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25 Jahre Coen-Kino (8):
O Brother, Where Art Thou? (2000)

Hamburg, 10. Februar 2010, 07:40 | von San Andreas

O Brother, Where Art Thou? (Icon)

Lebenskünstler Ulysses Everett McGill flüchtet mit zwei schlichteren Mitinsassen aus dem Knast, um einen Schatz zu bergen, welcher Gefahr läuft, überschwemmt zu werden. Ein Suchtrupp ist ihnen dicht auf den Fersen. Der Trip gerät zu einer Odyssee durch den Staat Mississippi, und was den Schatz angeht, war Everett auch nicht ganz ehrlich …

Coen Country. Mississippi zu Zeiten der Depression. Die charakter­vollen Südstaatler, die regionale Musik und die pittoresken, ländlichen Szenerien mussten die Coens reizen.

Coen Klüngel. George Clooney (Ulysses Everett McGill), John Goodman (Big Dan Teague), Holly Hunter (Penny), John Turturro (Pete), Michael Badalucco (George Nelson), Charles Durning (Pappy O’Daniel), Roger Deakins (Kamera)

Coen Quote. »Damn, we’re in a tight spot.« (Everett kriegt das Flattern)

Coen Gold. Everett im Mom-and-Pop-Store; ein feines Beispiel des von den Coens kultivierten Subgenres des verkorksten Verkaufsgesprächs. Everett ärgert sich erst über die Auskunft des bräsigen Ladenhüters, sein Autoersatzteil wäre erst in zwei Wochen da, dann darüber, dass das vorrätige Haarpflegeprodukt nicht seine Marke ist (»I don’t want Fop, goddamn it. I’m a Dapper Dan man!«) und dass seine Lieblingspomade ebenso lange bräuchte wie das Ersatzteil (»Well, ain’t this place a geographical oddity. Two weeks from everywhere!«). Um sich dann, grummelnd zwar, mit einem Dutzend Haarnetzen zufrieden zu geben. Nur zu selten wird in einem Hollywood-Film die Sorge eines Mannes um sein Haupthaar thematisiert.

Classic Coen? Um »O Brother, Where Art Thou?« zu verstehen, muss man Homers Odyssee nicht gelesen haben; nach eigenem Bekunden haben das die Coens auch nicht getan. Wir treffen zwar Ulysses und Penelope, einen Zyklopen und die Sirenen, aber der Film trägt das große Vorbild nicht vor sich her, ähnlich wie »The Big Lebowski« die Anklänge an Raymond Chandler allenfalls erahnen ließ.

Homer stellt den Aufhänger, dann übernimmt der kontrollierte Wahnsinn der Gebrüder Coen: »O Brother …« gerät zu einer Art Roadmovie-Musical oder Musical-Roadmovie, das zugänglicher und kurzweiliger ist als die meisten anderen Coen-Filme. Das ist liebevolles, letztlich harmloses, aber eben feinstes Kino, das direkt ins Blut geht und vor allen Dingen Joel und Ethan Gelegenheit gibt, ihren angeschrägten Obsessionen zu fröhnen.

Ungebrochen beispielsweise ihre Faszination für Mundarten; der herrliche Südstaatenslang macht jede Synchronisation zum Verbrechen, zumal der Film einen Teil seines Witzes aus dem Gegensatz zwischen dem rural geprägten Dialekt der einfältigeren Charaktere (»We thought you was a toad!«) und dem sich distinguiert gebenden, kunstvollen Duktus der Städter zieht. »Thank you for the conversational hiatus. I generally refrain from speech during gustation«, parliert beispielsweise John Goodman in seiner Paraderolle als eloquenter Grobian, seit »Raising Arizona«, »Barton Fink« und freilich »The Big Lebowski« ein Coen-Standard. Hier als windiger, einäugiger Bibelverkäufer, der der erste ist, den wir später bei einem KKK-Aufmarsch identifizieren können: Seine Kapuze hat nur ein Guckloch.

Diese bizarre Veranstaltung weckt in ihrer ausbaldowerten Choreografie Erinnerungen an die »Lebowski«-Traumsequenzen, entwickelt aber eine zusätzliche, ominöse Qualität. Schließlich ist hier ein Lynchmob im Begriff, einen Farbigen aufzuknüpfen, und wenn der Hexenmeister den schauerlichen Grabesblues »O Death« anstimmt, während Clooney und Kollegen auf die Szene stolpern, halten sich Beklemmung und Belustigung auf wunderbare Weise die Waage.

Wiedererkennungswert hat ebenfalls die Figur des geheimnisvollen, dämonischen Widersachers, diesmal in Gestalt des auch nachts sonnenbebrillten Suchtrupp-Anführers Cooley. Seine Szenen haben immer mit Tod und Feuer zu tun, weswegen viele Coen-Kenner mutmaßen, er wäre der Teufel, dem der junge Musiker, den McGill und Co. aufgabeln, seine Seele verkauft haben soll. Nur einer von vielen Querverweisen im Film.

Gegen Ende erhascht der Zuschauer einen Blick auf eine Kuh auf einem schwimmenden Dach – ein Bild, dass man so oft nicht zu Gesicht bekommt. Ebenso wird niemand, der den Film gesehen hat, jemals ›Dapper Dan‹-Haarpomade vergessen, und den Unterwasser-Tanz Dutzender ›Dapper Dan‹-Döschen. Die Poesie der kleinen Dinge: wohl das liebste Steckenpferd von Joel und Ethan.

Einige Kritiker identifizierten stolz all diese Elemente als Coen-Manierismen und postulierten – nach acht Filmen wohl so etwas wie eine Masche witternd – dass »O Brother, Where Art Thou?« trotz der guten Zutaten nicht zu einem Ganzen fände. Dieser Eindruck mag von der episodischen Struktur des Films herrühren; die liegt in der Natur der Geschichte. Besser beraten ist man, sich vom Einfallsreichtum der Inszenierung beeindrucken zu lassen, der allein für zwei, drei Durchschnittsfilme gereicht hätte.

Auch verliert man sich leicht im romantischen Retro-Look des Films; tatsächlich war dies der erste Hollywoodfilm, der komplett digital umgefärbt wurde. So kommt das ausnahmslos stilecht in Szene gesetzte Südstaatenkolorit erst richtig zur Geltung: urwüchsige Sumpflandschaften, Chaingangs auf staubigen Straßen, mit spanischem Moos behangene Baumriesen, weite Baumwollfelder, feudale Villen mit Säulenverandas. Die Ära der Great Depression drückt dem Film ihren Stempel auf: Wir werden Zeuge baptistischer Taufrituale, erleben populistischen Provinzwahlkampf, erhalten Einblick in eine 25-Watt-Radiostation. In dem Moment, als Everett und Co. dort in eine Dose singen, feiert der heimliche Hauptdarsteller des Films seinen Auftritt: die Musik.

Sie allein ist das Eintrittsgeld wert. Wer nicht wenigstens mit der Fußspitze wippt, wenn die Soggy Bottom Boys den Folk-Gassenhauer »I Am a Man of Constant Sorrow« zum Besten schmettern, der ist im falschen Film. Als mehr oder weniger out-of-fashion galten im Jahr 2000 jene alten Lieder des Bluegrass, die Südstaaten-Spirituals, die Balladen der Appalachian Music, die archaischen Stücke des Delta Blues, die frühen Hillbilly-Songs – bis »O Brother, Where Art Thou?« kam und dieser uramerikanischen Musik zu neuer Popularität verhalf: Der von T-Bone Burnett produzierte Soundtrack verkaufte sich allein in den Staaten mehr als sieben Millionen Mal und gewann drei Grammys, unter anderem als ›Album of the Year‹.

Coen Culture. Inspiration zum Konzept von »O Brother, Where Art Thou?« lieferte die Geschichte »A Dozen Tough Jobs« von Howard Waldrop, die die Prüfungen des Herkules in den Süden der 20er Jahre verlegte. Seinen merkwürdigen Titel, wie an anderer Stelle bereits erwähnt, borgt sich der Film aus Preston Sturges‘ Klassiker »Sullivan’s Travels«, in dem ein Regisseur einen sozialrealistischen Film diesen Titels zu drehen sich anschickt, aber niemals fertigstellt.
 


25 Jahre Coen-Kino (7):
The Big Lebowski (1998)

Hamburg, 9. Februar 2010, 07:36 | von San Andreas

The Big Lebowski (Icon)

Der Teppich von Jeffrey »The Dude« Lebowski nimmt Schaden, als er mit einem Millionär gleichen Namens verwechselt wird. Bei dem Versuch, sich das gute Stück wiederzubeschaffen, gerät er prompt in eine bizarre Kidnapping-Geschichte und benötigt die volle Unterstützung seiner Bowling-Kumpels.

Coen Country. Das L.A. der frühen 90er Jahre. Nicht wirklich eine typische Coen-Location, möchte man meinen, aber die Tempel der kleinbürgerlichen Bowling-Subkultur und die Gefilde der Haute-Volée erinnern an »Barton Finks« mal schmuddelig-beengten, mal weitläufig-hellen Schauplätze. Und das war auch L.A.

Coen Klüngel. John Goodman (Walter Sobchak), Steve Buscemi (Donny), John Turturro (Jesus Quintana), Peter Stormare (Uli Kunkel alias Karl Hungus), John Polito (Da Fino), Carter Burwell (Musik), Roger Deakins (Kamera)

Coen Quote. »You’re entering a world of pain.« (Walter lässt beim Bowlen nicht mit sich spaßen)

Coen Gold. Die Traumsequenzen. Die eine scheint direkt einer Choreografie von Tanzveteran Busby Berkeley entsprungen, die andere lässt über L.A. Teppiche fliegen, und eine weitere beinhaltet die wohl einzige Kamerafahrt der Filmgeschichte aus dem Innern einer Bowlingkugel. Womöglich waren es diese Sequenzen, die den Film bei Psychedelia-Enthusiasten so beliebt machten.

Classic Coen? Wer denkt bei »Lebowski« schon an Raymond Chandler? Niemand tut das, und doch liegt diesem durchgeknallten Film eine Story in seinem Geiste zugrunde. Und tatsächlich, durch die Marihuana-Wolken hindurch erkennen wir einen Kriminalfall in aristokratischen Kreisen, wir haben auch perfide Gangster und jede Menge Verwicklungen. Und – wir haben einen Detektiv.

Natürlich wären die Coens nicht die Coens, wenn sie sich für diesen Job nicht den unpassendsten, den am allerwenigsten dafür prädestinierten Zeitgenossen ausgesucht hätten: Jeff Lebowski, einen schlabberigen, schnodderigen Taugenichts in Bademantel und Flip-Flops, längst eine Ikone der Populärkultur. Seinen Einstand gibt er im Supermarkt, an der Milchpackung nippend, mit einem Scheck über 69 Cent bezahlend. Alles klar.

Kurz darauf fängt der Film an, absonderliche Haken zu schlagen, und der Dude, so nennt ihn alle Welt, wurschtelt sich durch einen wunderbar überfrachteten Plot, der am Ende keinen interessiert, der im Grunde auch nicht wichtig ist (Wer hat bitteschön die Zusammenhänge in »The Big Sleep« verstanden? Nicht mal Chandler hat das, nach eigener Aussage …). Der Plot dient nur als Substrat, auf dem aberwitzige Situationen gedeihen, in denen sich unsere Helden bewähren müssen.

