt einige der ganz großen Ideen zum ersten in einem Kopierladen geboren.« (105)

Konsequenterweise pflegte »Tempo« nicht nur den Copy-Shop-Look, sondern auch die echte (in solchen Läden ja durchaus bis heute übliche) Ich-bedien-dich-nicht-Atmosphäre:

»Eine Traube von Leuten stand um ein Kopiergerät herum. Alle Köpfe drehten sich jetzt in meine Richtung. Es waren wohl Redakteurinnen und Sekretärinnen, die mich mit cooler Herablassung anglotzten und gleich wieder mit cooler Herablassung wegschauten. (…) Vielleicht wurde ich für einen Fahrradkurier gehalten. Niemand schien mich zu bemerken. (…) Nach zehn Minuten fragte mich eine junge Frau, ob sie mir helfen könne.« (105 f.)

Und dann darf der Fahrradkurier tatsächlich bei »Tempo« anfangen, und kriegt sogar schon bald Verstärkung.

2. Wie Christian Kracht zu »Tempo« kam, für Kummer kopieren musste und das Ergebnis nicht streifenfrei war:

»Ein junger, blondhaariger Schnösel betrat irgendwann die Redaktion. Er war Volontär oder so etwas in der Art und stellte sich als Christian vor. Er sei Schweizer. Das konnte ich kaum glauben, denn der Blonde konnte kein Schweizerdeutsch, was sehr lustig war. Ein Schweizer, der keinen Dialekt spricht – davon hatte ich noch nie gehört.« (117)

Wenn es damals schon einen gewissen Fabian Unteregger gegeben hätte, würde ich ja fast wetten, dass es der nicht bestandene Schnütsgüfeli-Test war, der Kracht das Los des Kopiersklaven unter Eidgenossen bescherte. Vielleicht haben die beiden aber auch ein Schwingen ausgetragen, um zu entscheiden, wer wem was zu sagen hat? Jedenfalls (Kummer):

»Ich sagte dem Blonden, er solle mir beim Kopieren helfen, wenn er schon sonst nichts zu tun hätte, ich hatte mir nämlich ein riesiges Arsenal von Fachliteratur für meinen nächsten großen Auftrag besorgt: Drogen in Deutschland – der ultimative Tempo-Test. Und so kopierte ich mit dem Blonden alles, was man über Kokain, Heroin, LSD so finden konnte. Ich erzählte dem Blonden, was für eine grandiose Geschichte dies werden würde, eine Reise durch Deutschland, auf der Suche nach den besten und miesesten Drogen, die diese Republik zu bieten habe. Und dass das gleichzeitig ein Sittenbild werden solle über ein Land das es in dieser Form bald nicht mehr geben würde.« (117)

Na ja, der »Tempo«-Drogenreport schaffte es dann, wie Kummer später schreibt, nie ins Heft. Aber aus der Reise durch Deutschland, den miesen Drogen und dem Sittenbild wurde ja immerhin noch … »Faserland«, genau.

Kummers Kopierauftrag bei »Tempo« als Keimzelle für Krachts literarische Karriere – das wäre dann aber wirklich noch ein hübsche späte Pointe auf Willi Winklers frühe »These von der Geburt der neuesten deutschen Literatur aus dem Geist der Szenezeitschriften« (S-Zeitung vom 14. April 1987). Achtziger-Jahre-Feuilleton, auf jeden Fall – wir Umblätterer machen da manchmal so Retro-Abende, hehe.

Und logischerweise meinte Winkler seinerzeit gar nicht Kracht, sondern Joachim Lottmann, der gerade »Mai Juni Juli« veröffentlicht hatte. Derselbe Lottmann behauptete dann aber Jahre später auch:

»Als später Christian Kracht mit einer Kopie von ›Mai, Juni, Juli‹ triumphal als Begründer der deutschen Popliteratur gefeiert wurde, rief er mich mit belegter Stimme an; ich glaube, er hatte geweint.«

Ob Lottmann sich derweil eigentlich auch bei »Tempo« verdingt hat und wer dort nun welche Vorlage beim Kopieren vergessen hat, je ne sais pas. Das wird dann aber hoffentlich mal in aller Gründlichkeit die historisch-kritische Kracht-Ausgabe klären. Und am Ende ging wahrscheinlich sowieso alles über den »Tempo«-Kopierer. Ich vermute ja fast: Auch das legendäre Faserland-Design ist Copy Art – oder arbeiteten die Kopierer der »Tempo«-Jahre wirklich schon streifenfrei?


