Best of Feuilleton 2013
Der Goldene Maulwurf 2013
Die 10 besten Texte aus den Feuilletons des vergangenen Jahres
*9. Jahrgang*
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(Vorwort und Kommentare hier.)
Inhalt: Schwabinger Kunstfund, Roman in Fragen, Botho Strauß, Latein, Lösch-Theater, Zukunftsverweigerung, Klassiker, Frau Haneke, Richard David Precht, Tischgespräch
1. Özlem Gezer
Die Liebe seines Lebens. In: Der Spiegel 47, 18. 11. 2013. S. 126–130.
Es ist alles andere als einfach, zu einem ubiquitären Topthema auch den singulären Toptext zu liefern. Natürlich waren nach dieser Kunstfundstory, die von finsteren Mächten zum Großskandal aufgebauscht wurde, alle hinter Gurlitt junior her. Aber wieder mal war es der hier wie auch sonst keine Kosten und Mühen scheuende »Spiegel«, der diese Geschichte mustergültig und nachhaltig in unsere Kulturverarbeitungshirne geschrieben hat. Die biografische Annäherung an den greisen Kunstsammlersohn Cornelius Gurlitt hat etwas von der Wiederentdeckung und Ausgrabung Pompejis. Seit 50 Jahren schaue er nicht mehr fern. Sein Hotelzimmer buche er per Schreibmaschinenbrief. Dafür kann er jederzeit Details einer Kafka-Erzählung abrufen. Pointillistisch verschränkt Özlem Gezer Details aus Vergangenheit und Gegenwart zu diesem 24.000 Zeichen langen feuilletonistischen Meisterstück. Sie beschreibt ganz aktuell die Umstände einer notwendigen dreitägigen Reise von München in die ungenannte süddeutsche Kleinstadt, in der Gurlitts Internist praktiziert. Nebenbei wird Gurlitts Biografie als Liebesgeschichte erzählt. Die Liaison mit den auf ihn gekommenen Bildern sei so weit gegangen, dass er mit ihnen gesprochen habe, mit Liebermann, mit Chagall, mit Beckmann, Picasso, Matisse. Die ausgestellte Quirkiness kippt eigentlich nur einmal kurz in affirmiertes Gegenwartslamento um (»In den Kaufhäusern gibt es nichts mehr nach seinem Geschmack.«) und präpariert ansonsten gekonnt die tragische Komponente heraus: Wer von seinem umtriebigen Vater 1.400 Werke der klassischen Moderne erbt, ist sein Leben lang dazu verurteilt, Sohn zu sein. Und der Rest ist, wie gesagt, Pompeji.
2. Andreas Puff-Trojan
Fragen, nichts als Fragen. In: Der Standard, 26./27. 1. 2013. ALBUM (Samstagsbeilage).
Eine den Stil des rezensierten Buches imitierende Kritik! Das gab’s zwar schon hie und da, Hajo Steinert beispielsweise zitierte damals in der »Welt« aus Thomas Lehrs Novelle »Frühling« die quatschigen Zeilen: »Helfen Sie. Mir! Glauben Sie: Ich würde niemanden. Bitten, wenn mir nicht immer: der Bürgersteig: das Haus: hören Sie diese dunkle Straße sogar: diese Stadt. Selbst! Immer wieder. Entgleiten würde.« Um dann die Rezension kurz im gleichen Stil fortzuführen: »Das Buch. Ist glauben Sie. Mir! Eine einzige Dunkelheit und: ich würde niemanden bitten diese: Rezension weiterzulesen, wenn es sich hier nicht um: Ein! Buch! Handelte von einem Autor, der nach seinem Roman ›Nabokovs Katze‹ zu den: Ausgezeichneten. In Deutschland! Gezählt werden muss.« Andreas Puff-Trojan nun sah sich vor eine noch schwierigere Aufgabe gestellt, bespricht er doch Padgett Powells (von Harry Rowohlt übersetzten) »Roman in Fragen«. Fast 200 Seiten lang wird in diesem Werk einfach eine Frage an die nächste gereiht. Es verdient also jeder Respekt, der da nicht schon beim Lesen durchdreht. Auch Andreas Puff-Trojan reiht in seiner Rezension eine Frage an die nächste, doch wie er die Leser eben gerade nicht in den Wahnsinn treibt, sondern zu Begeisterungsstürmen hinreißt, damit befindet er sich als Literaturkritiker lonesome at the top! Zum ersten lockert er das Ganze damit auf, dass er eine Art Best-of aus dem Roman darbietet: »Finden Sie Wurst (und das Prinzip Wurst) anziehend oder abstoßend, oder sind Sie wurstneutral?« Zum zweiten sind seine legeren Fortführungen der Powell’schen Fragestellungen noch um ein Vielfaches gewitzter als das Original: »Ist für Sie der Satz im Roman ›Haben Sie Hegel kapiert?‹ eine rein philosophische Frage, oder könnte man sie auch bei einer Cocktailparty einfach so in den Raum stellen?« Und zum dritten wirkt die Bemerkung, dass im Titel der deutschen Übersetzung – das Original heißt »The Interrogative Mood. A Novel?« – ein Fragezeichen fehle, passenderweise gleich viel eleganter, wenn sie bloß andeutungsweise und eben als Frage vorgetragen wird. Nie noch wurde der Konsenskünstler Harry Rowohlt so wunderschön getadelt.