Die Coens lassen diesbezüglich sämtliche Bremsklötze sausen, nichts gebietet ihren Passionen Einhalt, das Skurril-O-Meter erreicht den Anschlag. Doch die Exzentrik artet nicht in Beliebigkeit aus. Sie vermittelt bei allem Geigel immer noch kohärente Klasse, sie hält Kontakt zur den Charakteren und ihren Motiven. So kann man als Zuschauer eine Verbindung mit dem Film knüpfen. Und einen Film, dem die Leute sich tief verbunden fühlen, und der dabei einzigartig andersartig ist, nennt man Kult. »The Big Lebowski« ist ein Kultfilm geworden, aber ein richtiger, und niemand war überraschter darüber als Joel und Ethan Coen. Bis heute finden in den Staaten jährliche Lebowski-Festivals statt, selbst im weit entfernten Dresden gibt es eine Lebowski-Bar mit dem Film in Dauerscheife und White Russian satt.

Wie kann ein Film, in dem es um nichts geht, so vielen Menschen so viel bedeuten? Nun, Seinfeld war bekanntermaßen auch eine »show about nothing«; bei »Lebowski« treffen wir auf dasselbe Phänomen: eine grundsympathische Sinnfreiheit. Wobei, nihilistisch ist der Film nicht, auch nicht fatalistisch. Seine Figuren haben immer noch Werte und Eigenschaften, die das Publikum wiedererkennt. Die Weltsicht des Films bringt gewisse, universale Saiten zum Schwingen.

Der Dude ist in seiner gut abgehangenen Art einfach unfasslich cool; im Lexikon müsste unter ›easy-going‹ ein Bild von ihm sein. Niemanden stört es, dass diese Coolness nicht von einer intellektuellen oder psychologischen Überlegenheit herrührt, sondern von grenzenloser Ignoranz und Verantwortungslosigkeit. Sein Verhältnis zu Walter, einem hitzköpfigen Kriegsveteran, gleicht dem eines streitbaren Ehepaares, und irgendwo ist es sehr berührend. Die Dinge werden bis an die Schmerzgrenze zerredet, Phrasen werden gedroschen, dass es eine Freude ist, und das Temperament Walters führt das sonst so gleichgültige Wesen des Dudes ein ums andere Mal an den Siedepunkt. Aber irgendwie verstehen sich die beiden.

Die Diskussionen in der Bowlinghalle sind kolossal banal; hier wird in großem Stil aneinander vorbeigeredet. Dann wieder erwecken Walters Kriegshintergrund und die Referenzen auf den gerade stattfindenden Golfkrieg den Eindruck, hier versteckten sich politische Doppelböden. Mitnichten. Aber die Sprüche kommen uns bekannt vor. Sie klingen echt, die Leute reden so, vielleicht reden wir selbst sogar so. Und das ist so erschreckend wie amüsant.

Wie derlei freidrehende Dialoge, solche farbigen Charaktere und das undurchdringliche Story-Konvolut entstanden sind, mag man sich gar nicht vorstellen; offenkundig wurden Joel und Ethan oft gefragt, was genau sie während der Drehbuchsessions geraucht oder getrunken hätten. Doch wie es Art der Coens ist, wurde auch »The Big Lebowski« am Reißbrett entworfen; die Parts von Steve Buscemi (Donny, dem es kaum vergönnt ist, einen Satz zu vollenden), John Goodman (Walter »Shut the fuck up Donny.« Sobchak) und John Turturro (Jesus Quintana, schmieriger Paradiesvogel) wurden beispielsweise extra für diese Schauspieler geschrieben.

Das Skript aber entwickelt ein Eigenleben. Der Aberwitz der Situationen überlagert schnell ihren Zusammenhang; Logik und Stringenz treten konsequent zurück hinter das Zelebrieren der flüchtigen, merkwürdigen Momente. Niemand wird je wissen, wie das Match von Dude & Co. gegen die Mannschaft von Jesus Quintano ausgegangen ist. Ebenso wenig erfährt der Film ›closure‹, indem der Dude am Ende mit seinem alten Teppich wiedervereint wird (ein Vorschlag des Produzenten, dem die Coens jedoch nicht folgten). Und der altgedienten Raspelstimme Sam Elliot (›The Stranger‹) konnten Joel und Ethan keine wirklich befriedigende Auskunft erteilen, als der fragte, was er in dem Film eigentlich soll.

Seine erdige Erzählerinstanz hat die Story ebenso wenig im Griff wie wir, vermag aber zusammenzufassen, was wir fühlen: »It’s good knowin‘ he’s out there. The Dude. Takin‘ ’er easy for all us sinners.« Das Ende eines Films, dessen bunte und dunkle Elemente sich zu einem einnehmenden Ganzen zusammengefügt haben, wie durch ein Wunder sämtliche Klischees umschiffend, alles getaucht in wunderbare Bowling-Romantik, meisterhaft fotografiert von Roger Deakins (bereits sein vierter Film mit den Coens) und stilecht untermalt mit Feelgood-Stücken von Kenny Rogers, CCR und den Gipsy Kings.

»The Big Lebowski« mag ein Film sein, in dem es um nicht viel geht, aber was wäre das Kino der Neunziger ohne ihn? Er füllt seine eigene Nische, etabliert seine eigene Ästhetik, er hat keine Vorgänger, er hat keine Nachfolger. Heerscharen von Fans ist seine schräge Attitüde profund genug, sie hat etwas Anarchisches, gleichzeitig etwas Sorgloses. Aber wahrscheinlich möchten sie einfach nur sein wie der Dude – und wer möchte das nicht. Jemand, dessen einziges Problem sein kleiner Teppich ist. Denn der hat das Zimmer erst richtig gemütlich gemacht.

Coen Culture. Steve Buscemi feiert hier seinen fünften (und vorerst letzten) Auftritt in einem Coen-Film, und wie Joel und Ethan im Making-of auffällt, haben sie ihn in jeder seiner Rollen sterben lassen (außer in den kleineren Parts in »Barton Fink« und »The Hudsucker Proxy«). Und nicht nur das: Seine Überreste würden kurioserweise mit jedem Film kleiner. In »Miller’s Crossing« endet er als verunstaltete Leiche im Wald, in »Fargo« haben wir ein halbes Bein, in »Lebowski« nur noch Asche.
 


25 Jahre Coen-Kino (6):
Fargo (1996)

Hamburg, 8. Februar 2010, 07:30 | von San Andreas

Fargo (Icon)

Jerry Lundegaard, verzweifelter Autoverkäufer, lässt seine Frau von zwei zwielichtigen Ganoven kidnappen, um vom Lösegeld seines Schwiegervaters einen Großteil abzu­zwacken. Als die Sache gründlich schief geht und es zu Kollateralschäden kommt, tritt Frau Sheriff Gunderson auf den Plan …

Coen Country. Das eisige, unwirtliche Heartland des Mittleren Westens. Fargo liegt im Südosten von North Dakota, der Film spielt aber auch in Minneapolis, Minnesota – der Heimatstadt der Coens.

Coen Klüngel. Frances McDormand (Marge Gunderson), Steve Buscemi (Carl Showalter), Bruce Campbell (Soap Opera Actor), Peter Stormare (Gaear Grimsrud), Carter Burwell (Musik), Roger Deakins (Kamera)

Coen Quote. »This was supposed to be a no rough stuff type deal!«
(Jerry Lundegaard erfährt, dass die Dinge etwas aus dem Ruder laufen)

Coen Gold. Das Kidnapping. Wie Showalter mit Skimaske und Brechstange die Verandatreppe heraufkommt und durchs Wohnzim­merfenster späht und Jean Lundegaard ihn beobachtet, dermaßen perplex, dass sie keinen Muskel rühren kann, ist schauerlich komisch. Wenn die arme Frau die Kidnapper dann noch unterstützt, indem sie sich selbst ausknockt oder später mit verbundenen Augen gegen die Bäume rennt, mag man sich nicht so recht mit den feixenden Gangstern freuen. Humor der ganz fiesen Sorte.

Classic Coen? Nachdem »The Hudsucker Proxy« von vielen als mittlere Enttäuschung abgeheftet worden war, kam mit »Fargo« eine Coen-Breitseite, die Kritik und Publikum schlichtweg dahinraffte. Ein genialisches Glanzstück, das stilistisch und inhaltlich an die Welt von »Blood Simple.« erinnerte. Doch während der noch die Attribute eines Neo Noir aufwies, war »Fargo« ein waschechtes Original.

Der Film ist nicht retro, ist nicht Pop, ist nicht Avantgarde, nicht mal Zeitgeist. Es ist ein Pulpthriller ohne Pulp, ein Schmuddelroman ohne Schmuddel. Er spielt in einem zeitlosen Provinzkosmos, dreht sich ausschließlich um sich selbst. Er beginnt, ist perfekt, und er endet. Keine Verweise, keine Doppelböden, keine Botschaft (Joel Coen: »There is nothing to understand.«). »Fargo« ist Kino, Kino ist »Fargo«.

Der Film lässt das hässliche Antlitz des Verbrechens in Small Town America auftauchen, doch treffen wir weder auf Kleinstadtklischees noch Krimischablonen. Das Personal des Films erscheint so erschre­ckend normal, so dilettantisch und profan, bisweilen ausgesprochen idiotisch, dass wir die Behauptung, der Film beruhe auf Tatsachen, ohne Weiteres zu glauben bereit sind.

Eine Finte, wie der Disclaimer im Abspann verrät (den einige nicht gelesen haben: auf den Feldern Minnesotas sollen Bürger beobachtet worden sein, die eifrig nach der Tasche mit dem Geld suchten …). Tatsächlich gab es in der Gegend ähnliche Fälle um verpfuschte Entführungen, wie man nachlesen kann, und es gibt sie wahrscheinlich überall. In der eiskalten Ödnis North Dakotas und Minnesotas allerdings gewinnen die Auswüchse des unorganisierten Verbrechens eine eigentümlich faszinierende Note. Blut im Schnee, ein Bild von großer Kraft.

So versammeln sich in »Fargo« eine Anzahl frappierender Gegensätze: Unter seiner verharschten Oberfläche ruht ein warmer Kern, seine Ästhetik scheint einerseits stilisiert, andererseits bitter realistisch, er steckt voller Humor – und grässlicher Gewalt. Wie passt das zusam­men? Kann man dem Film vorwerfen, er wäre unentschlossen im Ton, würde Gewalt selbstzweckhaft und Humor lediglich als ›comic relief‹ einsetzen?

Schwerlich; die Dramaturgie hegt keine Hintergedanken. Wenn in »Fargo« Gewalt aufblitzt, dann tut sie das hart und trocken, ohne Soundtrack, ohne Stilisierung – wenn man einen Vergleich bemühen möchte, wie bei Scorsese, nicht wie bei Tarantino. Der Humor des Films schwingt mit, drängt sich nicht auf, ist lapidar, teils tiefschwarz. Die Coens gewinnen ihre komischen Momente aus der präzisen Beobachtung der menschlichen Natur, nicht, wie noch bei »Raising Arizona« und »Hudsucker«, aus Szenen, die auf Lacher hin inszeniert sind.

So ist die liebenswürdige Unbedarftheit von Chief Marge Gunderson ihr (und unser) einziger Schutz vor der brutalen Realität der Morde und Leichen in ihrem Bezirk. Wie sie hochschwanger über den verschneiten Tatort stapft und in herrlichem Midwest-Singsang ihre Ermittlungen kommentiert, ist gleichermaßen glaubwürdig wie amüsant.

Frances McDormands Charakter ist so weit entfernt von einem Klischee-Cop wie nur irgend möglich; sie erinnert in ihrer drolligen, scheinbar arglosen Art und ihrer nichtsdestoweniger unfehlbaren kriminellen Intuition eher an Columbo oder Miss Marple und bringt das in den Film, was vielen anderen Coens abgeht: ein warmes Herz. In Marge und ihrem gemütlichen Mann, der Enten malt und extra in aller Frühe aufsteht, um seiner Frau Eier zu machen, findet »Fargo« sein Zentrum. Und das lange, nachdem der Plot um ein Kidnapping und einen Doppelbetrug in Gang gesetzt wurde.

