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»Heute schon das Feuilleton gescannt?«
Mit Andreas Bernard durch die »jetzt«-Jahre

Konstanz, 12. November 2010, 10:46 | von Marcuccio

Wer für die »Tempojahre« (Maxim Biller) zu jung und für »Neon« viel­leicht schon bald zu alt war, der hatte in jedem Fall »jetzt« (1993–2002) – die Santo-Subito-Jugendbeilage der SZ. »jetzt:« war jung, frisch, faszinierend – der sprichwörtliche Doppelpunkt für jeden, der in der zweiten Hälfte der 1990er feuilletonistisch lesen lernen wollte, sich dabei aber möglichst nicht so totalitär belehrt fühlen mochte. »jetzt« gehörte in die Zeit wie »Faserland«, MTV oder die AOL-Werbung mit Boris Becker (»Bin ich jetzt schon drin?«).

Das Lebensgefühl der »jetzt«-Jahre gibt es jetzt zum Nachlesen, in einem schönen Roman von Andreas Bernard, in dem das »jetzt«-Magazin »Vorn« und der Protagonist Tobias Lehnert heißt.

Das Buch wurde von den Feuilletons dieses Frühjahrs erstaunlich lieblos durchgewinkt, Sandra Kerschbaumer in der FAZ fand es sogar »ermüdend, wie Müttern auf dem Sandkistenrand oder Kleingärtnern beim Fegen ihrer Wege zuzuhören«.

Das »jetzt«-Feeling

Vielleicht ist meine »jetzt«-Erinnerung auch deswegen so mythisch überladen, weil ich der notorisch verhinderte »jetzt«-Leser war: »jetzt« war für mich zuallererst das, was ich als studentischer FAZ-Abonnent montags gern auch noch mit dabei gehabt hätte. Das zusätzlich Fiese war, dass »jetzt« selbst im Urlaub nicht funktionierte. Da kaufte man sich in Italien schon mal eine SZ vom Vortag und freute sich mit der Cover-Ankündigung auf ein knutschendes Pärchen im Meer bzw. ein »jetzt«-Magazin zum Thema: »Und wie war dein Sommer?«, und dann stand da prompt und kleingedruckt:

»Liegt nicht der Auslandsauflage bei«

Wie ich diesen Satz hasste. In der alten »Zweigstelle 1« der Uni-Bibliothek Leipzig war der Begriff Beilage indes richtig räumlich gemeint. »jetzt« lag dort tatsächlich immer im Separee, hinter dem eigentlichen Zeitungslesesaal. In einem gammeligen Schuhkarton, der irgendwann meine Schatzkiste wurde. Ganze »jetzt«-Jahrgänge hab ich in dem miefigen Kabuff rückwirkend gehoben, umgeblättert, verschlungen. Mehr zum Feeling muss ich nicht sagen, Bernard selbst hat »jetzt« im taz-Gespräch gegenüber dem Vorgänger »Tempo« und dem Service-Nachfolger »Neon« klug abgegrenzt.

Vom Leser zum Schreiber

»Vorn« feiert aber nicht nur das »jetzt«-Lese- und Lebensgefühl. Es ist vor allem auch ein wunderbarer Journalisten-Bildungsroman. Erzählt wird, wie aus einem Magazin-Fan ein Magazin-Schreiber wird. Was passiert, wenn einer den Sprung von der Rezeption zur Produktion von Lebensgefühl wagt. Wie sich der erste eigene gedruckte Text in der Zeitung anfühlt. Und wie man tickt, wenn man leibhaftige Redakteure im Büro besucht:

»Er versuchte (…) diejenigen zu identifizieren, deren Geschichten ihn am meisten begeisterten, sich zu überlegen, welches Gesicht zu welchem Namen passen könnte.« (S. 16)

Auch ein Typ wie Tom Kummer geistert mal kurz als Phantom durch Bernards Buch, auf S. 17: Er »sah sehr lässig aus; er hatte schwarze lockige Haare und wirkte fast ein bisschen südländisch«. Tobias trifft ihn auf der Einweihungsfeier der neuen Redaktionsräume. Später heißt es:

»Den dunklen, lockigen Typen von damals sah er in all den Jahren kein einziges Mal mehr, und als er Robert später einmal darauf ansprach, welcher Autor oder Fotograf das gewesen sein könnte, wusste der nicht einmal, von wem Tobias sprach.« (S. 17/18)

Redaktionssport Scannen

Der eigentliche Plot ist das private Leben von Tobias Lehnert, namentlich seine alte Beziehung, die sich zunehmend konträr zu seinem Redakteursleben voller Listen-Journalismus, Tischritualen im »Schumann’s« und den Girlie-Kategorien verhält (»Julias sind immer gut!«).

