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Faserland-Allergie

Konstanz, 7. März 2010, 18:08 | von Marcuccio

Wenn die Popliteratur fasten müsste, wo würde, könnte sie anfangen? Genau, wohl bei den Markennamen.

»– nichts sollte mehr daran erinnern, dass man mir einst vorwarf, bereits auf der allerersten Seite von ›Faserland‹ tauchten zehn bis zwölf Markennamen auf.«

—Christian Kracht im Gespräch mit Ingo Mocek
(»Ich denke immer an den Krieg«, NEON, Okt. 2008)

Die Philologie hat das ja wirklich ausgezählt, die Markennamen jetzt, und zwar Olaf Grabienski, und er kommt auf ein gut gefülltes Sünden­register (siehe S. 6 im PDF).

Eigentlich hätte es im letzten Buch von Kracht – »Ich werde hier sein im Sonnenschein und im Schatten« – ja noch ein allerletztes Marken­namenzitat geben sollen, und zwar eine Parisienne-Zigarette, aber, so Kracht (a. a. O.): »Ich habe es zum Glück herausgestrichen«.

Und er hat den NEON-Lesern vor zwei Jahren verschwiegen, dass zeitgleich tatsächlich eine markennamenfreie Version von »Faserland« auf den Markt gekommen ist, zumindest das Exposé dazu:

»Also, es fängt damit an, daß ich bei einer Fischbude in List auf Sylt und ein Bier aus der Flasche trinke. (…) Weil es ein bisschen kalt ist und Westwind weht, trage ich eine gewachste Regenjacke mit Innenfutter. (…) Vorhin habe ich Karin wiedergetroffen. Wir kennen uns noch aus dem Internat, obwohl wir damals nicht miteinander geredet haben, und ich habe sie ein paar mal in einer Disko in Hamburg und München gesehen. (…) Außerdem hat sie mindestens schon zwei Gläser Weißwein getrunken.«

Ein Coup? Naja, eher ein germanistisches Experiment im Sinne der von Paco erwähnten Tendenz zur primären Sekundärliteratur, realisiert durch Frank Degler und Ute Paulokat in ihrer richtig schön lesbaren UTB-Fibel »Neue Deutsche Popliteratur« (S. 38). Vielleicht aber auch ein Statement in Richtung der Markenverächter und Namedropping-Nörgler der eigenen Disziplin. Schaut her, das ist »Faserland« für Markenallergiker.

Dankbar ist man dem Duo Degler/Paulokat auch mal für ein klärendes Wort dahingehend, dass die Markennamenallergie ja immer nur genau bei den Rezensenten und Germanisten auftritt, »die eventuell nicht über das trendsichere Hintergrundwissen verfügen, um die ihnen gebotenen Reizwörter richtig deuten zu können«.

Vorstellbar ist so eine produktnamenfreie »Faserland«-Ausgabe aber nicht nur für zeitgenössische Markenallergiker, sondern auch Markenlegastheniker zukünftiger Generationen. Die »Große E-Book-Ausgabe« 2020 (25 Jahre »Faserland«) mit Live-Streams zu Fisch-Gosch nach Sylt, ins Bordbistro der Deutschen Bahn (Matthias Horx!) und zum kackenden Hund auf dem eindunkelnden Friedhof von Kilchberg wird das Markengedächtnis wahrscheinlich lebendiger halten als wir uns das im Moment noch ausmalen können.

Moritz Baßler hat schon früh auf diese Zukunftsaufgaben der Literatur­wissenschaft aufmerksam gemacht – sein legendärer Hinweis auf den Crunchip-Clip in der kommentierten Stuckrad-Barre-Gesamtausgabe in 100 Jahren (Baßler 2002, S. 105) gilt heute noch als Running Gag unter progressiven Editionsphilologen.


Kulinarische Literaturkritik

Konstanz, 1. März 2010, 08:15 | von Marcuccio

Auch schon vor Jürgen Dollase gab es sensationelle Geschmacks­erlebnisse im Feuilleton. Darauf weist Michaela Köhler hin, in ihrer jetzt nicht neuen, aber immer noch einzigartigen Arbeit zur Sprache der Literaturkritik. Ihr Thema u. a.: die »Tradition der Synästhesien von Geschmacksempfindung und Literatur«, also die »Anwendung des Begriffs Geschmack nicht nur auf die Wahrnehmung von Essen und Trinken, sondern auch von ästhetischen Objekten«.