Jerry Lundegaard (selten besser: William H. Macy) liegt die Neben­tätigkeit als Krimineller nicht besonders, doch er sieht darin die einzige Möglichkeit, seinem zermürbendem Fußvolk-Dasein zu entkommen. Wenn er sich dann um Kopf und Kragen redet, als sein Plan grandios misslingt, wenn er um Fassung ringt, sein Lächeln eine Grimasse, dann erfasst den Zuschauer ein kurioser Mix aus Mitleid und Schadenfreude.

Seltsamerweise nimmt man auch Anteil am Schicksal von Carl Showalter (kinda funny-lookin‘: Steve Buscemi), dem fahrigen, wehleidigen Freak, der die Drecksarbeit erledigen soll, aber kaum mit seinem Kompagnon Gaear Grimsrud (unheimlich: Peter Stormare) klar kommt, einem stoischen Grobian mit Hang zu eruptiver Gewalt. Die Kooperation der beiden endet dann auch abrupt und tragisch; ihre letzte gemeinsame Szene bei der Schreddermaschine ist auf so schockierende Weise komisch, dass sie wohl als die am besten in Erinnerung gebliebene aller Coen-Filme bis 1996 gelten kann.

Das Jahr markiert einen (ersten) Höhepunkt im Schaffen der Coen Brothers. Nie zuvor war ihnen eine derartige Welle ungeteilten Lobes entgegengeschlagen. Sämtliche Kritiker schienen sich abgesprochen zu haben, den Film ihren Jahresbestlisten voranzustellen. »Fargo« eignet sich auch gar nicht zum Ausleben kapriziöser Kritikerlaunen, er bietet kaum einen Halt für Nörgelei. Er ist einfach gut und rund, und er macht den Eindruck, als wisse er das selbst nicht.

Er fühlt sich an wie ein unaufdringlicher Independent-Streifen, den die Experimente der Avantgarde genauso unbeeindruckt gelassen haben, wie sein Stil nicht überformt wurde von den kommerziellen Unbilden populärer Kinokultur. Seine Wirkung scheint direkt von den Charak­teren auszugehen, in deren Haut der Film, und mit ihm der Zuschauer, behende schlüpft, einer nach dem anderen. Die Geschichte wird weniger gezeigt, sie wird erfahren.

Das ist großes Kino, und es scheint so mühelos. Man darf aber nicht vergessen: Wir befinden uns in einem Coen-Film, und jedes Detail ist wohlkalkuliert. Macys Gehaspel und Gestotter stand genau so im Skript, McDormands Manierismen und Phrasen (»Ya, you betcha.«) wurden echten Landsleuten von Dialect Coaches abgeschaut. Es existierte ein detailliertes Storyboard, wie bei jedem Coen-Film. Die Produktion musste auch noch dem Winterwetter hinterher reisen, denn die Coens und ihr Hauskameramann Deakins hatten präzise Vorstel­lungen von den Bildern, die sie aufnehmen wollten.

Und selbige prägen den Film. Diese frostigen Flächen, der fahle Himmel über der Ahnung eines Horizonts, die verschneiten Parkplätze, die eisverkrusteten Böschungen der endlosen Landstraßen. Und mitten darin, ein Gemetzel. Während der Promotion zum Film wurde ruchbar, dass das Opfer, das mit dem Gesicht nach unten im Schnee liegt, von einer Berühmtheit verkörpert würde; die Rede war von Prince, der aus Minneapolis stammt. Dies stellte sich genauso wie die Authentizitäts-Halbwahrheit als von den Coens gestreutes Gerücht heraus.

Der Schluss-Sentiment des Films ist Marge Gundersons simpler Moral gewidmet, die in ihrer Banalität doch so einleuchtend und entwaffnend ist, dass man letztlich doch so etwas wie eine lebensweise Botschaft aus »Fargo« mitnehmen kann: »There’s more to life than a little money, you know. And here ya are. And it’s a beautiful day.«

Coen Culture. Dem Film wurde 2006 die Ehre zuteil, in die National Film Registry aufgenommen zu werden, eine Institution der Library of Congress, die sich der Aufgabe verschrieben hat, Filme zu bewahren, die »culturally, historically, or aesthetically significant« sind. Dazu muss ein Film mindestens zehn Jahre alt sein, und »Fargo« ist einer von nur fünf Filmen, die mit ihrem zehnten Geburtstag postwendend aufge­nommen wurden. Er ist von allen 525 Werken im Archiv bis heute der jüngste Beitrag.
 


25 Jahre Coen-Kino (5):
The Hudsucker Proxy (1994)

Hamburg, 7. Februar 2010, 08:48 | von San Andreas

The Hudsucker Proxy (Icon)

Als Waring Hudsucker, Präsident der erfolgreichen Firma Hudsucker Industries, das Zeitliche segnet, schmiedet der Vorstand den Plan, den Börsenwert des Unternehmens zu senken, um die Anteile des Chefs billig aufkaufen zu kön­nen. Dazu soll ein ausgemachter Idiot als neuer Präsident installiert werden, und wer wäre da besser geeignet als Landei Norville Barnes, der gerade im Mailroom angefangen hat? Norville aber hat eine Sache in petto (»Y’know, for kids!«), die dummerweise riesigen Erfolg hat …

Coen Country. New York City, 1958/59. Heimlicher Nebenschauplatz jedoch ist Muncie, Indiana, das Heimatnest von Norville Barnes, dessen liebenswürdige Einfalt zeigt, wo das Herz der Coens schlägt.

Coen Klüngel. Charles Durning (Waring Hudsucker), John Polito (Mr. Bumstead), Steve Buscemi (Barkeeper), Sam Raimi (Brainstormer), Bruce Campbell (Smitty), John Goodman (Newsreel-Ansager), Carter Burwell (Musik), Roger Deakins (Kamera)

Coen Quote. »Does it come with batteries?« »How can you tell when you’re finished?« »Is there a larger model for the obese?« »What if you tire before it’s done?« »What the hell is it?« (der Hudsucker-Vorstand hinterfragt den frisch erfundenen Hula-Hoop-Reifen)

Coen Gold. Norville Barnes in Mussbergers Büro. Als Norville seinem Boss (Paul Newman) die Idee seines Hula-Hoop-Reifens erklärt (er zeigt ihm einen Kreis auf einem Blatt Papier), unterbricht der Norvilles Wortschwall mit solch ehrfurchtgebietendem Nachdruck (»WAIT A MINUTE!«), dass selbst das Tischspielzeug zu pendeln aufhört. In Großaufnahme natürlich, klack!

Classic Coen? »Barton Fink« hatte die Leute verunsichert, der Film war genremäßig nicht zu fassen. Als man von dem neuen Projekt der Coens erfuhr, gewann man den Eindruck, als wollten sie diesmal auf Nummer Sicher gehen: Eine Komödie, eine nostalgische Geschichte im Stile Capras. Eine sichere Bank.

Dachte sich auch Joel Silver, der es wissen wollte und den von Kritikerlob überhäuften Brüdern Coen vierzig Millionen zusteckte. Kein Aufwand war zu groß, die Welt von Hudsucker Industries zum Leben zu erwecken, jedes einzelne Detail nach Coen-Gusto zu realisieren. Nun, dieser Teil des Planes ging vorzüglich auf: Sämtliche Szenen sind aufs Liebevollste ausgefeilt, jedes Setting in kolossalem Stil hergerichtet, jede Einstellung auf maximalen Effekt getrimmt.

Hinter all der Fingerfertigkeit aber verschwindet der lieb gewonnene, verwegene Coen-Charme fast vollständig. Was gar nicht so schlimm wäre, wenn an seiner Stelle der Charme eines Frank Capra oder eines Howard Hawks den Film erfüllen würde. Als Hommage funktioniert der Film nur auf dem Papier; die Screwball-Anleihen und die Slapstick-Schablonen sind sehr wohl vorhanden und stilecht umgesetzt, auch der Wilder’sche Stakkato-Wortwitz weiß zu überzeugen – doch vermag der Film die Ahnung, dass er am Reißbrett konstruiert wurde, nie ganz abzuschütteln.

Um als Komödie durchzugehen, fehlt es dem Film einfach an echter Fröhlichkeit; und tatsächlich funktioniert er viel besser als Fabel über den amerikanischen Kapitalismus. Die Tretmühlen der schuftenden Arbeiter, die Batterien von Buchhaltern, die bräsigen Chefetagen, die nach Sensationen geifernden Medien – hier entwickelt »Hudsucker« durchaus satirische Schlagkraft.

So rückt der Film eher in die Nähe der Werke Fritz Langs oder Terry Gilliams; sein großes Kapital ist nicht die Figur des Simpels und seiner Tellerwäscher-zum-Millionär-Geschichte, sondern die Darstellung seiner seelenlosen Umgebung. Die kapitalistische Maschinerie, ihre Hierarchien, ihre Bürokratie, ihre autistische Betriebsamkeit, ihr Profitwahnsinn und ihre nackte Gier: Hudsucker ist eine gut geölte Industrie, die nur um ihrer selbst Willen existiert. Nichts illustriert das besser als die Tatsache, dass an keiner Stelle klar wird, was die Firma bis zur Einführung des Hula Hoop eigentlich produziert hat.

Gut geölt wie Hudsucker stampft der Film vorwärts, in unerbittlichem Timing, rechts, links, keine noch so kleine Pointe auslassend; sämtliche Dialoge, sämtliche Design-Elemente klicken mechanisch ineinander, womöglich sich zwischen die Bilder stehlende Gefühlsregungen im Keim erstickend. Am Ende kriegt der Film die Kurve und legt ein astreines Capra-Finale hin, komplett mit einem Engel à la »It’s a Wonderful Life«. Auf dem Weg dahin hat »Hudsucker« allerdings das Herz des Zuschauers kalt gelassen. Und das brach dem Film an der Kasse das Genick.

Die Kritiker redeten den Film schlecht, sahen statt des Künstlerischen nur das Künstliche. Ein Stück synthetisches Kino wäre das, gemacht wie fürs Museum oder für Filmstudenten, nicht für ›die Menschen da draußen‹. Die Zuschauer blieben weg, der Film machte kaum drei Millionen. Joel Silver war bestimmt kurz davor, den Waring Hudsucker zu geben und sein Büro durch das geschlossene Fenster zu verlassen.

Dabei ist diese Szene allein das Eintrittsgeld wert. Ein cineastisches Kleinod, wie im Blick des Mannes seine letzte Entscheidung heranreift, wie er langsam die Taschenuhr ablegt und die Zigarre, wie seine Fullbrogue-Schuhe das Polster seines Chefsessels eindrücken, als er den auf Hochglanz polierten Tisch erklimmt. Und wenn der Mann dann aus dem 44. Stock fliegt (das Zwischengeschoß nicht mitgezählt), mit einem trockenen »Splat!« auf dem Bürgersteig landet und die über­gewichtige Passantin schrill zu schreien beginnt, dann ist er doch da: der Coen-Touch.

Ja, er zeigt sich hier und da. Zum Beispiel in der merkwürdigen Aus­druckstanz-Traumszene. Oder in dem Heiligenschein des Hudsucker-Engels, der schlingert wie ein Hula-Hoop-Reifen (»We’re all wearing them upstairs. It’s a fad.«). Oder in den durchweg köstlichen Montagesequenzen. Eine davon rafft die Produktion, die Vermarktung und den Erfolg des Hula Hoops in schier unerschöpflichem Ideen­reichtum. Die Langwierigkeit der Namensfindung zu visualisieren, indem im Vordergrund des Brainstorming-Büros eine Sekretärin »Krieg und Frieden« liest, und ein paar Einstellungen später »Anna Karenina«, ist schlicht genial.