3. Sascha Lobo
Vom Genre der Besserhalbwisserei. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 1. 10. 2013. S. 31.
Sascha Lobo liest Botho Strauß. Das ist wie Windows auf einem MacBook installieren, also etwas überraschend, aber den anschließend erstellten Erfahrungsbericht liest man auf jeden Fall gern. Es geht einmal mehr um das Internet und die Großautoren unter ihren Verächtern, namentlich Günter Grass und Botho Strauß. Grass hatte mal wieder ein Interview gegeben, in dem er von »Facebook und all dem Scheißdreck« radebrecht, und da bestätigt Lobo ohne große Mühe die ja bereits mehrfach gestellte Diagnose ›unwissende Arroganz‹. Botho Strauß mit seinem Essay »Der Plurimi-Faktor« hingegen unterstellt er eine »furiose Gegenwartsanalyse«. Auch wenn er ihn korrigiert: Denn die vom elitistischen Strauß beschworene »Begrenzung des Zugänglichen« falle im Netz nicht weg – im Gegenteil: die nicht kontrollierbare Datenflut ersetze geradezu antike Zugangsbegrenzungsmechanismen wie Mauern und Torwächter. Den »Nerd« kürt Lobo kurzerhand zum digitalen Nachfolger des von Strauß gefeierten unverstandenen Außenseiters. Die mehrfache, ostentativ genussvolle Lektüre von Strauß’ letztjährigen Publikationen lässt auch Lobo beklagen, dass es sich beim Internet doch leider nicht um einen »Bildungsautomat«, sondern nur um eine »Halbwissenmaschine« handele. Am Ende verkürzt er den »Plurimi«-Essay noch erkenntnisfördernd auf fast alle seine Sätze mit Ausrufezeichen und interpretiert die so entstehende Appellstruktur als Gesang vom »Ende des Privaten im Digitalen«, »ein mutmaßlich unbeabsichtigtes, aber glänzendes Analogon zur Spähaffäre, geschrieben vor Snowden«. Und der ebenso hoffärtige wie fulminante letzte Satz lautet: »Jede denkende, jede fühlende Person wäre lieber rechts mit Botho Strauß als links mit Günter Grass.«
4. Wilfried Stroh
Papst fehlbar! In: Münchner Abendzeitung, 23. 2. 2013. S. 21 und online.
Wie schön! Der Klassische Philologe Wilfried Stroh ist ja schon seit längerer Zeit emeritiert und hatte daher Zeit, die lateinische Abschiedserklärung des Papstes nachträglich zu lektorieren und Benedikt einige Fehler vorzuhalten, wozu die »Münchner Abendzeitung« dann noch eine herrlich reißerische Überschrift beisteuerte. Dabei führt diese frohgemute Schulmeisterei eigentlich zu dem positiven Urteil, dass sich der Text wohltuend »von dem oft modernistisch gequälten Latein vieler Enzykliken der letzten fünfzig Jahre« abhebe. Dennoch benutze Benedikt viele »unnötige Modernismen« statt ciceronischem Latein. So habe er etwa auf die Vokabel ›decisio‹ statt ›consilium‹ zurückgegriffen, um seinen ›Entschluss‹ mitzuteilen, was Stroh zufolge ein etwas falscher Freund aus dem heutigen Englisch oder Italienisch sei. Dann noch ein Kongruenzfehler hier, eine falsche Infinitivkonstruktion da, alles nicht so der Rede wert, aber natürlich lustig zu lesen, so wie schon Strohs durchgefeiertes Buch »Latein ist tot, es lebe Latein!« aus dem Jahr 2007. Eines aber hat Valahfridus Stroh übersehen: Es könnte sich bei den päpstlichen Grammatikfehlern auch um einen performativen Akt gehandelt haben, schließlich hat Benedikt den Rücktritt mit seinen nachlassenden Geisteskräften begründet.
5. Simone Meier
Das Höhlengleichnis. In: Süddeutsche Zeitung, 15. 1. 2013. S. 12.