Hier mal für zwischendurch einige Gaumen-Hits des Literaturjahres 1988. Cocktails, Longdrinks, Feinschmeckersuppen. Festmähler, Braten und Pralinen:

  • »Der Roman-Cocktail, mit Krimi- und Gesellschaftssatire-Sätzen aufge­peppt, mundet nicht (…)« (Walter Klier über Karin Scholten, in: Die Zeit, 25. 3. 1988)
  • »Gegen dieses von Gerd-Peter Eigner vor drei Jahren ausgeschenkte hochprozentige Sprachelixier ist das Nachfolgeprodukt, ist ›Mitten entzwei‹ wohl eher ein Longdrink.« (Ulrich Horstmann über Gerd-Peter Eigner, in: Die Zeit, 19. 8. 1988)
  • »Mir schmeckt diese Suppe. In den Gebräuchen des ästhetischen Nihilis­mus ein braves Eintopfgericht. Ihr gleichwohl unleugbarer Mangel an literarischer Delikatesse (…).« (Karl Heinz Kramberg über Werner Kofler, in: SZ, 10. 2. 1988)
  • »Der ›Anhang‹: Ein Meisterstück. Ein Festmahl des Geistes mit immer­grünen ewigfrischen Zutaten. Biß für Biß ein Genuß.« (Andreas Kilb über Ulla Hahn, in: Die Zeit, 25. 3. 1988)
  • »›Barbarswila‹ ist ein epischer Brocken, wie er nicht alle Tage auf den Tisch kommt, ein deftiges, dampfendes Stück Literatur« (Jürgen Jacobs über Gerold Späth, in: FAZ, 10. 9. 1988)
  • »eine schweizerische Prosapraline erster Wahl« (Friedhelm Rathjen über Jürg Laederach, in: SZ, 15. 11. 1988)

(nach Michaela Köhler: Wertung in der Literaturkritik. Bewertungs­kriterien und sprachliche Ausdrucksmöglichkeiten des Bewertens in journalistischen Rezensionen zeitgenössischer Literatur. Würzburg. Diss. 1999, S. 125–129.)
 


Trick 17 erfolgreicher Leserbriefschreiber

Konstanz, 23. Februar 2010, 19:24 | von Marcuccio

Die neue Krabbelgruppe trifft sich ab sofort immer sonntags auf den einschlägigen Spalten der FAS:

Leserbriefzitat (eigenes Foto)
(FAS vom 07.02.2010, S. 34)

Das Original geht zwar mit Tieren, doch Babyfotos heben die Chancen auf Abdruck im Sinne der hier schon mal durchexerzierten Rules of Cuteness erheblich. Wer ganz sicher gehen will, nimmt außerdem an einer distinktionstauglichen Vornamenberatung teil (»Karl-Friedrich«). Und Achtung: Der Trick funktioniert nur sonntags. Ein Foto in den werk­täglichen Leserbriefspalten – das gab’s in 60 Jahren FAZ glaub ich noch nie.


Die Helden des Supermarkts

Konstanz, 18. Februar 2010, 20:32 | von Marcuccio

Gestern, Mittwoch! Ein großer Tag für alle David-Wagner-Fans. Die FAZ hob den metallenen Einkaufskorb aufs Titelblatt (siehe bei Meedia).

Für alle, die den Klassiker »Vier Äpfel« noch nicht kennen: Der Ein­kaufskorb aus Metall ist der tragische Supermarkt-Held, der auf S. 28 f. den Kampf gegen die Armada der modernen roten Plastikkörbe verliert. Ein Grund war wohl auch das schlechte Handling:

»Die beiden dünnen Haltegriffe waren mit einer dünnen, hartgummiartigen Schicht überzogen, trotzdem schnitten sie heftig ein.«

Noch mehr Helden des Supermarkts dann eine Zeitung weiter, im Feuilleton-Aufmacher der »Welt« (»Bundesrepublik Aldi«) ordnet Josef Engels die Autorenfoto-Strategie der Gebrüder Albrecht in die litera­rische Tradition ein:

»Andere Länder haben (…) J. D. Salinger und Thomas Pynchon (…). Deutschland hat zwei alte Herren aus Essen.«

Der eine der beiden Aldi-Herren feiert dieser Tage seinen mutmaßlich 90., deswegen – jubiläumsüberpünktlich wie gewohnt – überhaupt eine Aldi-Exegese. Der eigentliche Rundgang liest sich dann ein bisschen wie David Wagner für Arme:

»Nach dem Eingang links: Der Kaffee. Dann die Marmelade. Dann die Kekse. Gegenüber der Wein. Und so weiter.«

Mehr Regale gibt’s leider nicht, dafür ein paar Ausführungen zur Geschichte der deutschen Teilung (seit 1961: Aldi Nord und Aldi Süd) und ihren Spätfolgen: Vitello tonnato bis heute nur für die reichere Hälfte des Landes: Aldi Süd.