Mit dem finster dreinblickenden Hausmeister haben wir auch die Stelle des dämonischen Fieslings besetzt, der zum Personal vieler Coen-Filme gehört. Ihm entgegengesetzt ist diesmal eine das Gute symbolisie­rende Person, nämlich in Gestalt des Technikers, der die riesige Uhr des Gebäudes wartet. Ihm wird am Ende eine alles entscheidende Rolle zukommen, ebenso dem Gebiss des Hausmeisters.

Die Szene, in der der wunderbar benamste Dr. Hugo Bronfenbrenner, ein akzentsprechender Freud-Verschnitt, Norville Barnes vor dem versammelten Vorstand vermittels eines eigens angefertigten Films für verrückt erklärt, ist typisch für die cartoonmäßige Überzeichnung des Films. Doch beschränkt sich die Geschichte eben nicht auf derlei originelle Elemente, sondern erzählt auch von einer Beziehung zwischen zwei Menschen – aber die bleibt eine bloße Behauptung.

Jennifer Jason Leighs Figur ist nicht schwer als »His Girl Friday«-Hommage zu identifizieren, aber ihrer rasenden Reporterin fehlt es leider an Liebreiz und Ausstrahlung, so dass die Chemie mit Tim Robbins‘ Charakter auch nie so richtig zustande kommt. Vielleicht hätte das den Film für mehr Leute befriedigender gemacht und die Coens davor bewahrt, ein Opfer ihrer ironischen Grundhaltung zu werden. »The Hudsucker Proxy« mag ein Film fürs Museum sein, aber in seiner Vitrine ist er ein echtes Juwel; es lohnt sich, genau hinzuschauen.

Coen Culture. Die Coens hatten beim Verfassen des Drehbuchs (es entstand bereits 1985) die Unterstützung eines gewissen Sam Raimi. Jener entpuppt sich als langjähriger Weggefährte der Coens: Joel war Schnittassistent bei »The Evil Dead«, mit Ethan zusammen half er Raimi beim Drehbuch zu dessen zweiten Film. Raimi wiederum ist in winzigen Rollen bei den Coens zu sehen: in »Miller’s Crossing« (der kichernde Scharfschütze) und in »The Hudsucker Proxy« (einer der Hula-Hoop-Brainstormer).
 


25 Jahre Coen-Kino (4):
Barton Fink (1991)

Hamburg, 6. Februar 2010, 08:10 | von San Andreas

Barton Fink (Icon)

Barton Fink, ein aufstrebender New Yorker Theaterautor, erliegt den Verlockungen Hollywoods und macht sich daran, ein Drehbuch zu schreiben. Der Job entwickelt sich zum Alptraum: Das Hotel ist zum Fürchten, seine Idole enttäu­schen ihn, zudem ereilt ihn eine schwere Schreibblockade. Allein der nette Nachbar Charlie Meadows scheint ihm wohlgesonnen …

Coen Country. Die Geschichte spielt 1941 in Hollywood. Die Schau­plätze verbreiten typisch amerikanische Schmuddel-Tristesse auf der einen, elitäre Dekadenz auf der anderen Seite: eine Ausstattungs­spielwiese für die Coens.

Coen Klüngel. John Goodman (Charlie Meadows), John Polito (Lou Breeze), Steve Buscemi (Chet!), John Turturro (Barton), Tony Shalhoub (Ben Geisler), John Mahoney (W.P. Mayhew), Carter Burwell (Musik), Roger Deakins (Kamera)

Coen Quote. »I’ll show you the life of the mind!« (Charlies Frust ent­lädt sich in einer wahren Apokalypse)

Coen Gold. Die Rezeptionsglocke. Barton kommt in L.A. an, betritt die riesige Lobby des Earle Hotels. Niemand ist an der Rezeption, er be­tätigt die Glocke, »Rinnnng!«, und schaut sich um. Bald hört man ein Rumpeln, hinter der Theke öffnet sich eine Bodenklappe, und der Hotelangestellte erscheint. Das erste, was er macht: Er führt seinen ausgestreckten Zeigefinger an die Glocke und lässt den Ton verstum­men, dessen man sich – nach exakt achtunddreißig Sekunden – schon gar nicht mehr bewusst war.

Classic Coen? Die Tatsache, dass Joel und Ethan das Skript zu »Barton Fink« während einer Art Schreibblockade bei den »Miller’s Crossing«-Sessions verfassten, wirft ein interessantes Licht auf den Film. Es erklärt zum einen, dass die Story sich um einen schreibblockierten Filmautor dreht, und zum anderen, dass der Film – ganz im Gegensatz zu »Miller’s Crossing« – keinen Genre-Regeln gehorcht, sondern völlig losgelöst in einer freien, kreativen, und vor allem: coenesken Form aufgeht.

Es ist der erste Film, der einen unverstellten Blick auf die Essenz des Coen-Kinos erlaubt. Weder stützt er sich auf klassische Stoffe der Literatur (Dashiell Hammett im Falle von »Miller’s Crossing«) noch baut er auf Genre-Prototypen auf (»Blood Simple.« als Neo Noir). Er verfolgt auch nicht die Slapstick-Marschrichtung, die »Raising Arizona« einge­schlagen hatte. Das Talent der Coens schlägt sich nicht in Lachern nieder. Ihr Metier ist die Irritation. »Barton Fink« ist ein irritierender Film, ein Unikum, ein absonderliches, faszinierendes Stück Kino.

Seine Wirkung entfaltet sich unterschwellig. Subtile Abweichungen von der Norm verleihen Szenen und Einstellungen einen Ausdruck, von dem man nicht genau weiß, ob er komisch sein soll oder unheimlich. Der Page nennt seinen Namen eben nicht ein- sondern zweimal, schiebt sogar noch ein Kärtchen über die Theke (»CHET!«), auf dem das Ausrufungszeichen allein äußerst befremdlich ist. Der Fahrstuhlwärter wartet zwei beunruhigende Sekunden, bevor seine halbtote Stimme knarrt: »Next Stop. Six.« Und oben wieder: »This Stop. Six.«

Barton betritt das Zimmer, legt seinen Koffer auf das Bett. Für diese vermeintliche Lappalie reservieren die Coens eine eigene Einstellung, die nur den Koffer zeigt. Er sinkt tief in die Auflagen ein – entweder ist das Bett sehr, sehr weich oder der Koffer sehr, sehr schwer. Worauf es ankommt, ist, dass die Regie uns dieses Detail bewusst wahrnehmen lässt. Und es ist diese Sorgfalt im Detail, die den Charme eines Coen-Films ausmacht. Bei Joel und Ethan zählt jede Einstellung.

Durch den Filter einer Coen-Inszenierung erreicht uns das, was Barton Fink dämonisch und alptraumhaft vorkommen muss, als skurril und eigenwillig, sicher auch als ein wenig beklemmend, aber unbedingt als originell, weil wir es mit anderen Filmerfahrungen abgleichen. Wir spüren das Augenzwinkern, den spielerischen Wink der Macher in Richtung Publikum, nehmen den Film aber gleichzeitig als integre Story wahr, als durchaus grüblerische Auseinandersetzung mit gleich einer Reihe von Themen. Es geht um soziale Kluften, es geht um Geltungs­bedürfnis und fehlgeschlagene Kommunikation, es geht um das Geheimnis des kreativen Prozesses, um falschen Idealismus, um Entzauberung und Reinwerdung. Die dargestellten Absurditäten im Hollywoodbetrieb, zum Beispiel dessen herrliche Obsession mit ›Wrestling Pictures‹, sind satirisches Zubrot.

So existentialistisch manche dieser Themen auch anmuten: Sie zielen nach innen. »Barton Fink« ist kein Moralstück, kein Lehrwerk mit Zeigefinger; seine Substanz überlagert die Handlung nicht in Metaebenen und Symbolen, sondern ist tief darin verflochten, liegt in der Natur der Sache; der Zuschauer mag sie herausziselieren oder nicht. So kommt es, dass »Barton Fink« wie viele andere Coen-Filme eine angenehme Zurückgenommenheit ausstrahlt und weder schreit »Ich bin Film!« noch »Ich bin Kunst!«

Dass er dennoch beides ist, ist zweifellos ein Glücksfall fürs Kino. Der Nimbus des Films ist nicht der eines Meisterwerks, aber was sonst ist ein Film, in dem alles stimmt? Sämtliche Elemente greifen reibungslos ineinander: die superben Dialoge, die morbide Ästhetik der Bilder (Roger Deakins, wer sonst), die spukhaften Akzente des Sounddesigns (der Luftzug beim Schließen von Bartons Tür), die melancholischen Musikfetzen, das gemessene Timing der Montage, die authentische Ausstattung (der Film spielt fünfzig Jahre in der Vergangenheit), nicht zuletzt das göttliche Schauspiel von Goodman und Turturro.

Trotzdem ist der Film nicht jedermanns Sache. Joel sagte selbst: »People might be put off by it if they think they’re going to see a straight comedy.« Der Film startete in den USA auf nur elf Leinwänden, spielte seine Kosten niemals ein. Amerika war nicht reif für einen echten Coen. Anders sah es in Europa aus: Der Film holte 1991 postwendend die Goldene Palme. Ohne Gegenstimme. Ebenso die Preise für den besten Schauspieler und die beste Regie.

Jury-Vorsitzender war Roman Polanski, mit dessen klaustrophobischen Werken »The Tenant« und »Repulsion« der Film der Coens interessan­terweise das Person-in-einem-Raum-Thema gemein hat. In Interviews gaben sich die Coens gewohnt zurückhaltend und unpräzise. Ihr Film hätte keinen tieferen Sinn, die zweideutigen Dinge aufzuklären würde keine Punkte bringen, hehre Botschaften und gesellschaftliche Relevanz, das wären ihre Interessen nicht.

Welch köstliche Ironie, dass es genau diese Motive sind, die ihren Charakter Barton Fink antreiben. Er zieht aus, um kreativ für die Gemeinschaft tätig zu sein, begibt sich aus freien Stücken in die Hölle, erweist sich aber als vollkommen unfähig, sich in die Welt des kleinen Mannes einzufühlen. Der kleine Mann, er kommt in Gestalt eines ziemlich großen Mannes daher (John Goodman in einer maßgeschnei­derten Rolle), und der ist es auch, der Barton am Ende die Quittung für seine Heuchelei ausstellt.

Da wird der Film zum Malstrom ungeheuerlicher Ereignisse, der Zuschauer schwimmt wie in Trance mit. Wir erleben Barton Finks privaten kleinen Weltuntergang, und als das Inferno abebbt, bleibt er am Strand zurück, irgendwie geheilt und geläutert. Die Welt ist kaputt, der Mensch ist schwach, doch was weiß er schon; es ist einfach ein zu weites Feld. Aber ist es nicht schön, hier am Strand?

Coen Culture. In Preston Sturges‘ Film »Sullivan’s Travels« (1941) verfolgt Starregisseur Sullivan ähnlich idealistische Pläne wie Barton Fink: Einen erdverbundenen, sozialkritischen Film will er drehen, angesiedelt in den Niederungen des Fußvolks. Anders als Barton erkennt der prätentiöse Regisseur aber, dass er keinen Draht zu den Problemen des Mannes auf der Straße hat und besser doch die Auftragswerke seiner Bosse akzeptiert, die dem Volk offenbar so viel bedeuten. Der Titel seines ungedrehten Films: »O Brother, Where Art Thou?«
 


25 Jahre Coen-Kino (3):
Miller’s Crossing (1990)

Hamburg, 5. Februar 2010, 07:56 | von San Andreas

Miller's Crossing (Icon)

Die 30er Jahre, Prohibition. Zwei rivalisierende Gangs beherrschen die Unterwelt und den Alkoholhandel. Tom Reagan, engster Vertrauter von Gangsterboss Leo, will den Ball flach halten, gerät aber in ein Geflecht von Hinterhal­ten, wechselnden Allianzen und tödlichen Intrigen. Eine Frau bringt eine Unwucht in das Verhältnis zu Leo, und eine moralische Kluft tut sich auf, als er ihren Bruder töten soll. Hat Tom Reagan ein Herz?

