Best of Feuilleton 2012
Der Goldene Maulwurf 2012
Die 10 besten Texte aus den Feuilletons des vergangenen Jahres
*8. Jahrgang*
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(Vorwort und Kommentare hier.)
Inhalt: Grassgedicht, Geigenhass, Thielemann, Front National, Übersetzungskritik, Buchmesse, Algorithmen, Kieseritzky, Bundespräsident Gauck, Zwischenmusiken
1. Volker Weidermann
Nachrichten. (Webtitel: Wo wäre Günter Grass ohne Griechenland?) In: Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, 27. 5. 2012. S. 19.
Der Coup des Jahres! Und zwar völlig konkurrenzlos. Volker Weidermann hat den fragwürdigen Hype um die Machenschaften des untoten Dichters Günter Grass ein für alle Mal beendet. Nach der Publikation des zweiten 2012er Quatschgedichts vom Nobelpreisfaktotum, das diesmal nicht von Israel, sondern von Griechenland und so handelte, wurde in der Randspalte der Feuilleton-Frontpage der FAS unter dem Rubrum »Nachrichten« eine Glosse publiziert, die so begann: »Dem Satiremagazin ›Titanic‹ ist es gelungen, ein Gedicht unter dem Namen ›Günter Grass‹ im Feuilleton der ›Süddeutschen Zeitung‹ zu platzieren.« Samstagabend wurde der Artikel dann schon auf faz.net gebracht, und während in Baku noch der Eurovision Song Contest lief, verbreitete sich diese »Nachricht« in Windeseile über Twitter. Dass fast alle das in jener Samstagnacht für bare Münze nahmen, war so natürlich nicht geplant, aber immerhin ein deutliches Zeichen dafür, dass es zum herumdichtenden Grass nichts mehr zu sagen gibt, nie mehr. Nach der dann doch nötigen Auflösung des Scherzes beschwerten sich einige Leser darüber, dass sie sich von der FAS um seriösen Journalismus betrogen fühlten. »Diese Menschen wollen, dass sie nicht nachdenken müssen beim Lesen«, kommentierte Stefan Niggemeier im »Spiegel«. Den Beschwerden sind übrigens auch die unsägliche Überschrift und der erklärende Vorspann der Onlineversion des Textes zu verdanken. Aber sei’s drum, Weidermanns Text kann man trotzdem ruhig noch mal online lesen, er liefert unter den Bedingungen der Ironie auch eine erschöpfende Interpretation des letzten berühmten Grassgedichts.
2. Jens-Christian Rabe
Die Banalität des Dösens. (Webtitel: Femme fatale auf Valium.) In: Süddeutsche Zeitung, 27. 1. 2012. S. 11.
Die Plattenkritik des Jahres! Scheinbar nur eine nüchterne Analyse des farbstichigen Retrosounds von Lana Del Rey, im Kern aber eine gültige Komplettanalyse des ganzen Phänomens. Das virale Drumherum wird nachhaltigerweise nicht nur über Äußerlichkeiten, sondern vorrangig über die Musik zerlegt. Rabes Hauptantriebskraft ist dabei sein herrlich abgrundtiefer Geigenhass, jedenfalls seine Abneigung gegen das Geigengeschmier auf diesem Debütalbum. Auch für Del Reys merkwürdiges Stimmendelay findet er plastische Beschreibungen, ihr Gesang sei »verschlafen«, »wachkomatös«, »schlafmützig«, »souverän gelangweilt«. Der Vergleich mit Helene Fischer ist ein bisschen fies natürlich, und auch andere Sachen sind ein bisschen böse, aber es scheint doch eine Bewunderung für die professionelle Produktion durch, das sei »informierter Mainstream-Pop, Musik vollständig auf der Höhe der Zeit«. Am Ende steht aber wieder der achilleische Groll auf den »Streicherleim« und ein geniales Schlussbild: »Was, wenn Lana Del Rey so etwas wie die Pop-Weltformel entdeckt hat? Wenn der Pop also endlich verstanden hat, wie er die allgemeine Nostalgiesucht restlos befriedigen kann? Dann werden wir feststellen, dass man Geigen nicht essen kann.«
3. Christian Thielemann (mit Martin Machowecz u. Stefan Schirmer)
»Ich bin ja so ein Frecher«. In: Die Zeit 44 (Regionalteil »ZEIT im Osten«), 25. 10. 2012. S. 12–13.