Abschließend beleuchtet wird die Gentrifzierung des Aldi-Publikums anhand ausgewählter Schlüsseltexte: Das Aldi dente Kochbuch als Ausdruck, dass Aldi plötzlich satisfaktionsfähig wurde usw. usf. Vielleicht bringt ja auch David Wagner noch ein Aldi-Sequel (»Vier Äpfel bei Aldi«), darauf würde ich mich ehrlich freuen.


Überschriften-Workshop beim ADAC

Konstanz, 31. Januar 2010, 16:20 | von Marcuccio

Benjamin von Stuckrad-Barre hat damals in »Remix I« eine Namensliste von »Fahrradläden in Studentenstädten, die wirklich so heißen«, zu­sammengestellt:

  • Gegenwind
  • Stadtrad
  • Sattelfest
  • Fahr Rad Laden
  • Rad ab
  • Kein Rad Au
  • Fahr Rad (ich dir)
  • Fahrraden & Verkauf
  • Radelführer
  • Räderwerk
  • Zentralrad
  • Fahrradies

»Thesaurus der Gegenwart« nannte das Moritz »Poproman« Baßler. Aus aktuellem Anlass scheint mir mal ein Katalog der Überschriften­masche im »ADAC-Reisemagazin« angebracht.

Im Heft Nr. 111 (»Graubünden«):

  • Chur ohne Schatten (über die Vorzüge der Kantonshauptstadt)
  • Schweizer Suppkultur (über das Nationalgericht Bündner Gerstensuppe)
  • Seensucht (über badetaugliche Bergseen)

Im aktuellen Heft Nr. 114 (»Ruhrgebiet«):

  • Schönen Ruhrlaub! (Über Bademöglichkeiten im Ruhrgebiet)
  • Fußballungsgebiet (über die Vereinsdichte im Revier)
  • Rückzugsreviere (über Hotels und Herbergen)


Mit Katja und Max Frisch auf den Piz Kesch

Konstanz, 30. Januar 2010, 12:48 | von Marcuccio

Neulich, pünktlich zur Davos-Saison, gab es mal wieder Zauberberg-Deko in der FAZ. Der für literarische Ortstermine viel spannendere Berg liegt aber eigentlich schon immer ein Tal weiter, im Engadin, und heißt Piz Kesch.

Piz Kesch (Quelle: Wikimedia Commons)

Dieser Piz Kesch (übrigens in Sichtweite von Tarantinos Piz Palü) hat einen ganz großartigen Auftritt in »Mein Name sei Gantenbein«. Mit Anfang 20 gelesen und nie mehr vergessen hab ich die Szene, wie Gantenbein 1942 auf dem Gipfel einen urlaubenden Nazideutschen trifft:

»Als ich in die Kesch-Lücke kam, hatte ich den Mann eigentlich schon vergessen, doch als ich das Kreuz und Quer seiner Stapfen sah, erinnerte ich mich, dass man etwas hätte tun können, was ich nicht getan habe. Es interessierte mich aber, wohin er voraus­sichtlich gestürzt wäre. Nur so.«

Dein Name sei Großvater

Unter diesem Titel schreibt Katja Frisch, die Enkelin von Max Frisch, letzten Sommer für das »ADAC-Reisemagazin Nr. 111 Graubünden«. Das penetrante Du hält sie übrigens den ganzen Beitrag lang durch: »Heute, hier am Piz Kesch, bin ich dein Leser«.

Doch es wäre wohlfeil, das als Selbstfindungstrip abzukanzeln. Oder als Auto-Motor-Sport-Jargon – Katja ist zwar Redakteurin der »ADAC Motorwelt« (Du gibst Gas, du erhöhst deine Drehzahl, du spürst den Berg!). Denn gern vergessen wird, was für prominente Vorbilder das Outdoor-Du hat: In allen Wipfeln spürest du …

Und eines ist auch klar: Als Besitzerin eines Tantra-Sex-Studios oder mit ähnlichen Zusatzqualifikationen hätte sie es natürlich längst schon mal ins FAS-Feuilleton geschafft (wie vor ein paar Jahren dieser Enkel von Heinrich Mann). Wenigstens Bademeisterin im Letzibad hätte Katja Frisch ja noch sein können. So aber schreibt sie fürs ADAC-Feuilleton.