Lustig auch das metasprachliche Rudelfantasieren, dahinter steckt die Idee, sich anhand weniger Indizien Geschichten und Identitäten zu Personen, zum Beispiel auf Partys, auszudenken:

»Im Vorn sprachen sie davon, jemanden zu ›scannen‹, wobei sich diese Methode nicht nur auf das sekundenschnelle Durchleuchten und Bewerten von Menschen bezog, sondern etwa auch auf Texte in Zeitungen und Magazinen. ›Hast du heute schon das Feuilleton gescannt?‹« (S. 190/191)

Irgendwann passt die alte Freundin nicht mehr in den coolen Vorn-Kosmos, in der Geschmacksfragen so falsch sein können wie Milchkaffeeschalen, die Tobias zu Hause stehen hat. Schon bald beginnt Tobis Affäre mit einer jener Praktikantinnen, die noch eine »Handschrift mit Babyspeck« haben. Und die Krisis des Helden nimmt ihren Verlauf.

Das Geheimnis der Grafikerinnen

Bourdieu hat feine Unterschiede für das literarische Feld beschrieben, Bernard malt das Ganze für den jungen Beilagenjournalismus der 1990er aus und schildert eine Welt, in der es den »Speedtalk« und das Scannen der Textredakteure einerseits gibt, andererseits aber auch das Geheimnis der Grafikerinnen:

»Tobias bemerkte wieder einmal, dass es kaum eine andere Art von Mädchen gab, mit denen er sich im Reden so schwer tat wie mit Grafikerinnen. Sie waren immer sehr freundlich und sahen gut aus, doch Tobias hatte das Gefühl, dass ihre Zurückgenommenheit eine längere Unterhaltung fast unmöglich machte. (…) Alle Vorn-Grafikerinnen, die Tobias je kennengelernt hatte, ähnelten sich in einer merkwürdigen Trägheit, einer besonders sparsamen Dosierung der Gesten und Worte. Vielleicht waren professionelle Näherinnen vor 150 Jahren ähnlich gestimmt.« (S. 233/234)

Der langsame Niedergang beginnt mit Praktikantengenerationen, die »Praktikas« statt »Praktika« absolvieren (S. 101) und dem Merchandising, also der »schwarzen Umhängetasche mit gelbem Vorn-Schriftzug, die man seit kurzem über die Magazinadresse bestellen konnte.« (S. 229)

Mein letztes »jetzt«-Magazin, das allerletzte überhaupt, lag wieder mal keiner Auslandsauflage bei. Austin höchstpersönlich brachte es mir aus Deutschland vorbei, während es in München Sitzstreiks der Leser gab.
 


Listen-Archäologie (Teil 6):
Die Hitler-Titel des »Spiegel«

Berlin, 7. November 2010, 17:01 | von Marcuccio

Im letzten Raum der aktuellen Sonderausstellung des DHM haben sie eine ganze Wand mit »Spiegel«-Titeln tapeziert, sämtlichen bis 2009 publizierten 45 Heften mit Hitler auf dem Cover:

»Von dem ersten aus dem Jahr 1964 (›Anatomie eines Diktators‹) bis zu einem der aktuellsten von 2009 (›Die Komplizen‹) ist auch an ihnen der Wandel im Geschichtsbild zu erkennen.« (Spiegel 41/2010, S. 38)

Zum Teil entlarven sich die Titel auch selbst, wenn man sich mal an­schaut, wofür der berühmte »Teppichfresser« alles herhalten musste: Gefahren des Klonens? Hitler! (Nr. 10/1997)

Zwei Führer-Cover hintereinander gab’s trotz aller Dichte nur einmal, im Umfeld der Hitler-Tagebücher des »stern«: Nr. 18 (»Fund oder Fälschung?«) und 19/1983 (»Fälschung«).