Das Interview des Jahres! Christian Thielemann spaziert im Schlabberlook durch die Dresdner Neustadt und feiert seine Normalität, ganz ganz großartig ist das. Seine Normalo-Offensive beginnt mit der Schilderung von Schwimmbad- bzw. Saunabesuchen, also aufgepasst, liebe Dresdner, an spielfreien Tagen! Weiter geht es mit nur leicht übertriebener Begeisterung für verschiedene Volksmusikanten und mit dem Geständnis, natürlich auch Volksmusiksendungen zu schauen. Gegen Ende hin lenken die Redakteure das Gespräch noch auf Thielemanns Villa in Babelsberg. Unter dem Motto »Ich mache vieles selber!« schildert er dann, wie er seine Putzfrau selbst beaufsichtigt und die Teppichfransen selbst kämmt. Und mit Krustenbrot und Mettwurst »taucht man ein in die Welt der Normalos«. Der Interviewspaziergang wird durch einen Zwischenstopp in einem türkischen Lokal unterbrochen (»Ich nehme die 43!«), wo der Stardirigent tatsächlich auch noch Nasenbluten bekommt, gute Güte! Widersprüchlicherweise ist dieses Interview also der reine Pomp, bombastisch wie ein Opernlibretto von Wagner und deshalb einfach nur, wie schon gesagt, ganz ganz großartig. Thielemann forever!
4. Olivier Guez
Der ewige Käse. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 8. 3. 2012. S. 31.
Der (übersetzte) Kulturkorrespondent der FAZ in Paris, Olivier Guez, für den wir uns bisher nicht so richtig erwärmen konnten, hat dann im März diesen Artikel gelandet. Das Thema war damals zwar nicht sonderlich originell: Marine Le Pen hält eine Wahlkampfrede in der französischen Provinz. Aber allein der erste Absatz oder auch nur die zwei ersten Sätze, schön, nicht? Die Aufzählung von lächerlichen Provinzvergnügungen in Châteauroux als Einleitung wäre schon mehr als super, aber dass der Autor sich noch dazu verpflichtet fühlt, den Ort als »Geburtsstadt Gérard Depardieus« auszuweisen, das ist exzellent, besser kann man nicht die Trostlosigkeit beschreiben, die dort herrscht. Auch die Überschrift ist in ihrer Schlichtheit perfekt. Und der untertriebene Ton, in dem das Geschehen kommentiert wird, kontrastiert wohltuend mit dem unsäglichen Bombast, dem das Frankreich vor der Präsidentschaftswahl ausgesetzt war: »… stoßen wir auf eine imposante Sicherheitsabsperrung aus Sondereinheiten der Polizei und Gendarmen, abschreckend.« »… wie ich einer Quelle im Internet entnehme, der ich hier einmal vertrauen möchte.« »Zu meiner Überraschung neigt sie dazu, Silben zu verschlucken. Ich hatte sie für eine bessere Rednerin gehalten.« Usw. usw., alles unscheinbare Sätze, die aber eben deshalb damals in keiner französischen Zeitung gestanden haben könnten. Sehr toll ist auch, dass Guez nicht nur halbe Sätze zitiert, sondern mit diesem Querschnitt des FN-Wählertums regelrecht ins Schwatzen gerät und die Leute dann ganze Abschnitte volllabern lässt, nur so wird diese spezielle Art Wutbürgertum lesbar. Volltreffer!
5. Ulrich Schmid
Pädagogischer Betrug. In: Neue Zürcher Zeitung, 28. 8. 2012. S. 50.