Coen Country. Für die namenlose Stadt irgendwo im Osten der Staa­ten hat New Orleans als Drehort hergehalten. Aber untypischerweise spielt der Charakter der Umgebung kaum eine Rolle, im Gegensatz zu der Zeit, in der die Geschichte spielt.

Coen Klüngel. John Polito (Johnny Caspar), Steve Buscemi (Mink), John Turturro (Bernie), Sam Raimi (kichernder Scharfschütze), Michael Badalucco (Sal), Frances McDormand (Sekretärin des Bürgermeisters), Carter Burwell (Musik), Barry Sonnenfeld (Kamera)

Coen Quote. »Nobody knows anybody. Not that well.« (Tom Reagan, schön das Lug-und-Trug-Thema des Films zusammenfassend)

Coen Gold. Die »Danny Boy«-Tommy-Gun-Sequenz. Leo hört ent­spannt Grammophon (den irischen Schlager »Danny Boy«), als er vom Untergeschoss her Qualm riecht und die Gefahr wittert, die in Gestalt zweier Schießprügel gerade die Treppe erklimmt. Es bleibt Zeit, die Samtpuschen anzuziehen und die Zigarre zu löschen, da fliegt die Tür auf. Was folgt, ist eine Sinfonie für Revolver und Maschinenpistole: rau, laut und schön.

Classic Coen? In gewissen Kreisen gilt der Film als der beste Coen überhaupt, und man fragt sich, warum. »Miller’s Crossing« ist fraglos ein hervorragender Gangsterfilm, doch verrät er seine Macher nur hier und da. Der Film redet viel; man muss ihm zuhören, genau zuhören, um ihn zu verstehen. Er steht deshalb vielleicht dem Theater näher als dem übrigen Coen-Œuvre, das doch deutlich filmischer daherkommt.

Seine Ausstattung bezieht er aus dem Reservoir der Mafia-Epen der 80er Jahre (»Once upon a Time in America«, »The Untouchables«), seine Geschichte aus Dashiell Hammetts Werken (»Red Harvest«, »The Glass Key«), seine trockenhumorigen Dialoge aus den Noir-Krimis mit Cagney, Bogart und Kollegen. Er bildet so etwas wie eine Quintessenz des Gangsterfilms, hat Stil, Substanz und Klasse, wenn auch eine gewisse Kälte.

Unser Held (Gabriel Byrne) ist nicht der freundlichste, sympathischste Zeitgenosse, den man sich vorstellen kann, aber er hat es auch nicht leicht. In jeder zweiten Szene wird er geknufft, getreten, die Treppe hinuntergeworfen, vor allem aber ohne Unterlass und mit weit aus­holenden Hieben ins Gesicht geschlagen. Wunderbarerweise trägt er allenfalls einen Haarriss in der Unterlippe davon und verbringt den Rest des Films damit, in fein komponierten Einstellungen gut auszu­sehen und zu reden.

Gut aussehen, das tut der Film, keine Frage. Kameramann Barry Sonnenfeld arbeitet (anders als bei »Blood Simple.« und »Raising Arizona«) mit Tele-Optik und Tiefenschärfe, nutzt gedeckte Farben und stilvollen Halbschatten. Und so ist es auch eher der Look als der dicht gestrickte Plot des Films, der in Erinnerung bleibt, sowie die eigen­willigen Details, die sich die Coens auch im selbstverschriebenen Genre-Korsett nicht verkneifen konnten.

Da haben wir die leitmotivischen Fedora-Hüte der Prohibitions-Ära, wir haben leicht angeschrägte, karikaturhafte Charaktere (besonders den aufbrausenden Italo-Gangster Caspar), wir haben wiederkehrende Phrasen (»What’s the rumpus?«, »Drop dead.«), wir haben über­gewichtige Herrschaften, die brüllen wie von Sinnen, und wir haben lyrische Kamerafahrten (die Baumkronen im namensgebenden Wald Miller’s Crossing).

Der Film ist der erste der Coens, den man als Genre-Fingerübung einordnen könnte – auch im Vergleich zu allen weiteren bleibt er zweifellos ein Glanzstück. Er erfüllt eher die Noir-Gangster-Konven­tionen als dass er sie ins Coenversum entführt. Sein komplexer Plot macht ein zweites Ansehen praktisch obligatorisch, und selbst dann ist die Entschleierung der vielschichtigen Beziehungen nicht garantiert.

Glücklich ist der, der durch die Dialogschwaden hindurch zur Persön­lichkeit Tom Reagans vordringen kann; in seiner Beziehung zu Verna, aber vor allem zu seinem Mentor Leo (in letzter Sekunde besetzt, zum Glück: Albert Finney) liegt der Schlüssel zum eigentlich recht warmen Kern der Geschichte. Dass es einem der Film nicht leicht macht, ist sicher einer seiner Vorzüge, konstatieren kann man dennoch, dass »Miller’s Crossing« zwar den Anspruch und die cineastische Klasse, aber nicht unbedingt die Originalität und den Humor anderer Coens teilt.

Coen Culture. Trotzdem der Film relativ straight daherkommt, enthält er doch ein paar vergnügliche Insidergags. Leicht zu verpassen ist Hauptdarsteller Albert Finney im Damenbadezimmer, im Hintergrund als alte Matrone verkleidet. Und das Haus, in dem Reagan wohnt, heißt »The Barton Arms«, als Fingerzeig darauf, dass Joel und Ethan wäh­rend der harten Drehbuchsessions zu »Miller’s Crossing« eine Auszeit nahmen, um das Skript für ihren nächsten Film »Barton Fink« zu schreiben. Nur drei Wochen benötigten sie dazu – vielleicht ein Zeichen dafür, dass ihnen dieser Stoff viel eher lag.
 


25 Jahre Coen-Kino (2):
Raising Arizona (1987)

Hamburg, 4. Februar 2010, 07:53 | von San Andreas

Raising Arizona (Icon)

Ladenräuber H.I. und Ex-Cop Edwina stehlen eines von fünf Babys des Möbelbarons Nathan Arizona, um ihre unfrucht­bare Ehe zu retten. Der Beraubte setzt eine Belohnung aus, worauf zwei üble Knastbrüder und ein apokalyptischer Biker ebenfalls Interesse an dem Kleinkind entwickeln. Eine wilde Hatz entbrennt.

Coen Country. Die Wüste Arizonas, staubige Trailerparks, kakteen­bestandene Ödnis, Wildwest-Städtchen, Tankstellenshops.

Coen Klüngel. Frances McDormand (Dot), John Goodman (Gale Snoats), Holly Hunter (Ed), M. Emmet Walsh (Labertasche in der Maschinenhalle), Carter Burwell (Musik), Barry Sonnenfeld (Kamera)

Coen Quote. »Watch your butts.« (Nathan Arizona auf die Frage, was er den Kidnappern mitzuteilen habe)

Coen Gold. Der Ausbruch der Gebrüder Snoats. Das Gefängnis im Hintergrund, strömender Regen, vorn ein riesiges Schlammfeld. Eine kolossale Gestalt bricht aus dem Matsch empor, kämpft sich nach oben, brüllt unablässig aus Leibeskräften. Seine Pranke glitscht in den Modder und zerrt einen Zweiten an die Oberfläche; der ist auch am Brüllen. Ein Knastausbruch als wilde, naturgewaltige Schlammgeburt.

Classic Coen? Der zweite Streich der Coens konnte unterschiedlicher nicht ausfallen. War »Blood Simple.« langsam, sparsam und grausam, legte der neue Film ein halsbrecherisches Tempo vor, strotzte vor exzentrischem Slapstick und pointiertem Stakkato-Geschwätz. Der Screwball-Klamauk rangiert zwar im Fahrwasser der Mainstream-Familienfilme der Achtziger, ist aber so skurril und subversiv, dass Coen-Enthusiasten ihn ziemlich liebgewonnen haben.

Der Film bietet vieles, was geradezu prototypisch coenesk daher­kommt: schlichte Landei-Gemüter mit breitem Südstaatenakzent, penibel ausgefeilte Einstellungen und Dialoge, dazu diesen speziellen Humor, mal spröde, mal heiter, mal schier bizarr. Vergleicht man »Raising Arizona« mit ihren späteren Filmen, die doch einen deutlich kultivierteren, gemesseneren Eindruck machen, erscheint er wie eine Spielwiese, auf der Joel und Ethan versuchen, ihren Comedy-Stil zu finden. So grotesk, turbulent und over-the-top wie hier wird kein anderer Coen-Film mehr sein (vielleicht mit Ausnahme von »The Ladykillers«, aber dazu dann später).

Man beachte die Szene, in der die Gebrüder Snoats die Tankstelle überfallen. Der Wortwechsel zwischen Gangster und Verkäufer (»Do they [die Luftballons] blow up in any funny shapes and all?« – »No. Unless round is funny.«) wird 20 Jahre später in »No Country for Old Men« unter völlig anderen Vorzeichen stattfinden. Als Gale und Evelle dann in voller Fahrt realisieren, dass sie das Baby auf dem Autodach vergessen haben, schauen sie sich ruckartig mit großen Augen an und brüllen unisono wie am Spieß. Diesem immer wieder lustigen Effekt werden wir in »Intolerable Cruelty« wiederbegegnen, wenn George Clooney und Kompagnon ein fataler Fehler dämmert.

Bei allem Rabaukentum fängt der Film erstaunlich viel Zeitgeist ein, es mischen sich sogar dezente politische Untertöne zwischen die Szenen, natürlich ohne überhand zu nehmen. Joel und Ethan lassen ihre Geschichten gern vor dem Hintergrund politischer Krisensituationen spielen: Bei »Barton Fink« wird das Pearl Harbor, bei »The Big Lebowski« der Golfkrieg sein. Diesmal kriegt Ronald Reagan sein Fett weg.

Die Story an sich lässt sich ganz familienfreundlich an, und sie endet auch mit einer versöhnlichen, gutmenschelnden Szene. Aber was dazwischen passiert, spottet jeder Beschreibung. Da werden Nasen eingeschlagen, da wird ein Baby auf einen Motorradlenker geschnallt, da gibt es chaotische Schießereien zwischen Windelregalen im Supermarkt und einen ziemlich unprofessionellen Banküberfall, zwischendurch explodieren Kaninchen, und später auch, mit großem Kabumm, ein Mensch. Alles natürlich auf die lustige Art.

Den Film bevölkert eine Armada schräger Nebenfiguren, jede davon liebevoll ausgearbeitet und ausstaffiert (obwohl die Nase von Leonard Smalls merkwürdig angeklebt aussieht). Mit John Goodmans Charakter feiert ein echter Coen-Archetyp seinen ersten Auftritt: der bullige Rüpel, der eloquent zu parlieren versteht, seiner dämonischen Triebe letztendlich aber nicht Herr werden kann. Er wird uns in drei weiteren Filmen begegnen.

Auch das handwerkliche Vokabular der Coens definiert sich: Off-Kommentar (Eingangsmonolog!), niedrige Kamerawinkel, dramatische Fahrten in die Großaufnahme, pointierte Montagen, tracking shots die Straße entlang. Vor lauter cineastischer Raffinesse aber, so beklagen Kritiker nicht das letzte Mal, vernachlässige die Regie das emotionale Moment: Das Baby bilde nicht den herzigen Mittelpunkt der Handlung, sondern lediglich eine Art MacGuffin. Das soll aber so sein; im Vordergrund stehen groteske Situationen, Wortgefechte, Szenen voll eigenwilliger Details: Nur die Coens zelebrieren eben Haarpomade im Close-up, und das ist auch gut so (Auf Wiedersehen in »O Brother, Where Art Thou?«).