Nr. 5/1964
Nr. 3/1966
Nr. 32/1966
Nr. 31/1967
Nr. 1/1969

Nr. 14/1973
Nr. 34/1977
Nr. 44/1979

Nr. 24/1981
Nr. 52/1982
Nr. 18/1983
Nr. 19/1983
Nr. 32/1986
Nr. 35/1987
Nr. 46/1988
Nr. 15/1989
Nr. 32/1989

Nr. 24/1991
Nr. 29/1992
Nr. 2/1994
Nr. 14/1995
Nr. 19/1995
Nr. 6/1996
Nr. 8/1996
Nr. 21/1996
Nr. 33/1996
Nr. 10/1997
Nr. 25/1997
Nr. 30/1997
Nr. 7/1998
Nr. 22/1998
Nr. 45/1998
Nr. 43/1999

Nr. 25/2000
Nr. 4/2001
Nr. 19/2001
Nr. 23/2002
Nr. 51/2002
Nr. 8/2004
Nr. 29/2004
Nr. 35/2004
Nr. 18/2005
Nr. 3/2008
Nr. 45/2008
Nr. 21/2009

(und Hitler-Titel Nr. 46, in der Ausstellung noch nicht mit dabei:)

Nr. 33/2010

Direkt über diese Titelbilder-Anordnung im DHM hätte man, wenn sie denn noch online wäre, die »Blattschuss«-Folge an die Wand beamen können, in der Oliver Gehrs die »Spiegel«-Verkaufskurve aufmalt und deren Peaks mit den Hitler-Titelbildern korreliert. (Diese Frage hatte ja damals auch das Hitler-Blog der taz umgetrieben.)

Außerdem aufschlussreich gewesen wäre eine Übersicht über alle einschlägigen Guido-Knopp-Sendetitel. Hitlers Hunde, Hitlers Blumen, Hitlers Witze usw. Auch da hatte man ja irgendwann den Überblick verloren.
 


Rheinischer Merkur trifft Rheinischen Hausfreund

Konstanz, 29. September 2010, 13:01 | von Marcuccio

Komischerweise kam kein Feuilleton drauf zu sprechen, obwohl es wirklich sehr, sehr nahe lag, als Chefredakteur Michael Rutz genau heute vor einer Woche und einem Tag im Deutschlandradio Kultur (sinngemäß) bestätigte:

Ja, der RM werde als selbstständige Publikation zum Jahresende eingestellt. Und ja, er werde in Form eines »Zeit«-Supplements weitergeführt, als »Schatzkästlein geistiger und geistlicher Inhalte« (mp3).

Schwerer Fall von Dauerassoziation wahrscheinlich, aber seit diesem »Schatzkästlein«-Statement klingeln meine Hebel-Glocken, und zwar so, dass ich an den »Rheinischen Merkur« gar nicht mehr denken kann, ohne den »Rheinischen Hausfreund« notorisch mitzufantasieren. Sprich das Kalendergeschichten-Gesamtwerk des evangelisch-badischen Lehrers und Pfarrers Johann Peter Hebel.

RM-Anzeige (Klicken zum Vergrößern)Der im Radio verkündete Wandel der katholi­schen Wochenzeitung zum »Schatzkästlein« hatte sich symbolisch ja schon mit der Werbe­kampagne ab der zweiten Augusthälfte abge­zeichnet: Auf den vielen Anzeigen in den diver­sen Printmedien (z. B. »Welt« vom 9. Septem­ber, S. 27) sah man ein – ja was eigentlich: Schatzkästlein? Auf jeden Fall einen raumgreifenden Tunnel. Einen 3D-artigen Kubus, austapeziert mit weinrot getünchten »Rheinischen Merkur«-Zeitungsseiten, dazu der Slogan: »Gehen Sie mit uns in die Tiefe.«

Zeitungstotentanz

Ein ganz klein wenig erinnerte das Design der Anzeige an leere Ladenlokale in schlechteren Shopping Malls. Ihr wisst schon: die Läden, die ihr Schaufenster mit BILD-Zeitungspapier zukleben und offiziell behaupten: »Wegen Umbau geschlossen.« Wobei der semiotische Subtext lautet: »An dieser Stelle schon lange Leerstand.« Oder: »Hier wahrscheinlich nie mehr geöffnet.«