Eigentlich wollten wir ja diesen einen NZZ-Artikel von Obi Nwakanma küren, »einem Lyriker aus Nigeria ohne Wikipediaeintrag« (Ronnie Grob). Denn: »Solche Artikel gibt es nur noch in der NZZ!« (Perlentaucher) Aber dann stand im August dieser kurze Rant des Berliner NZZ-Korrespondenten Ulrich Schmid in der Zeitung. Und zwar ging es um die Anfangssätze fremdsprachiger Aussagen, die man aus Authentizitätsgründen bei Radio- und Fernsehreportagen gern kurz allein laufen lässt, bevor man die Übersetzungsstimme drüberlegt. Übersetzungskritik ist zwar immer ein bisschen wohlfeil, aber wenn es diese atmosphärischen Einspieler betrifft, dann muss das natürlich unbedingt einmal geschehen. Schmid hat also ein paar Fehltritte aus Deutschlandradio Kultur, der ARD-Sportschau und von Phoenix gesammelt und daraus seinen kleinen Wuttext gedrechselt. Fabelhaft! Der herrliche Geist der Errata-Liste weht durch die NZZ! Von Phoenix verlangt Schmid übrigens »rasche Aufklärung über die Hintergründe der Irreführung«, und man vergleiche hier bitte auch noch mal die großartig drastische Überschrift. Und da Schmid für den genannten Radiosender gleich mit zwei Beispielen aufwarten kann, performt er einen Kritiker, der seinen Glauben an die Kulturinstitution Menschheit verloren hat und in wunderbar gespielter Verzweiflung ausruft: »[D]ie Unglücksraben von Deutschlandradio Kultur – wenn man denen nichts mehr zutrauen kann, wem dann?« Lustigerweise haben wir uns bezüglich der NZZ neulich dasselbe fragen müssen, Stichwort: Anagrammskandal.
6. Mara Delius
Muskeln, Sex und tiefere Bedeutung. In: Die Welt, 13. 10. 2012. S. 27.
Okay, die Frankfurter Buchmesse ist ein Pflichtthema, über das zu berichten eigentlich keiner mehr allzu viel Lust hat. Mara Delius schreibt daher mal einen wie immer auch stilistisch brillanten Metatext, der für alle Buchmessen der vergangenen tausend und noch der nächsten paar Jahre bis zur Umtaufe in E-Book-Messe Gültigkeit hat. Gleich das erste Bild ist impressionnant: »ein Kritiker beim Verschlingen einer phallischen Wurst, Senf tropft behäbig auf den Merinoschal, den Weißwein, den er einem später ins Gesicht hauchen wird, kann man jetzt schon riechen. Mémoire involontaire mal anders«. Und da ist sie erst auf dem Innenhof des Messegeländes angelangt. In den Hallen wiederum sehe man dann sowieso immer dieselben Personen, und das stimmt ja tatsächlich: »Roger Willemsen, der aussieht wie Ulrich Wickert, der sich gibt wie Joachim Unseld, der klingt wie Dieter Moor, der doch aber wiederum Hellmuth Karasek sein könnte«. Dann noch ein Besuch beim Kritikerempfang von Suhrkamp und fertig.
7. Kathrin Passig
Warum wurde mir ausgerechnet das empfohlen? In: Süddeutsche Zeitung, 7./8. 1. 2012. S. 13.
Du Algorithmus, du! Kathrin Passig hat sehr richtig beobachtet, dass das Algo-Wort, das übrigens eine der schönsten Etymologien der Welt besitzt, auf dem besten Weg zum »Schulhofschimpfwort« ist. Sie beschreibt kurz, wie es dazu kommen konnte, und nimmt das tolle Wort dann gegen die haltlosen Angriffe in Schutz. Wie immer bei Passig ist in dem Text viel zu viel drin und trotzdem ist er noch unterkomplex, aber nur sie kann so ein Thema überhaupt mit Zeitungsbuchstaben formulieren. Sie zeigt dann durchaus Verständnis für die allgemeine Sorge um »das unbeaufsichtigte Treiben der Empfehlungs- und Filteralgorithmen« und erklärte später im »Breitband«-Interview, dass diese Sorge so schnell ein Eigenleben entwickeln konnte, weil es ein »frei flottierendes Bedürfnis nach irgendeiner unsichtbaren Macht [gibt], die unser Verhalten in irgendeiner Weise steuert«. Passigs eigener Vorschlag für die Überschrift lautete passend dazu: »Mama, unter meinem Bett sind Algorithmen«. Also: Algorithmenkritikkritik vom Feinsten!
8. David Axmann
Tierische Verstörungen. In: Wiener Zeitung, 1. 12. 2012. S. 41.