Schlüsselqualifikation: Schriftsteller-Enkelin

Interessant an der Bergtour auf Großvaters literarischen Spuren ist das gemeinsame Metapherngelände. Sie erwähnt »schier endlose, graubraune Geröllfelder, ganz leicht verschneit, ein gigantischer Nusskuchen, der gleichmäßig mit Puderzucker bestäubt ist«. Latent kuchenrezepttauglich textete auch schon er: Der Fels »wie Bernstein«, »der Schnee eher wie Milch«.

Und: Man versteht sich generationsübergreifend auf Swiss Product Placement im Hause Frisch: Gantenbein »frühstückte eine trockene Ovomaltine«. Katja: »Ich bestelle Rösti und ein Rivella. Frage Ruthli, die Hüttenwirtin mit dem sonnengebräunten Bubengesicht, ob sie etwas über ›Gantenbein‹ und eine darin beschriebene Wanderung von Max Frisch wisse. Sie schüttelt den Kopf. Aber Max Frisch, ja natürlich, den kenne sie.«

Später im Tal, die Enkelin in der Buchhandlung von Pontresina:

»›Stiller‹ ganz vorn im Regal, der einzige Frisch, der im Laden zu haben ist. Nachfrage bei der Buchhändlerin: ob sie denn wisse, dass das Buch auch den Ort zum Thema mache. Stirnrunzeln, Erstaunen, nein, man habe den Roman hier, weil er eben eines der wichtigsten Werke des Schriftstellers sei. Ich nenne meinen Namen nicht und gehe weiter.«

Am Schluss eine schöne, weise Absage an alle hermeneutischen und sonstigen Enkelinnenverpflichtungen des Literaturbetriebs: »Ich verstand und verstehe so viel oder so wenig von Literatur wie Millionen andere Menschen auch.« Ab sofort liest man Katja Frisch wieder exklusiv in der ADAC Motorwelt.

 
Bildquelle: Wikimedia Commons


Die Mona Lisa des Fußballs

Konstanz, 19. Januar 2010, 11:44 | von Marcuccio

Sport vs. Feuilleton: der Ressortvergleich. Der Sportteil bolzt Synonyme, das Feuilleton kultiviert Antonomasien.

Begegnet bin ich diesem offenen onomastischen Geheimnis gerade wieder in meiner, ja, Regionalzeitung, in einer Art Eigensprachanalyse des Sportteils. Es ging darum, dass mit Schumis Comeback nun natürlich auch »der Kerpener« wiederkommt. Der ewige Kerpener. So wie der Leimener und die Brühlerin und diese ganzen Synonyme überhaupt. Eingebrannt ins kollektive Gedächtnis.

Paul Biedermann kommt wahrscheinlich noch nicht überall als der Hallenser durch den Synonym-Scanner. Aber Sportfans wissen auch, dass man solche Synonyme (legendär auch: der Rostocker, der Merdinger, der Scherzinger) immer solange lesen, hören, schlucken muss, bis der (Doping-)Arzt kommt.

Richtig assoziieren

Was kann der Sport außer Synonymen? Er kann Vergleiche, wenn zum Beispiel Christoph Daum sagt: »Ronaldo ist wie Mona Lisa.« Was kein so ganz schlechter Vergleich war, auch wenn man eine Mona Lisa im Gegensatz zu vielem anderen Pariser Zeug ja noch eher selten auf dem Transfermarkt gesehen hat und auch das mit dem ins Stadion »hängen« noch mal genauer zu bedenken wäre.

Aus Vergleichen, die erst erklärt werden müssen, macht das Feuilleton zum Glück meistens schon vorher eine Antonomasie: »Die Mona Lisa des Fußballs« oder so. Da fragt keiner nach und jeder hätte in etwa natürlich trotzdem richtig assoziiert, was zu assoziieren war: zu exponiert, zu teuer, in Fachkreisen viele Gegner, aber alle wollen sie trotzdem sehen usw. usf.

Wenn im Sportjournalismus Antonomasien bemüht werden, kommt meist etwas Ungelenkes heraus: »Die Tour de Ski ist die Vierschanzentournee der Langläufer.« (ZDF) Man macht auf Antonomasie, landet qua Prädikation dann aber doch wieder nur beim profanen Vergleich. Da war RTL mit der »Formel 1 des Winters« schon mal weiter. Apropos.

