»Heute schon das Feuilleton gescannt?«
Mit Andreas Bernard durch die »jetzt«-Jahre
Konstanz, 12. November 2010, 10:46 | von Marcuccio
Wer für die »Tempojahre« (Maxim Biller) zu jung und für »Neon« vielleicht schon bald zu alt war, der hatte in jedem Fall »jetzt« (1993–2002) – die Santo-Subito-Jugendbeilage der SZ. »jetzt:« war jung, frisch, faszinierend – der sprichwörtliche Doppelpunkt für jeden, der in der zweiten Hälfte der 1990er feuilletonistisch lesen lernen wollte, sich dabei aber möglichst nicht so totalitär belehrt fühlen mochte. »jetzt« gehörte in die Zeit wie »Faserland«, MTV oder die AOL-Werbung mit Boris Becker (»Bin ich jetzt schon drin?«).
Das Lebensgefühl der »jetzt«-Jahre gibt es jetzt zum Nachlesen, in einem schönen Roman von Andreas Bernard, in dem das »jetzt«-Magazin »Vorn« und der Protagonist Tobias Lehnert heißt.
Das Buch wurde von den Feuilletons dieses Frühjahrs erstaunlich lieblos durchgewinkt, Sandra Kerschbaumer in der FAZ fand es sogar »ermüdend, wie Müttern auf dem Sandkistenrand oder Kleingärtnern beim Fegen ihrer Wege zuzuhören«.
Das »jetzt«-Feeling
Vielleicht ist meine »jetzt«-Erinnerung auch deswegen so mythisch überladen, weil ich der notorisch verhinderte »jetzt«-Leser war: »jetzt« war für mich zuallererst das, was ich als studentischer FAZ-Abonnent montags gern auch noch mit dabei gehabt hätte. Das zusätzlich Fiese war, dass »jetzt« selbst im Urlaub nicht funktionierte. Da kaufte man sich in Italien schon mal eine SZ vom Vortag und freute sich mit der Cover-Ankündigung auf ein knutschendes Pärchen im Meer bzw. ein »jetzt«-Magazin zum Thema: »Und wie war dein Sommer?«, und dann stand da prompt und kleingedruckt:
Wie ich diesen Satz hasste. In der alten »Zweigstelle 1« der Uni-Bibliothek Leipzig war der Begriff Beilage indes richtig räumlich gemeint. »jetzt« lag dort tatsächlich immer im Separee, hinter dem eigentlichen Zeitungslesesaal. In einem gammeligen Schuhkarton, der irgendwann meine Schatzkiste wurde. Ganze »jetzt«-Jahrgänge hab ich in dem miefigen Kabuff rückwirkend gehoben, umgeblättert, verschlungen. Mehr zum Feeling muss ich nicht sagen, Bernard selbst hat »jetzt« im taz-Gespräch gegenüber dem Vorgänger »Tempo« und dem Service-Nachfolger »Neon« klug abgegrenzt.
Vom Leser zum Schreiber
»Vorn« feiert aber nicht nur das »jetzt«-Lese- und Lebensgefühl. Es ist vor allem auch ein wunderbarer Journalisten-Bildungsroman. Erzählt wird, wie aus einem Magazin-Fan ein Magazin-Schreiber wird. Was passiert, wenn einer den Sprung von der Rezeption zur Produktion von Lebensgefühl wagt. Wie sich der erste eigene gedruckte Text in der Zeitung anfühlt. Und wie man tickt, wenn man leibhaftige Redakteure im Büro besucht:
»Er versuchte (…) diejenigen zu identifizieren, deren Geschichten ihn am meisten begeisterten, sich zu überlegen, welches Gesicht zu welchem Namen passen könnte.« (S. 16)
Auch ein Typ wie Tom Kummer geistert mal kurz als Phantom durch Bernards Buch, auf S. 17: Er »sah sehr lässig aus; er hatte schwarze lockige Haare und wirkte fast ein bisschen südländisch«. Tobias trifft ihn auf der Einweihungsfeier der neuen Redaktionsräume. Später heißt es:
»Den dunklen, lockigen Typen von damals sah er in all den Jahren kein einziges Mal mehr, und als er Robert später einmal darauf ansprach, welcher Autor oder Fotograf das gewesen sein könnte, wusste der nicht einmal, von wem Tobias sprach.« (S. 17/18)
Redaktionssport Scannen
Der eigentliche Plot ist das private Leben von Tobias Lehnert, namentlich seine alte Beziehung, die sich zunehmend konträr zu seinem Redakteursleben voller Listen-Journalismus, Tischritualen im »Schumann’s« und den Girlie-Kategorien verhält (»Julias sind immer gut!«).
Lustig auch das metasprachliche Rudelfantasieren, dahinter steckt die Idee, sich anhand weniger Indizien Geschichten und Identitäten zu Personen, zum Beispiel auf Partys, auszudenken:
»Im Vorn sprachen sie davon, jemanden zu ›scannen‹, wobei sich diese Methode nicht nur auf das sekundenschnelle Durchleuchten und Bewerten von Menschen bezog, sondern etwa auch auf Texte in Zeitungen und Magazinen. ›Hast du heute schon das Feuilleton gescannt?‹« (S. 190/191)
Irgendwann passt die alte Freundin nicht mehr in den coolen Vorn-Kosmos, in der Geschmacksfragen so falsch sein können wie Milchkaffeeschalen, die Tobias zu Hause stehen hat. Schon bald beginnt Tobis Affäre mit einer jener Praktikantinnen, die noch eine »Handschrift mit Babyspeck« haben. Und die Krisis des Helden nimmt ihren Verlauf.
Das Geheimnis der Grafikerinnen
Bourdieu hat feine Unterschiede für das literarische Feld beschrieben, Bernard malt das Ganze für den jungen Beilagenjournalismus der 1990er aus und schildert eine Welt, in der es den »Speedtalk« und das Scannen der Textredakteure einerseits gibt, andererseits aber auch das Geheimnis der Grafikerinnen:
»Tobias bemerkte wieder einmal, dass es kaum eine andere Art von Mädchen gab, mit denen er sich im Reden so schwer tat wie mit Grafikerinnen. Sie waren immer sehr freundlich und sahen gut aus, doch Tobias hatte das Gefühl, dass ihre Zurückgenommenheit eine längere Unterhaltung fast unmöglich machte. (…) Alle Vorn-Grafikerinnen, die Tobias je kennengelernt hatte, ähnelten sich in einer merkwürdigen Trägheit, einer besonders sparsamen Dosierung der Gesten und Worte. Vielleicht waren professionelle Näherinnen vor 150 Jahren ähnlich gestimmt.« (S. 233/234)
Der langsame Niedergang beginnt mit Praktikantengenerationen, die »Praktikas« statt »Praktika« absolvieren (S. 101) und dem Merchandising, also der »schwarzen Umhängetasche mit gelbem Vorn-Schriftzug, die man seit kurzem über die Magazinadresse bestellen konnte.« (S. 229)
Mein letztes »jetzt«-Magazin, das allerletzte überhaupt, lag wieder mal keiner Auslandsauflage bei. Austin höchstpersönlich brachte es mir aus Deutschland vorbei, während es in München Sitzstreiks der Leser gab.