Ob der verwaiste Zeitungsverschlag also schon pure Symbolsprache war? Zumindest nach der Entscheidung der Deutschen Bischofs­konferenz wirkt der Zeitungskubus so sackgassig, dass man seine Auskleidung mit RM-Seiten glatt als literarische Ansage lesen muss: Rechtswandig weist »Regent Rotstift« erbarmungslos aufs Ende der Tiefe, und zwar genau dorthin, wo die RM-Titelschlagzeile klagt: »Es fehlen klare Sätze« (auch zur Zukunft des RM?).

Linkerhand liegen »Christ und Welt« am, jawohl, Boden – mithin das einzige RM-Ressort, das ab Januar weiterleben wird, indem es (vorerst) als Supplement der »Zeit« aufgehen soll. Man kennt solche Zeitungsasylgeschichten und ihren Ausgang zum Beispiel vom Schicksal der »Wochenpost« her. Und wünscht schon jetzt: Herzliches Beileid. Der RM-Werbeabteilung aber volle Gratulation zu diesem gelungenen Zeitungstotentanz.

Das feuilletonistische Schatzkästlein

Der eine und einzige RM, den ich mir mal aktiv gekauft habe, ist jetzt fast 10 Jahre alt und enthält eine Art literarisches Quartett, das der RM zur Frankfurter Buchmesse 2000 veranstaltet hat: Kulturredakteurin Christiane Florin diskutierte mit Rainer Moritz, Tanja Kinkel und Jürgen Bräunlein über die Frage:

»Wie viel Talent braucht der Erfolg?« (RM Nr. 44 vom 3. 11. 2000, S. 20).

Im deutschen Literaturbetrieb florierten gerade die Popliteraten und Fräuleinwunder, zeitgleich war Verona Feldbusch auf dem Höhepunkt ihrer Peep- und Blubb-Macht. Und Jenny Elvers war noch keine knallharte Schauspielerin, sondern Synonym für Fragen wie diese:

»Hat auch der Literaturbetrieb seine Jenny Elvers?«

Jürgen Bräunlein, der darauf antworten sollte, hatte gerade »Schön blöd« veröffentlicht, ein Buch über den Medienerfolg der Untalentier­ten. Und Rainer Moritz berichtete von einer »Leihdogge«, die er für ein Autorenfoto-Shooting von Sibylle Berg bezahlen musste.

Wie irre, dieses historische Gespräch heute nachzulesen. Höhepunkt aber diese Antonomasie von Jürgen Bräunlein:

»Für mich ist Benjamin von Stuckrad-Barre der Zlatko der Literatur, auch wenn er eine Zielgruppe hat, die sich für etwas feinsinniger hält.«

Heute kaum noch ohne historisch-kritischen Apparat vermittelbar, aber vor zehn Jahren – TV-Deutschland hatte gerade die erste Big-Brother-Staffel hinter sich – entfaltete ein Zlatko tatsächliche Schlagwort-Qualitäten (»Zlatkoisierung des Fernsehens« u. ä.).

Eine Kalendergeschichte aus dem RM-Feuilleton

Die in feuilletontypischer Zeitgeist-Hybris formulierte Wendung stiftet also eine Erzählung, die letztlich auch nicht anders funktioniert als das »Schatzkästlein des rheinischen Hausfreundes« (zu dem es im Nachwort der Reclam-Ausgabe heißt):

»Gleich vielen großen Erzählern ist Hebel nicht eigentlich Erfinder, wohl aber ein Meister der Darstellung, ein Plastiker des Worts und des Satzgefüges, ein Freund aller Gegenständlichkeit. Passiert doch in seinen Geschichten niemals etwas in einem x-beliebigen Wirtshaus, sondern durchweg in einem ›Schwanen‹, ›Bären‹ oder ›Roten Ochsen‹, ebenso wenig an einem ungenannten Ort, vielmehr in Segringen, Brassenheim oder Mauchen.«