Trotzdem »Raising Arizona« der eingängigste, durchaus mainstreamigste unter den früheren Coen-Filmen ist, stecken Joel und Ethan damit weiter ihren kreativen Claim ab: Hier verständigen sich die Autoren mit dem Publikum über eine Art der Inszenierung, die fraglos exaltiert daherkommt, die dem Zuschauer aber nichts vormacht. Die Handlung überlagert ein Augenzwinkern, das ein Einverständnis signalisiert über Konventionen im Leben und Konventionen im Film. In »Raising Arizona« sind beide außer Kraft gesetzt.

Coen Culture. Die Credits verzeichnen einen gewissen William Preston Robertson als ›Amazing Voice‹. Der Mann, so stellt sich heraus, ist ein alter Freund der Coens, er war bereits der Radioprediger in »Blood Simple.« und half ihnen bei praktisch jedem Film bis »The Big Lebowski«, wo er unter ›Giggles/Howls/Marmots‹ gelistet ist. Anlässlich des Endes der Dreharbeiten zu »Fargo« richtete er ein Steak-Abendessen aus – die Coens dankten es ihm mit dem Credit ›Meat Dinner MC‹.
 


25 Jahre Coen-Kino (1):
Blood Simple. (1984)

Hamburg, 3. Februar 2010, 05:25 | von San Andreas

Blood Simple. (Icon)

Kneipier Marty beauftragt den skrupellosen Detektiv Visser, seine untreue Frau Abby und ihren Lover, Barmann Ray, zu beseitigen. Visser hat eigene Pläne; kurz darauf segnet Marty das Zeitliche. Denken zumindest alle. Alle außer Abby. Von der Ray wiederum annimmt, sie sei die Mörderin …

Coen Country. Eine namenlose Stadt in Texas während eines heißen Sommers. Die Gegend ist durch ihre Stereotypen, den Dialekt und die karge Landschaft wie geschaffen für die Coens, trotzdem wird es mehr als 20 Jahre dauern, bis sie nach Texas zurückkehren.

Coen Klüngel. Frances McDormand (Abby), M. Emmet Walsh (Loren Visser), Carter Burwell (Musik), Barry Sonnenfeld (Kamera)

Coen Quote. »I haven’t done anything funny.« (Abby, ahnungslos die Prophezeiung ihres Mannes erfüllend, sie würde genau das sagen)

Coen Gold. Ray begräbt Marty, der mit letzter Kraft den Revolver hebt und mehrmals abdrückt. Ray akzeptiert in schuldbewusster Trance das Russian Roulette und entwindet Marty nur langsam die Waffe.

Classic Coen? »Blood Simple.« kam, wurde gesehen, und siegte. Was die Welt 1984 noch nicht wusste: dieser erste Ausflug auf den Planeten Coen war bereits ein nahezu prototypisches Coen-Erlebnis. Ein erstaunliches, selbstbewusstes Debüt, der Beginn einer eindrucksvollen Karriere, und tatsächlich einer der einflussreichsten amerikanischen Filme der 80er Jahre. Independent-Kino wurde durch »Blood Simple.« praktisch über Nacht hoffähig gemacht, der Film bereitete den Boden für Leute wie Tarantino, Soderbergh und Rodriguez, die über das spätere Sundance den Aufstieg schafften.

Stichwort Tarantino: Man stelle sich den Film unter seiner Regie vor. Der Stoff läge ihm, hier steckt ein eins a Pulp-Thriller drin, wie geschaffen für eine knackige Melange aus Avantgarde und Retrokult. Die Coens kleiden ihren Erstling jedoch ins Gewand eines Noir; der Dialog ist hard-boiled, die Inszenierung ruhig, der Ton trocken.

Allerdings versteht sich der Film keineswegs als Hommage, auch nicht als astreines Genrestück. Die Atmosphäre ist da, die Zutaten der Story ebenso, aber die Dramaturgie ist coenesk, typisch einfallsreich und unkonventionell, wenn auch noch nicht so unbeschwert wie in späteren Werken. Direkte Noir-Referenzen bleiben aus. Die Coens zitieren nicht. Keine Metaebenen, keine Spielereien: Alles ist, was es ist. Jedes Mittel dient dem Film, und zwar genau diesem Film. Joel und Ethan verstehen die Sprache des Kinos und die Regeln des Genres, aber sie wissen: Der Zuschauer tut das ebenso.

Die Coens spielen nicht kapriziös mit dem Genre, sondern machen es sich gemeinsam mit dem Zuschauer untertan. Und so entsagt die Regie jeglicher Manipulation, im Gegenteil: Sie schanzt dem Publikum alle nötigen Informationen zu, macht es ohne Umschweife zum Komplizen. Das bedeutet nicht, dass es keine Überraschungen gäbe – nur kann der Zuschauer diese direkt nachvollziehen; sie sind nicht extra für ihn inszeniert.

Freilich gilt es, dranzubleiben: Welche der Figuren weiß zu welchem Zeitpunkt was, und was wiederum denkt er oder sie, das andere Charaktere wissen? Und: Wie viele Kugeln sind eigentlich noch im Revolver? Klingt anstrengend, ist es aber nicht. Die Story entblättert sich ohne Sackgassen, die Fakten liegen klar zutage, müssen nicht erst dechiffriert werden.

So bleibt genug Zeit, die kleinen Details zur Kenntnis zu nehmen, die dräuende Atmosphäre zu verinnerlichen. Unwillkürlich wird man sich gelegentlich den Kragen lockern wollen, so unerträglich lastet die drückende Schwüle der texanischen Nächte: das Drehen der Ventilatoren, die Schweißperlen auf den Gesichtern, das elektrische Knistern der Moskitofallen.

Zahlreiche spätere Coen-Markenzeichen brechen sich Bahn – larmoyanter Eingangsmonolog, kuriose Kamerafahrten, breite Akzente, Gegenstände in Großaufnahme, schwarzer Humor, Traumsequenzen, Ohrwurm-Oldies – und eine gewisse Wahrhaftigkeit sprengt die sonst so distanziert wirkende Noir-Rhetorik. Beispielsweise wird man darauf aufmerksam gemacht, dass es wirklich mühsam sein kann, große Mengen Blut von einem unbehandelten Holzfußboden zu entfernen.

Auch die Tatsache, dass Todgeweihte mitunter äußerst zäh an ihrem Leben hängen, zeigt der Film in einer finsteren, alptraumhaften Sequenz. Die Ereignisse kulminieren schließlich in einem bizarren Endkampf, bei dem sich die Gegner erstaunlicherweise nicht ein einziges Mal sehen. Schüsse fallen, Messer werden gezückt, Kugeln durchschlagen auf Verdacht Sperrholzwände, bis einer, tödlich getroffen, auf den Fliesen des Badezimmers zu liegen kommt.

Nun hat jeder schon einmal beobachtet, wie sich an kalten Armaturen Kondenswasser absetzt, langsam einen Tropfen bildet und quälend lange damit zögert, sich vom Metall zu lösen, dann aber doch unvermeidlich herabfällt. Detektiv Visser (hervorragend reptilienhaft: M. Emmet Walsh) beobachtet das ebenfalls, mit sorgenvoller Miene. Es ist das letzte, was er sieht im Leben.

Das ist er, der Coen-Touch; hier zeigt sich der Sinn der Brüder für die fiesen Kleinigkeiten, für das Skurrile, Makabre und Groteske. Doch derlei Vorlieben ordnen sich dem Geschehen unter, werden nicht selbstzweckhaft herausgestrichen. Da gibt es keine coolen Zeitlupen, keine stilisierten Gewaltausbrüche, keine geschmäcklerische Ästhetik. Coen-Filme sind kein Jahrmarkt. Andererseits sind sie auch keine politische Kundgebung. »Blood Simple.« hat, wie die meisten Coens, keine besondere Botschaft. Ihre Filme, so kann man vielleicht sagen, gehen in sich auf, aber nicht über sich hinaus. Für die nächsten zwanzig Jahre nach »Blood Simple.« werden sich die Coens auch für nicht viel mehr interessieren als für pures, originales Kino.

Coen Culture. Der Film erschien 2008 hierzulande als Director’s Cut auf DVD. Abgesehen davon, dass Carter Burwells Score ein wenig den 80er-Jahre-Charme eines alten Carpenter-Horrors versprüht, ist der Film gut gealtert. Der Director’s Cut war bereits 2000 in die amerikanischen Kinos gekommen, und anders als andere Director’s Cuts ist er knappe vier Minuten kürzer als das Original. Die Coens beschnitten verschiedene Einstellungen oder nahmen sie ganz heraus, um den Rhythmus des Films zu verbessern.
 


Joels & Ethans wunderbare Welt
25 Jahre Coen-Kino — Eine Retrospektive

Hamburg, 2. Februar 2010, 07:55 | von San Andreas

Loren Visser, Evelle Snoats, Bernie Bernbaum, Jack Lipnick, Waring Hudsucker, Jerry Lundegaard, Uli Kunkel, Wash Hogwallop, Freddie Riedenschneider, Rex Rexroth, Goldthwaite Dorr, Anton Chigurh, Chad Feldheimer, Dick Dutton

Was soll man von Filmen halten, in denen die Figuren Namen tragen wie diese? Nur das Beste, wie sich herausstellt. Was wäre das Kino der letzten 25 Jahre ohne die Gebrüder Coen: Sie etablierten mit ihrem Debüt »Blood Simple.« (nur echt mit dem ».«) die amerikanische Independent-Szene, schufen mit »Fargo« einen modernen Klassiker, kreierten mit Jeff »The Dude« Lebowski eine kultisch verehrte Ikone, verhalfen dem Bluegrass-Folk mit »O Brother, Where Art Thou?« zu einer überraschenden Renaissance, stemmten mit »No Country for Old Men« eine der besten Literaturverfilmungen überhaupt. Ihr neuester Film »A Serious Man« zählt als ihr wohl persönlichster, wärmster und nachdenklichster Film bereits jetzt zum Besten, was sie je gemacht haben.

Man sagt, die Coen-Brüder seien ›der Regisseur mit zwei Köpfen‹. Es soll unerheblich sein, ob man während eines Drehs eine Frage an Joel oder Ethan richtet; man würde dieselbe Antwort erhalten. Noch nie wurde an einem Coen-Set beobachtet, dass die Brüder in Streit geraten würden. Nicht ein einziges Mal. Sämtliche Aufgaben teilen sie sich: Sie schreiben zusammen, sie produzieren zusammen, sie führen zusammen Regie, sie schneiden zusammen. Eine schon fast unheimliche Allianz.

Sie funktioniert indes seit 14 Filmen, seit einem Vierteljahrhundert. Ihre imposante Karriere ist eine der respektabelsten Hollywoods und vor allem eine, die am konsistentesten Qualität zu liefern vermochte (es gibt ein schwarzes Schaf in der Familie der Coen-Filme und vielleicht noch ein oder zwei hellgraue). Stellte sich kommerzieller Erfolg ein, ließen sich die Coens dadurch nie von der Tagesordnung abbringen. Schreiben, Filmen, Schreiben, Filmen. Das letzte Mal verfassten sie drei Drehbücher am Stück (»No Country for Old Men«, »Burn After Reading«, »A Serious Man«), um dann drei Produktionen in Reihe zu schalten.