Lesen 2.0:
Die F-Zeitung folgt Jochen Schmidt ins Netz

Konstanz, 15. Februar 2008, 07:20 | von Marcuccio

Seit knapp zwei Wochen gibt es den Reading Room der F-Zeitung: Jonathan Littell zum Lesen, Hören, Diskutieren soll ein »Pilotprojekt« sein, und man ist wohl kein großer Prophet, wenn man die Idee einer Blogosphäre für »FAZ-Gesinnte« schon jetzt als genialen Coup bezeichnet, mit dem die F-Zeitung ihr zuletzt doch eher altbackenes Alleinstellungsmerkmal »Feuilletonroman« ins 21. Jahrhundert rettet.

Denn wenn wir das weidlich kritisierte Marketing-, Experten- und Herausgeber-Tamtam einfach mal beiseite lassen. Dann bleibt als Role Model eines solches Lese-Events im Netz immer noch Jochen Schmidt, an den dieser Tage mal wieder kein Kritisier-Feuilleton erinnert hat:

Schmidt-liest-Proust hieß sein Projekt und war die sympathische Kompensation einsamen Lese-Inputs durch bloggenden Output, frei nach dem Motto: Ich teile euch mit, was und wie ich lese. Und ich lese (Prousts »Recherche« auch wirklich zu Ende), weil ich Leselust und Leselast mit euch teile, weil ihr hoffentlich protestiert, wenn ich vorher aufhöre, weil ihr mich animiert, durchzuhalten. 3.500 Seiten Proust sind ja eigentlich eine Ansage zum Eremitendasein. Aber 3.500 (mit-)geteilte Seiten Proust sind vielleicht die einzig reelle Chance, über ein Buch, das alle kennen und kaum einer wirklich gelesen hat, ins Gespräch zu kommen.

Und es muss ja gar nicht immer gleich Proust sein. Neulich zum Beispiel. Wollte ich mit Paco über dieses Buch quatschen, und er hatte es prompt noch nicht gelesen. Sollte er es dann endlich mal getan haben (Forza! hehe), habe ich die Hälfte schon wieder vergessen. Wie praktisch ist da ein Blog, das Unterhaltungen über Lektüreerlebnisse, für die es offline gar nicht immer den richtigen Zeitpunkt gibt, antizipiert und archiviert.

Es geht beim Lesen 2.0 also einerseits um das, was Literaturwissenschaftler wie Heinz Schlaffer als »mitgeteilte Lektüre« bezeichnen: das gesellige Gespräch über Literatur, das wir alle brauchen (Der Umgang mit Literatur. In: Poetica 31 (1999), S. 1-25). Und andererseits um »schreibendes Lesen«: Doch gerade das scheinbar harmlose Anmerken, Kommentieren und Reinschmieren in die Bücher konfrontiert unsere werten Bibliotheken ja immer wieder mit diesen Aufsehen erregenden Fällen von Zerstörungswut.

Reading Rooms und Lese-Blogs leisten, so gesehen, echte Prävention. Sie schützen nicht nur die Bücher, sie bewahren auch uns selbst – vor asozialer Lese-Vereinsamung ebenso wie vor einem unüberlegten Eintritt in den Jane Austen Club, hehe. Und dass auch eine schwarmähnliche Interessengemeinschaft im Netz so richtig schwärmerisch sein kann, hat der Schmidt-liest-Proust-Fanclub ja sowieso schon vorgeführt:

»Dankeschön Jochen! Dein Blog war wie ein Advents­kalender, dessen Türen jeder für sich öffnen konnte, wann er wollte und der uns jeden Tag mit einer für uns neuen Süßigkeit überraschte.« (hier)

Für Jonathan-Littell-Aficionados funktioniert das jetzt wahrscheinlich ganz ähnlich. Na ja, fast. Im Reading-Room der F-Zeitung wird halt nicht genascht; hier will und bekommt man echtes Vollkorn-Feuilleton: Oder was sonst wäre die tägliche Frage, die zur »Wohlgesinnten«-Verdauung anregen soll? Und nichts gegen Vollkorn: Jeder, der schon mal länger in Weißbrotländern gelebt hat, weiß erst, was gutes deutsches Schwarzbrot wert ist.

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Als Einstieg in den Schmidt liest Proust-Kosmos, die ersten beiden Einträge:
http://vertr.antville.org/20060719/


Pelzmantel-Stunde bei Peter von Matt

Konstanz, 9. Februar 2008, 10:04 | von Marcuccio

Gestern im Katamaran NZZ geblättert, Peter von Matt, der beste Germanist aller Zeiten, schreibt über seinen noch berühmteren Vorgänger Emil Staiger, ein Gedenkartikel zu dessen 100. Geburtstag:

»Seine Vorlesungen zogen Scharen an, aus allen Fakultäten und allen besseren Quartieren der Stadt. Das taten genauso die Vorlesungen von Karl Schmid, nebenan an der ETH. Hier wie dort musste man Eintrittskarten lösen, wollte man überhaupt Zutritt haben. Hier wie dort war die erste Reihe von Damen in Pelzmänteln besetzt. Geriet der Vortrag monotoner, studierte man die kunstreichen Frisuren.«