Jetzt warten wir nur noch auf den Germanisten, der das Namedropping der Popliteratur aus der Kalendergeschichte ableitet, irgendeinen ganz Wilden, der Johann Peter Hebel mit Douglas Coupland kurzschließt. Und warum nicht? Es war Coupland, der mal zu Protokoll gab (als ihn Marc Deckert in irgendeinem NEON-Interview mit dem »Tod der Popliteratur« nervte):

»Ich finde Autoren schrecklich, die im Jahr 2003 Sätze schreiben wie: ›Er stieg in seinen Wagen und fuhr zu dem Supermarkt.‹ Nein, es muss heißen: ›Er stieg in seinen Honda Accord und fuhr zu Wal-Mart.‹ Manche Autoren versuchen ihre Literatur für die Ewigkeit haltbar zu machen, indem sie all den oberflächlichen Mist weglassen, der uns umgibt.«

Namentlich konkret und enzyklopädisch aufgeladen geht’s also zu, im RM-Feuilleton mit einem ›Zlatko der Literatur‹ nicht anders als bei Hebel oder Coupland: Dass aber ausgerechnet Coupland, der in bester »Schatzkästlein«-Tradition fürs poetische Gegenteil des x-Beliebigen plädiert, die »Generation X« erfunden hat: Das ist und bleibt mein Lieblings-Treppenwitz der Popliteraturgeschichte.


Die Welt als Schopenhauer und Überschrift

Konstanz, 25. August 2010, 18:44 | von Marcuccio

Gabriel ist mir im Traum erschienen, der hier schon öfters erwähnte Überschriftenerfinder. Und zwar in Form von Christoph Poschenrieder, der Überschriften gefischt hat. Überschriften aus dem großen Meer der Anspielungen, mit denen Journalisten und namentlich Feuilletonisten gern Buchtitel, Filmtitel, Songtitel usw. umsegeln. Klassisch hierzu natürlich schon der ewige MRR:

  • »Jenseits der Literatur« = Überschrift seines Verrisses zu Martin Walsers »Jenseits der Liebe« (1976)
  • »Die Angst des Dichters beim Erzählen« = Überschrift zu Peter Handke (1972)

Es gibt gewisse ungeschriebene Gesetze der Branche: Wenn z. B. Franka Potente neulich einen Erzählband vorlegt, dann kann die Überschrift natürlich nur wie lauten? Genau:

  • »Lola schreibt« (Tagesanzeiger, 5. August, und WELT, 7. August)

Witzig ist es dann eben auch mal, Langzeitprofile anzulegen. Christoph Poschenrieder hat genau das getan und eine Liste gesammelter Verballhornungen vorgelegt, die auf Schopenhauers »Die Welt als Wille und Vorstellung« anspielen:

  • »Die Welt als Willy und Vorstellung« (Tagesspiegel, Artikel über die SPD)
  • »Die Welt als William und Vorstellung« (ZEIT, Artikel über Shakespeare am Berliner Ensemble)
  • »Die Welt als Wille und Wechselstrom« (FAZ)
  • »Die Welt als Pille und Vorstellung« (SZ-Magazin)
  • »Die Welt als Wille und Vorurteil« (Der Standard)

Diese und weitere Findungen sind nachzulesen im aktuellen Diogenes-Magazin (Nr. 4, Sommer 2010, S. 22).

Wieso sammelt Poschenrieder Schopenhauer-Überschriften? Weil er einen Schopenhauer-Roman vorgelegt hat: »Die Welt ist im Kopf«. Das Buch liest sich schnurstracks weg. Ein bisschen so als hätte Daniel Kehlmann über Schopenhauer & Lord Byron statt über Humboldt & Gauß geschrieben.


Vossianische Antonomasie (Teil 14)

Konstanz, 22. August 2010, 18:50 | von Marcuccio

 

  1. der Christus der Nationen
  2. der Hansi Hinterseer des Techno
  3. der Westerwelle der Philosophie
  4. der Obama aus Meckenheim
  5. das Internet des 19. Jahrhunderts

 


Der »Neon«-Leser als Theaterkritiker

Konstanz, 17. August 2010, 01:09 | von Marcuccio

Neulich hat Gerhard Stadelmaier, liebste Hassfigur des Théâtre alle­mand, eine Kritikertypologie vorgelegt. Jetzt scheint es so, als gäbe es noch einen Nachrückkandidaten: den »Neon«-Leser, der Theater­kritiker bei der Regionalzeitung wurde.