Ihre Filme mögen teilweise an Kaliber zugenommen haben, blieben vom Charakter her aber stets eigenwillige, unbestechlich konsequente Filme, geprägt vom typischen skurrilen, subversiven Stil der Coens und ihrem unfehlbaren Händchen für Charaktere und Dialoge. Die schöpfe­rische Integrität, die allen Poren ihrer Filme entströmt, die charakte­ristische Handschrift sowie die Tatsache, dass sie oft mit denselben Technikern und Darstellern zusammenarbeiten, macht sie per Definition zu Autorenfilmern; und sie sind unter denen wohl die einzigen, die sich durchaus in dem aufhalten, was wir Mainstream nennen, sich A-List-Stars leisten können und messbare Einspielergebnisse erzielen.

Wer wäre denn da noch? Gus Van Sant betreibt Eigenbrötlerkino auf hohem Niveau, ist abwechselnd sperriger und artiger als die Coens. Jim Jarmusch genießt großen Respekt; seine Filme sind introvertierter und unzugänglicher als die der Coens. David Lynch gehört zum guten Ton, er macht abgründiges, sinistres Rätselkino, gerne ohne Lösung. Wes Anderson teilt mit den Coens den Sinn fürs Skurrile, pflegt überdies einen ähnlichen Ausstattungswahnsinn, aber er ist kein Erzähler.

Die Coens besetzen eine eigene kleine Nische, ihre Filme verquicken Anspruch und Amüsement auf wunderbare Weise, sie sind originell und kunstvoll, schämen sich aber nicht ihres Unterhaltungswertes. Sie verlieren sich selten in Launen, bürsten zwar sanft gegen den Strich, bleiben aber stets an der Erzählung orientiert und sind dadurch in der Regel immer gut verdaulich.

Grenzt sich die Coen-Nische thematisch ab? Abgesehen davon, dass ein Großteil des Coen-Œuvres das Verbrechen als narrativen Motor heranzieht (beliebt sind Mord, Betrug und Entführung, und oft geht dabei etwas schief), findet sich kein richtiger roter Faden. Machen die Coens Genre-Kino? Krimis, Thriller, Komödien? Auch nicht. Joel und Ethan kennen freilich die Winkelzüge des Kinos, sie verstünden es mühelos, einen waschechten Noir oder eine astreine Screwball-Comedy auf die Beine zu stellen (Fingerübungen dieser Art finden sich in ihrer Filmografie). Aber viel lieber lassen sie Konventionen links liegen; sie kidnappen Genres und verbiegen die Schablonen nach ihrem Gusto. Dabei machen sie keinen Hehl aus ihrer Liebe zu klas­sischen Formen des Kinos und der Literatur, lassen ihre Filme aber nie zur schwerfälligen Hommage geraten. Sie injizieren das, was man mittlerweile den ›Coen Touch‹ nennt.

Gerne lassen sie ihre Geschichten in der nicht allzu weit zurückliegen­den Vergangenheit spielen (»Fargo«: 1987, »The Big Lebowski«: 1991, »No Country for Old Men«: 1980), bringen aber auch längst vergange­ne Epochen auf die Leinwand: die Prohibitionszeit der 30er Jahre (»Miller’s Crossing«), die Zeit der Depression in den Südstaaten (»O Brother, Where Art Thou?«), das Leben jüdischer Gemeinden zu Beginn der Flower-Power-Ära (»A Serious Man«). Die Geschichten sind allerdings immer fiktiv, nie historisch; die jeweilige Epoche liefert lediglich den kulturellen Hintergrund, die Region das Lokalkolorit, welches in den Händen der Coens oft ein faszinierendes Eigenleben entwickelt.

Zu den Markenzeichen der Coen’schen Filmlandschaft zählen dicke Menschen, schnell redende Menschen, schreiende Menschen, in Dialekten sprechende Menschen, ferner Menschen, die auf bizarre Weise ums Leben kommen. Die Coens lassen die Kamera gerne eine Straße entlangfahren oder auf ein Gesicht zu, einige ihrer Filme beginnen mit Landschaftsaufnahmen und einem launigen Voiceover, sie lieben mit Musik unterlegte Montagesequenzen und zitierbare Oneliner. Unverkennbar ist eine frappante Vorliebe für runde, sich drehende Objekte: sie können die Form von Ventilatoren, Hula-Hoop-Reifen, Radkappen, fliegenden Untertassen, Pomadedosen oder Bowlingkugeln annehmen. Nur Spielerei, eine fixe Idee, oder steckt da eine Art Code dahinter?

Vorsicht! Man hüte sich, im Werk der Coens zu viel Bedeutung zu suchen. Querverweise und Metaphern sind da, warten aber nicht auf ihre Entschlüsselung. In Interviews winden sich Joel und Ethan regel­mäßig bei der Frage, was ihr jeweiliger Film denn bedeuten würde und warum dieses oder jenes Element so und nicht anders konstruiert wäre. Häufige Antworten sind dann »We were just thinking it felt right.« oder »It just goes where it goes.« Ihr Kino ist zu großen Teilen eines, das sich selbst genügt, ohne philosophischen Überbau aus­kommt. Es ist typischerweise nicht darauf aus, die Welt zu erklären, es trägt keine Botschaft, ist nicht politisch, ist nicht allegorisch.

Schlimm ist das nicht, im Gegenteil: Die Abwesenheit von verquasten Metaebenen gibt den Blick frei auf das natürliche Wesen nicht nur des Coen-Kinos, sondern des Kinos schlechthin, auf das schiere Funktionie­ren seiner Sprache. Die Coens tragen keine Aussagen, keine Kunst in den Film hinein, und trotzdem ist die Erfahrung so erfüllend wie bei drei Greenaways zusammen. So unterschiedlich oder abstrus die Themen der Coen-Filme auch sind, sie fühlen sich echt an, unaufdringlich und ehrlich, zwar überlegt, aber nicht überlegen.

Als Macher und Künstler geben sich Joel und Ethan wohltuend be­scheiden und unprätentiös, und sie sind es auch; ihre Filme kommen so gekonnt wie gelassen daher. Sie buhlen nicht um Anerkennung, scheinen einzig und allein dem Kino verpflichtet, und sonst niemandem – nicht dem Studio, nicht dem Kritiker, nicht dem Publikum.

Nicht dem Publikum? Könnte man etwa sagen, die Coens liebten das Kino mehr als ihre Zuschauer? Weit hergeholt ist die Idee nicht, wie­wohl die Rechnung für den Zuschauer dennoch aufgehen kann – wenn nämlich der das Kino genauso liebt wie die Coens, und ihnen, den Machern, ihrer Weltsicht und ihrem Humor noch eher verbunden ist als dem Film und seinen Figuren. Fehlt einem dieses Einverständnis, mag man eine gewisse klinische Kühle wahrnehmen, die tatsächlich vielen Coen-Werken innewohnt – ein unbestimmtes Gefühl der Distanz, ein impliziter Sentiment, der nicht da ist und den man nicht nachahmen kann, auch wenn der Film noch so ausgereift ist.

Dann und wann aber geschieht es, dass ein Coen-Film seine Charak­tere wirklich gern hat, dass er diese besondere Wärme ausstrahlt, die den Film öffnet und ihm die Fähigkeit verleiht, nicht nur geschätzt, sondern auch geliebt zu werden. Präzise dann ist es der Fall, dass ein Werk der Coens die letzte Stufe von der Exzellenz zur Perfektion zu erklimmen vermag. Dem eher intellektuellen Genuss gesellt sich ein emotionaler hinzu, und der macht die Sache rund. Die Kritiker sprechen dann von ›Meisterwerk‹ und ›Geniestreich‹, und einer formulierte es sogar so, ohne die geringste Furcht vor Widerspruch: »In a perfect world, all movies would be made by the Coen brothers.«

*

Was in den nächsten Tagen folgt, ist ein Film-für-Film-Durchmarsch des kompletten Coen-Kanons, von 1984 bis 2009: 25 Jahre, 14 Filme, jeden Tag einen. Ein Hinweis für Coen-Neulinge: Die Texte können Spuren von Spoilern enthalten:

Blood Simple. (1984)
Raising Arizona (1987)
Miller’s Crossing (1990)
Barton Fink (1991)
The Hudsucker Proxy (1994)
Fargo (1996)
The Big Lebowski (1998)
O Brother, Where Art Thou? (2000)
The Man Who Wasn’t There (2001)
Intolerable Cruelty (2003)
The Ladykillers (2004)
No Country for Old Men (2007)
Burn After Reading (2008)
A Serious Man (2009)
 


Was haben die Basterds uns gebracht?

Hamburg, 9. November 2009, 08:00 | von San Andreas

»Inglourious Basterds« gab uns auf jeden Fall die Gelegenheit, wieder einmal David Bowies »Cat People« zu hören. Und das ist schön. Etwas unvermittelt bricht der Glamrock zwar ein in die späten Kriegsjahre, aber auf derlei sorglosen Eklektizismus muss man bei Tarantino ja gefasst sein. Seine Filme wähnt man an der Speerspitze moderner Filmkultur, stets erwartet man Neues, Großes. Doch was von den »Basterds« bleibt – zumindest für eine kleine Ewigkeit – tatsächlich hängen im kollektiven Filmgedächtnis?

Seit elf Wochen läuft der Film jetzt, über zwei Millionen Bürger wollten ihn sehen, allerorten war er der talk of the town. Wieland aus Dresden brachte es mit einem Hinweis auf die außerordentliche Beliebtheit der Basterds in Deutschland zum letter of the month in der (englischen) »Empire«. Und irgendjemand meinte, der Film wäre der beste des Jahres, neben »Frost/Nixon«. Really.

Nun sind die zahlreichen Vorschusslorbeeren gegessen, der Hype ist abgeflaut, die Sensation verblasst. Was übrig bleibt, ist der Film. Und bei Lichte besehen offenbart er doch die eine oder andere Schwäche.

Zum Beispiel die flatterhafte Ästhetik, ist die jetzt gut oder schlecht? Wir erleben ein Stelldichein der Genres, ein wildes Haschmich der Versatzstücke: Der Italo-Western geht auf im Zweiten Weltkrieg, »The Wild Bunch« trifft Grimms Märchen, Leone und Lubitsch geben sich die Klinke in die Hand, das Dreckige Dutzend erscheint im Smoking und macht auf witzig.

Anderen Regisseuren hätte man vorgehalten, sie wüssten zum Geier nicht, welchen Film sie denn nun drehen wollten, Tarantino hingegen wird postwendend ein genialer Stilmix bescheinigt. Na klar, er ist ein Profi, er hat so viel auf der Pfanne, er wird doch wissen, was er tut? Seeßlen schreibt stante pede ein ganzes Buch über den Film, erklärt das Durcheinander zur neuen Ordnung und pamphletisiert über einen neuen Antifaschismus. Gut, Kunst ist auch, was man draus macht. Schaut man sich aber die stilistische und narrative Geschlossenheit früherer Werke an, muss man sich schon wundern. Ziellos wirkt das, unausgegoren, beliebig.

Ein Glück, dass die Episoden in sich oft funktionieren, und siehe da: Ein paar davon gerinnen tatsächlich zu Kleinoden großer Filmkunst. Da gibt es unverschämt lange, meisterlich choreographierte Dialogpassagen, Kammerspiele, die ihre Kraft aus sich selbst heraus entwickeln, die in ihrer klaren Intuition einfach funktionieren, ohne Brimborium und Beiwerk. Sie sind unbestritten die Stärke des Films.

Und dann gibt es da noch das Brimborium und das Beiwerk. Als müsse Tarantino seinem Avantgarde-Ruf Genüge tun, verteilt er neckische Gimmicks im Film, die dessen ohnehin heterogenes Gerüst weiter fragmentieren; sie tauchen zu sporadisch auf, als dass sie ästhetisch Sinn ergeben würden. Da durchbrechen unversehens fremde Erzähler den Fluss, da blitzen Rollennamen in Exploitation-Gelb über Standbildern, da geben hibbelige Montagen überflüssige Hintergrundinformationen.