»Des Verfassers Name« – mit dieser erfolgreichen Genitivinversion beginnt der zweite Satz dieser besten Belletristik-Rezension des Jahres. David Axmann wundert sich also über des Verfassers Namen, er scheint Ingomar von Kieseritzky folglich gar nicht zu kennen und kann ihn deswegen erfreulicherweise ganz unbefangen beurteilen, dabei haut der doch schon seit Jahrzehnten ein Buch nach dem anderen raus und hat überdies schon mindestens gefühlte drei Mal den Hörspielpreis der Kriegsblinden gewonnen, deren Jury freilich seit 2007 auch Zivilblinde angehören. Das Cover seines neuen Buches »Traurige Therapeuten« ist übrigens ohne Zweifel das schönste des Jahres, wird in der Kritik aber leider nicht erwähnt. Dafür wird einem sehr plastisch das Tierpersonal vor Augen geführt, welches Kieseritzkys Roman bevölkert: etwa ein Papagei, der nach einem berühmten finnischen Logiker und Wittgenstein-Nachfolger benannt ist. Nicht so nett ist, dass der Autor hier ein bisschen ironisch als »Patient« bezeichnet wird. Unweigerlich muss man wieder an das komische Diktum denken, das Ursula März im Deutschlandfunk und in der »Zeit« gefällt hat: »dass Leute, die ihre Zeit mit Bücherschreiben verbringen, per se leicht durchgeknallt sind«. David Axmann hingegen kommt gerade aufgrund seiner Vorurteilsfreiheit zu dem schönen Ergebnis: »Ingomar von Kieseritzky verfügt über gut entwickelte handwerkliche Fähigkeiten (Satzaufbau, Wortschatz, Grammatik)«.
9. Friederike Haupt
Freiheit für alle. In: Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, 29. 4. 2012. S. 12.
Dieser Text stand aus Versehen im Politikteil, ist aber hundertprozentiges Feuilleton, ein charmanter kleiner Kommentar zur Freiheitsemphase des neuen Bundespräsidenten und darüber, dass »Lebensthemen und Laberthemen […] manchmal nicht weit auseinander« liegen. Die Argumentation ist schlichtweg bestechend: »Einen Bundespräsidenten, der Freiheit schlecht findet, gab es bisher noch nicht. Er wäre wohl ziemlich unbeliebt gewesen.« Dabei ist das Ganze, wie gesagt, sehr charmant formuliert und kein Gauckverriss, der ja bei gleicher Materiallage ohne weiteres auch möglich gewesen wäre. Aber der Aufzählung einiger Freiheitssätze aus den ersten Amtswochen folgt dann nur die schöne Feststellung: »Ein Bundespräsident ist keine Wagner-Oper, er braucht kein Leitmotiv, um gut zu sein.« Am Ende lobt die Autorin den Neupräsidenten aber noch ein bisschen, der Artikel ist also durch die vielen schönen Sätze und die ausbleibende Polemik geradezu provokant und fordert eigentlich vehementen Widerspruch heraus, funktioniert aber wunderbar als Überdruckventil für Gauckkritiker, und wenn man es aushält, den Text dann noch ein zweites Mal zu lesen, und das sollte man unbedingt tun, ist man mit Sicherheit ein besserer Mensch geworden.
10. Thomas Winkler
Musik, die keine sein darf. In: die tageszeitung (sonntaz), 14. 1. 2012. S. 35.
Zwischen den Wortbeiträgen, aus denen der Deutschlandfunk hauptsächlich und schönerweise besteht, gibt es ja immer diese kurzen musikalischen Einspieler, diese Füll- und Übergangsmusik. Wirklich ein Wahnsinnsthema, und jetzt hat auch mal jemand darüber geschrieben, nämlich Thomas Winkler in der taz: »Wer tagsüber Deutschlandfunk hört, stellt […] fest: Es läuft langweilige, sehr langweilige und tödlich langweilige Musik.« Die Dudeleien mit Brückenfunktion dürfen nicht herausstechen, nicht ablenken, sie müssen unscheinbar bleiben, Musik ohne Eigenschaften. Und doch muss es sie geben, aber bevor man das nach ein paar Sekunden merkt, wird sie dann oft schon wieder ausgeblendet. »Bloß: Wie zum Teufel findet man so eine Musik?« Das absichtsvolle Heraussuchen dieser »gesichtslosen« Klangteppiche ist sozusagen eine moderne Variante von »Dr. Murkes gesammeltem Schweigen«. Jedenfalls gibt es in der Redaktion auch ein »auf viele tausend Titel angewachsenes Repertoire«. Und das ist doch einfach mal wieder richtig super.
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[ veröffentlicht am 8. 1. 2013 ]