Der Clou dieser Zeilen: Von Matt könnte fast das Gleiche auch über sich selbst schreiben, denn noch bis vor wenigen Jahren war er diensthabender Hohepriester der so genannten Zürcher 11-Uhr-Messe. Das ist unter den gebildeten Stadtzürcher Ständen ein festes Synonym für die wöchentliche Literatur-Vorlesung in der marmorierten Churchill-Aula der Universität. Und das mit den Pelzmänteln und den Frisuren stimmt wirklich; es gehört wohl bei Generationen von Zürcher Erasmus-Germanisten zu den Schlüsselmomenten ihres Aufenthalts.

Und das Schöne an dieser Tradition scheint zu sein, dass ihr Ende trotz von Matts Emeritierung bislang nicht absehbar ist. Zur Robert-Walser-Tagung vor gut einem Jahr waren sie jedenfalls noch alle da, die gebildeten Millionärsdamen vom Zürichberg. Manchmal sitzt auch eine Lady vom gegenüberliegenden Zürichseeufer neben einem. Die erkennt man dann vorzugsweise daran, dass sie ohne Pelzmantel kommt, dafür aber mit 50-Franken und einer Einladung: »Nächsten Freitag, in der Villa Seerose von Horgen, täte ich referieren über Sophie Taeuber-Arp.«

Hallo Deutsches Seminar Zürich, wer hält eigentlich jetzt die 11-Uhr-Messe? Gibt es einen würdigen Nachfolger vor der Pelzmantel-Gemeinde?


Max Bill und der Dreirundtisch

Winterthur, 4. Februar 2008, 19:45 | von Marcuccio

Das also war Zürich für Umblätterer: Gratiszeitungen dienen der Völkerverständigung, und die Einschweizerung als solche fängt beim Schnütsgüfeli an …

Auf der Rückfahrt Zwischenstopp in Winterthur, Palma am Perron. Sie fasst mir ans Hemd und will tatsächlich erst mal minutiös alles über dieses ominöse Öl im Kunsthaus wissen.

Dann hinein in die Max-Bill-Metropole. Der Meister der konkreten Kunst wird von seiner Heimatstadt prompt auf zwei Museen verteilt.

Zuerst drängeln wir uns im zweiten Stock des Gewerbemuseums, »hinten links«, also auf jenen »winzigen 200 Quadratmetern«, die schon die NZZ-Besprechung gar nicht goutierte.

Zu alledem ist die Frau, die hier grad Führung macht, auch noch in anderen Umständen: Hochrote Wangen, eine gepresste Stimme und ein fast schon designmäßig runder Kugelbauch geleiten uns durch Billschen Brückenbau, zur Billschen Höhensonne und um den legendären Ulmer Hocker.

Und dann zum so genannten Dreirundtisch, die Hochschwangere: »Das ist auch wirklich eine Wortschöpfung von Max Bill.« Nach Schnütsgüfeli schon wieder so eine Swiss-made-Vokabel, die nur 3 Google-Treffer liefert, hehe.

Und dann ist die Führung fast zu Ende, nur der Designstudent mit der zerrissenen Jeans geht noch mit der obligatorischen Max-Bill-Abschlussfrage in die Verlängerung: »Aber, also, ich meine, so höchstpersönlich soll der Bill ja ziemlich anstrengend gewesen sein, oder …?« Wir gehen in die Winterthurer Wintersonne.

Im zweiten Teil der Ausstellung ist es dann entschieden geräumiger und insgesamt retrospektiviger. Der klare Max-Bill-Formalismus entfaltet seine Wirkung, vor allem die bunten Geometrie-Gags kommen richtig gut, ich spüre förmlich, wie mein Trauma nach dem Öltriefer einer angenehm aseptischen, konkreten Reinheit weicht.

Und außerdem hätte ich jetzt ganz bald auch wirklich Hunger: »Palma, how about Spaghetti Aglio e Olio?«


Das Handy in der Gegenwartsliteratur

Konstanz, 22. Januar 2008, 07:55 | von Marcuccio

Auf der Literaturseite der S-Zeitung vom letzten Freitag sprach sich Florian Kessler für eine »akute Gegenwartsliteratur« im Deutschunterricht aus. Wegen des akut anstehenden Migrationshintergrunds des Nokia-Handys wird in den deutschen Lehrerzimmern nun heftig um die geeigneteren Arbeitstexte für den Unterricht gerungen: Auf der einen Seite wartet der Reclam-Klassensatz »Migrantenliteratur«, auf der anderen, nämlich dieser hier, präsentiert der Umblätterer seine kleine Kompilation Mobilfunkliteratur:

[ Keiner hat Handy | Einer hat Handy | Alle haben Handy ]

Keiner hat Handy

Als Relikt aus einer mobilfunklosen Zeit bietet sich dieses Buch von Alexa Hennig von Lange wie kein zweites an: »Relax«. Das holt die Schüler von heute erst mal synonymisch bei ihren 100, 200 oder 400 Inklusivminuten von T-Mobile ab und führt ihnen dann vor Augen, was das Leben ohne Handy gestern war.