Den Einschub über das brennbare Filmmaterial zum Beispiel leistet sich Tarantino doch offenbar nur, um einen kleinen Hitchcock-Schnipsel unterbringen zu können. Ansonsten hatte der Dialog bereits klargestellt: Das Zeug brennt. Und wenn eine Rückblende das Publikum noch mit der Nase drauf stößt, dass es sich bei dieser jungen Frau eben um genau jenes Mädchen vom Anfang des Films handelt, spricht Tarantino dem Zuschauer wieder die Intelligenz ab, die er ihm während der ausufernden, ausgefeilten Dialogszenen unterstellt.

Selbige reißen selbstverständlich viel raus. Unvergessen bleiben wird der dräuende Wahnsinn der Auftaktszene im französischen Landhaus, der geniale Dialog, die schlichte Präzision. Selten war Tarantino ernsthafter, nie war seine Inszenierung profunder, feinfühliger, einnehmender. Der Zuschauer merkt sofort: Hier geht es um was. Das ist nicht der verspielte Tarantino, das sind keine coolen Ganoven, die »Seinfeld«-Dialoge zum Besten geben.

Hier versammelt sich die Essenz dessen, was »Inglourious Basterds« hätte sein können: eine feine Beobachtung des menschlichen Naturells, eine frische Analyse verkrusteter Rollenmuster. Die Eloquenz des Scheusals, die perfide Rhetorik des Bösen, die ewige Gefahr elitären Kalküls. Die Hybris seziert in Verbalpracht Marke Tarantino.

Aber ach, wie schnöde dann schon die nächste Episode, ihre stilistische Unvereinbarkeit kaschiert mit Schwarzblende und Zwischentitel. Die Basterds, dieses A-Team des Widerstands, werden vorgestellt, und der Film verfällt in tarantineskes Hommage-Potpourri, komplett mit markigen Dirty-Dozen-Sprüchen, Spaghetti-Musik und einer original Peckinpah-Zeitlupe.

Da sind auch drastische Bilder nicht weit. In Großaufnahme wird da skalpiert, ein Baseballschläger todbringend zweckentfremdet, Stirnpartien mit dem Dolch verziert. Dass eine komplette Szene ihre Spannung daraus bezieht, dass alsbald ein Schädel zerdroschen werden wird, ist nicht nur grundsätzlich fragwürdig, es ist auch nicht eben subtil. Unwillkürlich beschleicht einen das Gefühl, hier nicht der grausamen Realität des Krieges ausgesetzt zu sein, sondern den Ausgeburten des kranken Hirns des Regisseurs.

Warum der Mann seine Filme permanent mit ordinären Splatter-Effekten glaubt würzen zu müssen, ist anybody’s guess. Unablässig jubelt er dem Publikum Widerwärtigkeiten unter – stilvoll umgesetzt zwar, obszön nichtsdestoweniger. Statt effektivem Entsetzen bemüht Tarantino affektive Abscheu, und das ist immer die schlechtere Wahl. Das mag manch einem zwar gefallen, aber gefallen tut der Film an diesen Stellen in erster Linie sich selbst.

Und nebenbei – der riesige Aufwand, mit dem die Figur des Sgt. Donny »Bear Jew« Donowitz (Eli Roth, Großmeister des Torture Porn) eingeführt wird, rechtfertigt sein Nebenröllchen im Rest des Films in keiner Weise. Überhaupt besteht die komplette Mannschaft der Basterds aus uninteressanten Schergen-Schablonen; man fragt sich, wieso der Film nach ihnen benannt ist. Selbst ihr Anführer, Brad Pitt als Lt. Aldo Raine, gerät zur Kentucky-Karikatur, die Untertitel vermissen lässt und irgendwann auf die Nerven geht.

Tarantinos Augenmerk liegt vielmehr – kaum eine Überraschung – auf der Psychologie der Bösewichte. Allerdings interessiert er sich nicht für die seelischen Abgründe des Nazifaschisten im Speziellen; er spielt lieber mit der Idee des gewandten Gentleman-Gangsters, dessen einnehmendem, doch bösartigen Wesen. In dieser Rolle geht Christoph Waltz allerdings vollständig auf; seinen Hans Landa in einwandfreiem Französisch süffisant parlieren zu erleben ist allein das Eintrittsgeld wert.

Überhaupt ist Tarantinos Entscheidung, sämtliche Charaktere in ihren jeweiligen Mutter- und Fremdsprachen reden zu lassen, unbedingt zu begrüßen; sie sollte Schule machen. Dieser Kniff verleiht dem Film eine weltläufigen Charakter und gerade das Quäntchen Authentizität, das den meisten Tarantinos zuvor naturgemäß abging.

Bei allem Gerede über Tarantinos Beitrag zum Zweiten Weltkrieg muss man aber bedenken: Nicht die Weltgeschichte gab Tarantino dieses Sujet, sondern die Filmgeschichte. Den Titel von einer drittklassigen Ballerklamotte entliehen, ist es aber nicht einmal der Fundus der Kriegsfilme, bei dem er sich am meisten bedient; daher stammen nur die Uniformen und die groben Zusammenhänge. Der Rest fügt sich keinen Konventionen: Von Western bis Screwball kann alles passieren.

Es gelten nicht die Regeln des Krieges, sondern die Launen des Tarantino. Ihn interessieren keine Kampfhandlungen, die Front lässt er aus (sie kommt nur als Film im Film vor, eine feine Idee). Auch beklemmende Aspekte blendet er aus, die Opfer, die Lager, die Gräber. Trotzdem kommen natürlich Leute ums Leben. Doch sie werden nicht getötet; sie werden ermordet (wir erinnern uns an Lee Marvin in »The Big Red One«, der das Umgekehrte predigte). List und Tücke braucht es dazu, vieles ist Schauspiel, vieles ist Schein, es wird verkleidet, es wird enttarnt. Der Krieg als Spiel.

Wenn man denn will, kann man den Szenen schon einiges entnehmen, sagen wir Gedanken zu Rassismus und seiner Legitimation, zu Widerstand und Idealismus, zu Heldentum und Propaganda. Dennoch muss man konstatieren, dass es sich hier nicht um einen Kriegsfilm mit Tarantino-Touch handelt, sondern um einen Tarantino-Film im Kriegsgewand. So sucht sich auch des Regisseurs unbändige Liebe zum Kino gerade diesen Film aus, um unverblümter als sonst zutage zu treten; praktisch alle Beteiligten unterhalten sich über Filmkunst, eine Schauspielerin (hölzern: Diane Krüger) bildet die Schnittstelle zwischen Besatzern und Befreiern, und am Ende opfert Tarantino gar ein komplettes Lichtspieltheater für den guten Zweck.

Tarantinos Stilmittel ergeben im dennoch quasi-historischen Umfeld ungeahnte, durchaus erfrischende Effekte, vor allem da die geläufigen Rollenmuster bereits ungefragt einen Bedeutungsvorrat in den Film mitbringen. So birgt die Konstellation aus einer Jüdin, einem Nazi-Offizier und zwei Portionen Apfelstrudel mit Sahne automatisch ein hohes dramatisches Potenzial.

Das beutet Tarantino weidlich aus. Die Unwucht im besetzten Land entfacht Wut und Verzweiflung auf der einen, ein Gefühl der Überlegenheit auf der anderen Seite. Und so entladen sich scheinbare Alltagssituationen – es wird geplänkelt und gespielt, gegessen und getrunken, man geht ins Kino – nach einem Suspense-Anlauf regelmäßig in Salven von Gewalt. Ein effektives, wenn auch zu oft bemühtes Rezept.

Als das Blatt sich wendet, erweist sich die eisenharte Ideologie des Berufszynikers Landa auch nur als ein Ideenkorsett, das man abstreifen kann, wenn die Situation es gebietet. Das ist nur zu menschlich, schließlich ist jedem Individuum von Natur aus ein gewisser Eigennutz mitgegeben. Landa erhält trotzdem seine Strafe, genauso wie die komplette Führerriege. Das Attentat gelingt, das Gemetzel des großen Showdowns reißt Hitler und Kollegen mit in den Tod, Stauffenberg hätte seine Freude gehabt.

Viel bewundert wurde Tarantinos Chuzpe, dem tatsächlichen Verlauf der Geschichte keinen Respekt zu zollen. Nun ist es nicht so, als würden wir Zeuge der epochalen Loslösung vom Diktat der Historie. Jede alternate history bringt bessere Einsichten als dieser utopische Schlenker (Stephen Fry beispielsweise macht in »Making History« Hitlers Geburt ungeschehen, mit erstaunlichen Konsequenzen). Das Besondere liegt in der Art und Weise, wie Tarantino den Führer abtreten lässt. Den Film über auch kaum mehr als eine geifernde Fratze, gönnt er ihm keinen großen, seiner historischen Bedeutung gebührenden Abgang. Hitler geht am Ende einfach mit drauf, fertig.

Und dafür haben wir Tarantino gern. Er hat immer noch eine Überraschung im Ärmel, und seine sichere inszenatorische Hand hebelt so manche kleinliche Krittelei aus. »Inglourious Basterds« wäre sein bester Film seit »Pulp Fiction«, stand zu lesen. Mag sein. Mit Sicherheit der interessanteste. Sein Name steht für inspiriertes Spartenkino, für perfekt gemachten Trash, für explizite, aber ästhetisierte Gewalt. Er erhob das Filmzitat zur Kunstform, betrieb Genrelifting in großem Stil und gab dem Kino so manchen revitalisierenden Impuls.

Freilich trägt er die Narrenfreiheit, die er genießt, bisweilen vor sich her, und so trübt die »Basterds« eine gewisse Selbstgefälligkeit. Tarantino pflegt seinen Ruf als Filmbesessener, bauchpinselt die Kritik mit Referenzen auf teutonische Filmkunst, wobei die Hälfte der Zuschauer mit Jannings, Pabst und Piz Palü wohl kaum noch etwas anzufangen weiß. Das ist trotzdem ganz neckisch; ärgerlicher ist die sprunghafte Ästhetik des Films, er changiert entschlusslos zwischen Drama und Schenkelklopfer, und die willenlos verteilten Avantgarde-Streusel stören eher als dass sie helfen.

Aber. Das historische Setting lässt Teile des Films eine Resonanz entwickeln, die man bislang selten bei Tarantino fand (ob diese Resonanz nun gewollt ist oder nicht). Sein Sinn für astreinen Dialog und punktgenaue Figurenzeichnung sowie das exzellente Spiel besonders der deutschen Kollegen verhelfen einigen Konfrontationen, die in unkonventioneller, fast theatralischer Breite angelegt sind, zu einer Qualität, die den Selbstzweck anderer Passagen zu überstrahlen vermag. Eine richtige Balance stellt sich aber nicht ein (wie sie z. B. Peckinpahs »Cross of Iron« – ebenfalls um Deutsche, ebenfalls teilweise übersteigert – noch erreicht).

Letztenendes mag der Film nicht mehr sein als die Summe seiner Teile, doch bleibt er einer der lohnenderen und unterhaltsamsten des Sommers. Erleuchtung und Erlösung darf man nicht erwarten, und auch das große Kriegsabenteuer, das der reißerische Trailer augenzwin­kernd versprochen hatte, fand nicht statt – was gut ist. Die Scharte der »Death Proof«-Fingerübung haben die »Basterds« indes ausgewetzt, denn zwischen heiterem Filmrecycling und traditionellen Gewaltausbrüchen rutscht Tarantino hier tatsächlich auch großes Kino raus.