Höher, schneller, weiter

Muss denn erst wieder ein Peter Richter zeigen, was die Disziplin Hochsprung alles kann. Sein Dubai-Artikel in der vorletzten FAS barg nämlich nicht nur den wohl zeitgemäßesten Eintrag ins neue Guiness-Buch der Rekorde:

»Von den technischen Daten her ist der Burj Khalifa (…) das, was beim Autoquartett der Superstecher war.«

Nein, es gab auch mal wieder eine Antonomasie vom Feinsten, Bezug nehmend auf westliche, europäische Vorbehalte gegen dieses neue höchste Haus der Welt und überhaupt gegen alle Gegner der Emirate und ihre Strategie, sich da jetzt die abendländische Kultur einzukaufen (Stichwort: Louvre-Dependance in Abu Dhabi):

»Man darf davon ausgehen, dass die üblichen Ressentiments dem neuen Prunk am Golf gegenüber in etwa dem entsprechen, was einem italienischen Mönch des 18. Jahrhunderts durch den Kopf gegangen sein mag, wenn er daran dachte, wie jenseits der Alpen, in [Achtung!] den Dubais des Nordens neureiche Potentaten italienische Kunst und Kultur zusammenkauften.«

Schreibt Peter Richter, den die Sportjournalisten an dieser Stelle wohl standesgemäß den Elbflorenzer nennen müssten, hehe.


»Dabei gibt es auch ostdeutsche F.A.Z.-Leser!«

Konstanz, 15. Januar 2010, 16:08 | von Marcuccio

Neue Eskalationen an der Leserbrieffront. Nachdem schon länger kein Relaunch mehr stattfand, sorgt jetzt die Edition der Feldbriefe selbst für Zündstoff.

F-Zeitung vom 14. Januar 2010, S. 17: Ein Leser aus »Friedrichsdorf (Hessen)« beschwert sich in studienrätlicher Ironie über die »dezente Unterweisung in deutscher Geographie«:

»Wie hilfreich sind doch die Hinweise in Artikeln oder unter Leserbriefen, die da lauten: ›im thüringischen Erfurt‹, ›Magdeburg (Sachsen-Anhalt)‹ oder ›Dresden/Sachsen‹. Wer im Westen wüsste sonst, wo diese Provinz-Hauptstädte liegen? Nur seltsam, man liest nie: ›im bayerischen München‹ oder von ›Stuttgart (Baden-Württemberg)‹. Dabei gibt es doch auch ostdeutsche F.A.Z.-Leser! Sind die am Ende gar die klügeren Köpfe?«

(Tipp übrigens für alle Einsender, die unbedingt veröffentlicht werden wollen: Anspielungen auf den FAZ-Slogan machen einen Abdruck so gut wie sicher. Überschrift dieses Leserbriefs war: »Die klügeren Köpfe.«)

Und als wollte die Leserbriefregie noch eins draufsetzen, platziert sie untendran dann wirklich noch eine Zuschrift aus Chemnitz, ganz ohne Zusatz »Sachsen«. Der Brief selbst sozusagen die Live-Antwort auf so viel geografische Ranschmeißerei. Gleichzeitig ein wunderschönes Lautgedicht, rauschendes Wasser auf Maxim Billers Mühle (»Ossifizierung der Leserbriefspalten«):

»was wir (…) nicht wollten, das waren die westdeutschen Kolonialherren, die dritt- und viertklassigen Hanswurste, die meinten, uns das Essen mit Messer und Gabel beibringen zu müssen. Nein, einem solchen Deutschland wollten wir gewiss nicht angehören!«

Szene-Aussteiger bestätigen immer wieder, dass es vor allem diese Geheimpoesie ist, die die Loge der Leserbriefschreiber und die Fanloge der Leserbriefleser so stark gemacht hat.


Marcel Reich-Ranicki: Frühwerk vs. Spätwerk

St. Moritz, 3. Januar 2010, 09:57 | von Marcuccio

Was für ein Après-Ski-Scherz! Wir natürlich weiter am Tagen, aber irgendein Fan (war es der Wirt der Alpina-Hütte selbst?) hat uns ein Kartenspiel gebastelt, und zwar aus lauter Calanda-Bierdeckeln, doppelseitig mit FAS-Artikeln beklebt: Auf der einen Seite jeweils das Logo der bekannten Randspalten-Rubrik »Fragen Sie Reich-Ranicki« (roter Schriftzug plus MRR-Briefmarkenfoto in s/w). Auf der anderen Seite jeweils die Leser-Frage und die Reich-Ranicki-Antwort.