Hier mal das Schema (Formatvorlage und Abwandlung) an zwei historischen Beispielen:

Film-Hermeneutik
in der NEON
vs. Theater-Hermeneutik
im SÜDKURIER
»Lara Croft: The Cradle of Life« (Regie: Ang Lee) Thema »Die heilige Johanna der Schlachthöfe« (Regie: Samuel Schwarz)
»Worum geht’s?
Die schlagkräftige Action-Archäologin muss sich diesmal den Weg zu einem Unterwas­sertempel freikämpfen, um einen (wie immer sagenum­wobenen) Schatz gegen (wie immer fiese) Schurken zu verteidigen. Einer davon ist Ex-Lindensträßler Til Schweiger.«
Hermeneu-
tischer
Akt I
»Darum geht’s:
Am Fleischmarkt von Chicago herrschen desolate Arbeitsbedin­gungen. Den Fleisch-Großhändlern geht es prima, sie sprechen sich ab, es gibt Insider-Tipps und Intrigen. Die Heils­armee um Titelheldin Johanna Dark will die Verhältnisse ändern – und muss am Ende erkennen, dass das nur mit Gewalt geht.«
»Worum geht es wirklich?
Diese Lippen, diese Titten! Angelina Jolie spielt nicht nur eine Comicfigur, sie ist auch wirklich eine.«
Hermeneu-
tischer
Akt II
»Darum geht’s wirklich:
Um die Fragen, wie viel erträgt der Mensch, ehe er revoltiert, und mit welchen Mitteln wird der Aufstand von den Machthabern unterbunden. In der Hauptrolle hierbei: Die Medien- und Unterhal­tungsindustrie, die, so der Tenor, alte Machtstruk­turen nur reproduziert.«
NEON Nr. 1 (!) vom Juli 2003, S. 167 (online) Zitatnachweis (Erstbelege) SÜDKURIER vom 22. Januar 2010, Ressort »Konstanzer Kulturleben«

 
Wenn man also eine Traditionslinie von »Tempo« (1986–1996) zu »jetzt« (1993–2002) und »Neon« (2003 ff.) ziehen will, dann sind die Reste des Copyshop-Feelings also heuer im Lokaljournalismus angekommen.
 


»ALDI gibt bekannt …«

Konstanz, 4. August 2010, 01:35 | von Marcuccio

Nein, kein übliches Urnengrab im »Spiegel«-Register (»Gestorben«), sondern den Hamburgern in der aktuellen Ausgabe eine eigene Hausmitteilung wert. Und dazu gleich 11 Seiten Kulturgeschichte des »Ur-Discounters« zum Nachlesen, fast schon eine heimliche Titel­geschichte (die es in mageren Nachrichtenwochen wohl auch geworden wäre). Was für eine publizistische Bestattung von Theodor Paul (genannt Theo) Albrecht geht da zu Ende.

Wie erwartet fand sie sowohl auf den Wirtschafts- wie den Feuille­tonseiten statt, und sie muss so was wie der Alptraum aller Bild­redaktionen gewesen sein, denn es standen den meisten Medien ja nur zwei »Theo«-Bilder überhaupt zur Verfügung: wahlweise die beiden Brüder Albrecht sowie das 1970er-Jahre-Brustbild von Theo, von kurz nach der Entführung.

Heimlicher Höhepunkt natürlich die ganzseitige Todesanzeige im FAZ-Feuilleton vom Donnerstag. Die meines Wissens erste und einzige ALDI-Anzeige, die nicht mit den klassischen Worten »ALDI informiert«, sondern »ALDI gibt bekannt« begann – der Bedeutung des Ereignisses angemessen. Die Annonce war im übrigen nicht weniger informativ als die journalistische Berichterstattung insgesamt.