»Jungs, bin gleich wieder da!«
»Wohin gehstn du?«
»Weg!«
»Gehste pissen?«
»Nein telefonieren!«
»Was?«
»Ich muß ma kurz telefonieren!«
»Hier gibt’s aber kein Telefon!«
»Dann such ich eins!«
»Warum mußte denn jetzt telefonieren?«
»Ich muß meine Kleine anrufen!«
»Relax, Chris!«

– Tatsächlich bestimmt das hier noch nicht vorhandene Mobiltelefon den weiteren Verlauf der Handlung fatal. Denn nur weil er kein Handy in der Tasche hat und keiner seiner Kumpels auch nicht, geht Chris überhaupt wie ein Blöder los und sucht (ein Telefon!), steigt auf Bäume, stürzt herunter, und stirbt zuletzt auf einem Parkplatz. (Okay, ein bisschen too much auf dem Trip ist er dabei natürlich auch ;-).

Umgekehrt sitzt die Kleine, nur weil sie ihren Chris nie mal ansimsen kann, das ganze Buch über wie blöde vor ihrem Festnetzapparat und wartet auf Anrufe von Chris. Am Ende reißt sie sich endlich von zu Hause los, um ihren Chris im Nachtleben zu suchen und – ohne Handy natürlich viel zu spät – zu finden:

»Chris, hier is deine Kleine!«
»…!«
»Chris, hörst du mich?«
»…!«
»Chris! Das is nich lustig!«
»…!«
»Chris? Ich liebe dich!«
»…!«
»Chris?«
»…!«

Mit anderen Worten: Es wurde wirklich mal Zeit für ein Mobiltelefon in der deutschen Literatur.

[ Keiner hat Handy | Einer hat Handy | Alle haben Handy ]

Einer hat Handy

Das erste Mobilfunktelefon in der deutschen Literatur gibt’s bei Christian Kracht: In »Faserland« kommt das Handy noch richtig schön schnöselig daher, nämlich als rauschechtes C-Netz für S-Klasse-Fahrer auf Sylt.

»Kurz vor Kampen biegt Karin plötzlich rechts ab, auf den Parkplatz von Buhne 16, dem Nacktbadestrand, und ich denke, Moment mal, was kommt denn jetzt?«

Und weil ein 1995er Kracht auf Sylt kein 1998er Houellebecq am Cap d’Agde ist, folgt an dieser Stelle wirklich nur diese Mobilfunkorgie: Irgendein Sergio hat mit dem Mobiltelefon extra vom Strand aus im Mercedes angerufen (Sachen gibt’s, hehe). Und dann dieser faserlandtypische Satz:

»Wir steigen aus und ich denke daran, daß das Mobiltelefon sicher ziemlich versaut wird, dort am Strand, wegen dem Sand und dem Salzwasser.«

Also, richtig relaxed klingt das mit dem Mobiltelefon noch nicht. Oder verschwendet heute noch ernstlich jemand Gedanken an Salz und Sand, wenn er Strand-MMSen versendet oder empfängt? Krachts defätistische Handy-Affirmation zeigt deshalb schön, wie leicht die Spezies Mobilfunkteilnehmer Mitte der 1990er noch verunsichert und fertig gemacht werden konnte.

[ Keiner hat Handy | Einer hat Handy | Alle haben Handy ]

Alle haben Handy

Kollektiver Frieden mit dem Mobilfunk war dann wohl so spätestens um 2000, als wir von Florian Illies in unser aller Generation Golf zu lesen bekamen, »daß es nichts mehr bedeutet, ein Handy zu haben. Daß es aber auch nichts mehr bedeutet, in einem Café zu telefonieren.«

»Ortsgespräch«, Illies‘ GG-Aufguss von 2006, war, so gesehen, natürlich schon wieder eine Retro-Mode. Kein Anschluss unter dieser Nummer herrscht hingegen bei Ingo Schulze. Weitere Texte zum Thema Telekommunikation wären vielleicht noch Else Buschheuers »Ruf! Mich! An!« oder die »Wahlverwandtschaften«.

Und last but not least Johanna Adorjáns Tante, die immer noch ihren Festnetzapparat im Flur favorisiert. Das war definitiv mal einer der Silvester-Knaller, mit denen ein Deutschlehrer seine Schüler 2008 fürs Feuilleton begeistern könnte (neues Jahr, neues Glück?).

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