Offenbar ein Memory, denn nach kurzer Durchsicht zeigt sich, dass das Kartenspiel aus lauter gleichen Fragen besteht: also Fragen, auf die MRR mindestens doppelt reagiert hat.

Vorläufiger Hüttenliebling ist Björn Schroth aus Ffm mit einer Frage, die MRR zweimal ganz unterschiedlich beantwortet hat, einmal auffällig willig (der Enthusiasmus des Frühwerks!), einmal typisch ungnädig (die Null-Bock-Phase des Spätwerks).

Hier die Antwort auf die Frage von 2005 (FAS vom 7.8.2005, auch online):

Welchen zeitgenössischen deutschsprachigen Literaturkritiker lesen Sie mit Gewinn?
Björn Schroth, Frankfurt/Main

Thomas Anz (Universität Marburg), Ulrich Greiner (»Die Zeit«), Volker Hage (»Der Spiegel«), Jochen Hieber (F.A.Z.), Frank Schirrmacher (F.A.Z.), Renate Schostack (F.A.Z.), Ulrich Weinzierl (»Die Welt«), Uwe Wittstock (»Die Welt«). Übrigens: Alle diese Kritiker kommen aus der von mir zwischen 1973 bis 1988 geleiteten Literaturredaktion der Frankfurter Allgemeinen. In aller Bescheidenheit: Meine pädagogischen Bemühungen waren nicht vergeblich. Überdies schätze ich ganz besonders: Joachim Kaiser (»Süddeutsche Zeitung«), Gerd Ueding (Universität Tübingen) und vor allem Peter von Matt. Reicht das?

Und hier die Antwort auf die (fast) gleiche Frage aus der FAS vom 20.12.2009:

Welche zeitgenössischen deutschen Kritiker lesen Sie mit Gewinn?
(Björn Schroth, Frankfurt)

Da könnte ich sechs oder acht Namen nennen, aber wozu sollte ich es tun? Einige würden das freundliche Urteil zufrieden zur Kenntnis nehmen, andere hingegen – bestimmt wäre es die Mehrheit – blieben natürlich verärgert. Wozu soll man sich damit beschäftigen? Es wäre mit Sicherheit besser und nützlicher, auf diese Fragen zu verzichten.


Voyage Voyage (Teil 5):
Der Tourismus-Superlativ

Konstanz, 19. Dezember 2009, 08:12 | von Marcuccio

Am 26. April 2009 definierte Andreas Lesti in der Randspalte des FAS-Reiseteils den Tourismus-Superlativ.

Beispiele für diese grammatikalische Sonderkategorie kennt man ja: Der zweithöchste freistehende Berg der Welt, der drittgrößte Binnensee Mitteleuropas, die längste baumfreie Nordabfahrt in den Westalpen usw.

»Da muss man erst mal abholzen, um zu erkennen, dass es hier um die ›längste Abfahrt der Alpen‹ geht. Weil es aber nicht die längste Abfahrt der Westalpen ist, und auch nicht die längste Nordabfahrt der Westalpen, rechtfertigt sich dieser Superlativ erst über die vierte baumfreie Einschränkung.«

Und weil Lesti ein ausgewiesener Kenner alpiner und anderer Superlative ist, liefert er uns die lexikonfertige Definition des Tourismus-Superlativs gleich dazu:

»Das Grundprinzip des Tourismus-Superlativs lautet: Man muss ihn so lange einschränken, bis die Kategorie so speziell, spezieller, am speziellsten ist, dass es keine Gegner mehr gibt. Die Marketingleute gehen also nicht vom Superlativ selber aus, sondern von der Konkurrenz, die sich durch – das muss man zugeben – beachtlich kreative Einschränkungen eliminieren.«

Im Guinness-Buch der (Pseudo-) Rekorde würde der touristische Superlativ also wahrscheinlich noch nicht einmal auffallen. Schön wäre aber auch mal eine Art Enzensberger-Poesieautomat der Fremdenverkehrssprache, in der jede (vermeintliche) USP einer Destination automatisch einen so noch nie gehabten Superlativ erzeugt. Die generative Grammatik des Tourismus freut sich jedenfalls auf weitere Kapitel.

(Der Lesti-Artikel ist leider nicht online, Spuren davon hier.)