Die nämlich litt, wie immer bei ALDI-Themen, unter der kargen Nach­richtenlage. Gebot der Stunde war es also, wieder mal allerlei ALDI-Mythen aufleben zu lassen: vom symptomatischen Aufbrauchen des alten Briefpapiers (»x-te er Jahre nach der Postleitzahlen-Umstellung 1993 die alte Essener Nummer 4300 einfach aus«, so Hannes Hintermeier in der FAZ) bis zum Brüder-Antagonismus und dem ALDI-Limes, Sinnbild für die wahre deutsche Teilung in einen ärmeren, protestantisch-nüchternen Norden und einen reicheren, sinnenfreudi­geren Süden, ablesbar sowohl am Sortiment als auch an der Filial­gestaltung. Nur mentalitätsgeschichtlich hätten Sachsen und Teile von Thüringen unbedingt ALDI-Süd zugeschlagen werden müssen.

Neu für mich, das ALDI-Südstaatenkind, war übrigens Günter Fruhtrunk als ALDI-Tütendesigner (Nord).

Und noch was für den Korrekturkasten im nächsten »Spiegel« (damit er nicht wieder ausfallen muss wie zuletzt): Die ALDI-Europakarte auf S. 67 stimmt nicht ganz, ALDI-Suisse ist Expansionsgebiet von ALDI-Süd, nicht -Nord. Und weil wir grad dabei sind, noch eine Korinthe zur Titelgeschichte der vorvorletzten Ausgabe (Nr. 29, S. 61): »Über allen Gipfeln ist Ruh …« a.k.a. »Ein Gleiches« ist nicht wirklich ein »Alters­gedicht Goethes«, wie Susanne Beyer schreibt, der Dichter war da 31 Jahre und hatte noch 51 weitere zu leben, also na ja.


Vossianische Antonomasie (Teil 13) – WM-Spezial

Konstanz, 12. Juli 2010, 08:33 | von Marcuccio

 

  1. der spanische Beckenbauer
  2. der deutsche Messi
  3. ein portugiesischer Beckham
  4. der Rooney Nordkoreas
  5. der Perón des Rasens*

*Mit Dank an Christine.

 


Bundespräsidiales Feuilleton

Konstanz, 30. Juni 2010, 07:07 | von Marcuccio

Unter rein feuilletonistischen Gesichtspunkten bleibt ja bis auf weiteres nur ein Bundespräsident wählbar.

Einer, der Hodler und Goya zum Amtsantritt genauso souverän besprochen hat wie er Max-Reinhardt-Inszenierungen rezensiert oder Detlev von Liliencron zum 60. gratuliert hat. Der seine »Architektur-Notizen aus Belgien und Holland« ebenso ins Amt mit einbringt wie seine Abhandlungen über »Gotik in Paris« oder das Baptisterium von Florenz.

Einer, der bundespräsidiale Stippvisiten schon 1909 in Naumburg geübt hat: »Dreieinhalb Stunden Zeit. Es muß reichen. Ich will ja nur die alten Statuen im Dom ansehen.«

Ein Bundespräsident, der zudem auch mit der politischen Farbenlehre vertraut scheint:

»Reichlich viel Violett – das sind die geistlichen Gebiete –, allerhand reichsunmittelbare Grafschaft und Ritterschaft, einige vorderösterreichische Landvogteien, dazwischen eingesprenkelt das harte Rotbraun der Reichsstädte.«

Voilà, Theodor Heuss, wie er sich gerade mit dem Putzger-Atlas in Kunstreiselaune bringt. Heuss – der Abiturient, der keine Ahnung hatte, was er studieren wollte, aber dann halt mal mit »National­ökonomie, Staatslehre, Philosophie, Historie, Kunstgeschichte und Literatur« begann – im Prinzip konnte dieser Heuss nur ein guter Feuilleton-Allrounder werden.

»Einen eigenen, unverwechselbaren Stil entwickelte er aber nicht«, schreibt Reiner Burger von der FAZ in seiner Studie »Theodor Heuss als Journalist«. Vielmehr liegt die Schreib-Leistung dieses Bundespräsi­denten im soliden Bildungsfeuilleton, Burger spricht denn auch vom »Volkshochschulkurs in gedruckter Form«, hehe.

Spannend auch Heuss als Role Model des landsmannschaftlich gefärbten Feuilletonismus, wie er uns in Form von Peter Richter (Sachsen) oder Claudius Seidl (München) bis heute begegnet. So sympathisch befangen zum Beispiel Nils Minkmar immer über das Saarland (be)richtet, so ungeniert lässt Heuss keine Gelegenheit aus, seine schwäbischen Dichter zu promoten.

Heuss hat über »Weinbau und Weingärtnerstand in Heilbronn a. N.« promoviert, zeigt sich in seinen Reisereportagen aber durchaus geschmacksoffen: »Der Wein von Ischia ist recht ordentlich; wir kannten uns schon und haben in den paar Tagen des Besuchs gute Kameradschaft gehalten.«

Sämtliche Originalzitate aus der Sammlung »Von Ort zu Ort« (hrsg. von Hermann Leins, Tübingen 1959, mehrere Auflagen, zuletzt 1986 bei der DVA), antiquarisch erhältlich.


Listen-Archäologie (Teil 4):
Mark Twain über deutsche Zeitungen (1880)

Konstanz, 9. Juni 2010, 08:10 | von Marcuccio

Wie San Andreas vorgestern schon festgestellt hat, schreibt Mark Twain in »A Tramp Abroad« (1880) sehr schöne Sachen, bezeichnet zum Beispiel Götz von Berlichingen als »den deutschen Robin Hood« usw. Im Anhang des Bandes gibt es auch die folgende Aufzählung (Spiegelstriche von mir, Twain selbst spricht aber auch von »Liste«, das Zitat stammt aus der dt. Übersetzung von Ana Maria Brock, das Original ist z. B. hier zu finden):

»Die Tageszeitungen von Hamburg, Frankfurt, Baden, München und Augsburg sind alle nach ein und demselben Schema aufgebaut. (…) Sie enthalten

  • keinerlei Leitartikel;
  • keine Personalien – und vielleicht ist das eher ein Vorteil als ein Nachteil;
  • keine Humorspalte;
  • keine Reportagen aus den Polizeigerichten [Gisela Friedrichsen schrieb halt noch nicht für den »Spiegel«, hehe];
  • keine Berichte über Verhandlungen vor höheren Gerichten;
  • keine Nachrichten über Boxkämpfe oder Hundekämpfe, Pferderennen, Gehwettbewerbe, Segelregatten, Schießwettkämpfe oder andere sportliche Dinge irgendwelcher Art;
  • keine Wiedergaben von Bankettreden;
  • keine Spalte für Kuriositäten und Seltsamkeiten irgendwo zwischen Wahrheit und Geschwätz;
  • keine ›Gerüchte‹ über irgend etwas oder irgend jemanden;
  • keine Voraussagen oder Prophezeiungen über irgend etwas oder irgend jemanden;
  • keine Listen erteilter oder beantragter Patente, auch keinen Hinweis auf solche Dinge;
  • keine Schmähung öffentlicher Beamter, seien sie groß oder klein, oder Beschwerden über sie oder Lobreden auf sie;
  • sonnabends keine religiöse Spalte;
  • montags keine wieder aufgewärmte, abgestandene Predigt;
  • unter ›Lokales‹ keine Enthüllungen darüber, was in der Stadt geschieht – tatsächlich wird nichts von lokaler Bedeutung erwähnt, was über die Schritte eines Prinzen oder das beabsichtigte Zusammentreten irgendeiner beratenden Körperschaft hinausginge.

Nach einer so gewaltigen Liste dessen, was man in der deutschen Tageszeitung nicht findet, könnte man mit Recht die Frage stellen, was denn überhaupt darin stünde. Sie ist leicht beantwortet:

  • eine Kinderhandvoll Telegramme, hauptsächlich über europäische nationale und internationale politische Vorgänge;
  • Briefkorrespondenz über dieselben Dinge;
  • Marktberichte.

Bitte sehr. Daraus setzt sich die deutsche Tageszeitung zusammen. (…)«

________________
Mark Twain: »Bummel durch Europa« (»A Tramp Abroad«, 1880). Hier zitiert nach Mark Twain: Gesammelte Werke in fünf Bänden. Herausgegeben, mit Anmerkungen und einem Nachwort versehen von Klaus-Jürgen Popp. Band III. München: Hanser 1966. S. 1097f.