Zack, haute Simone Meier schon gleich eingangs 2013 diesen brutal guten Text über eine Basler Inszenierung von Volker Lösch raus. Da war eigentlich bereits klar, dass diese Theaterkritik nicht mehr zu toppen sein würde. In nur zwei scheinbar selbstironischen Sätzen wird hier die ewig valide Definition der Beziehung zwischen Schweizern und Deutschen geliefert: »Es ist ja so mit uns Schweizern: Wir wollen von den Deutschen Schwarzgeld, selbstverständlich. Aber auch Liebe.« Doch wie macht man das als deutscher Regisseur: den Schweizern Liebe geben? Natürlich, man bringt Robert Harris’ Bahnhofsbuchhandlungsroman »The Fear Index« auf die Bühne und lässt von Bankerpartys erzählen, »für die tausend Mitarbeiter aus der ganzen Welt in die Schweiz geflogen wurden und für die alle weiblichen Angestellten einen Tag frei bekamen, um sich schön zu machen«. Die Kritikerin möchte vor lauter Begeisterung am liebsten zwischenapplaudieren, aber weil auf der Bühne ohnedies das reinste Tohuwabohu herrscht, würde das niemandem weiter auffallen. Schließlich der Höhepunkt der Kritik: »Okay, gut, vielleicht ist alles dann auch ein bisschen plump, egal, der simple Harris und der vielleicht ein bisschen plumpe Lösch ergeben zusammen dann doch einen krassen Spaß.« En passant wird auch noch Jean Ziegler gedisst und im Grunde muss man diesen Hammertext eigentlich drei Mal lesen, bis man (als Deutscher) endlich kapiert, dass hier eben nicht, wie behauptet wird, die masochistischen Schweizer von so einem »richtig fetten, großen, deutschen Star-Regisseur« nach Strich und Faden veräppelt werden, sondern dass es die Deutschen™ sind, die hier auf unnachahmlich raffinierte Weise von Simone Meier veräppelt werden. Zu-ga-be!
6. Claudius Seidl
Die Zukunftsverweigerung. In: Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, 4. 8. 2013. S. 41.
Hier ist er, der beste Wenn/dann-Satz des Jahres: »(…) wenn morgens die Sonne aufgeht, das Frühstück schmeckt, und das fließende Wasser im Bad funktioniert, dann möchte man doch ausdrücklich dabei nicht an die Kanzlerin denken müssen –«. Wie Claudius Seidl die Tausendstelsekunde im Kanzlerinnenwahlwerbespot, in der zu ›sehen‹ war, wie sie die FAZ liest, breittritt, das ist einfach sehr gut, und der Satz geht sogar noch genauso gut weiter. Seidl lässt Angela Merkel an ihrem »Regierungskaffee« nippen und schließt sich ansonsten implizit dem Wahlboykotteur Harald Welzer und seiner Kritik der »Zukunfts- und Realitätsverweigerung« der politischen Klasse an. Er interpretiert die SPD-Wahlplakate und die darauf inszenierten Darsteller normaler Leute und diagnostiziert, auch anhand der (arbeitshypothetisch kurz ernst genommenen) Wahlspots der CDU, der FDP und der Grünen, die »totale Usurpation des Alltags, des Privaten, des Nichtpolitischen durch die Parteien«. Dem Wachsfigurenkabinett der Wahlnichtkämpfer werden dann sage und schreibe die Echtheit und Street Cred eines Franz Josef Strauß gegenübergestellt. Nicht schlecht, denn von der Politik fühlt sich Seidl einfach auch als Publikum und Adressat verhohnepipelt, und dass die Kanzlerin lediglich die Qualität der Frühstückssemmeln zu garantieren scheint, ist natürlich nach wie vor ein bisschen wenig.
7. Liane Bednarz
Literarisch, klassisch, gut. In: Die Tagespost, 17. 10. 2013. S. 9.
Marcel Reich-Ranicki fällte über Goethe dereinst das mehr oder weniger bis heute gültige Urteil: »Er war ein sehr begabter Autor«. An Büchners 200. Geburtstag nun veröffentlichte Liane Bednarz unter einem kecken Ritter-Sport-Werbeslogan-Allusions-Titel im Feuilleton der Würzburger »Tagespost«, der »Katholischen Zeitung für Politik, Gesellschaft und Kultur«, einen ganzseitigen und in jeder Hinsicht himmlischen Artikel über die Bedeutung der Klassiker im Allgemeinen. Büchner selbst kommt aufgrund seiner religiösen Zweifel eher am Rande vor und hatte ja in diesem Jahr auch insgesamt wenig Glück. Die sich in ihrer Rolle als Literaturbetriebsulknudel einen Tick zu sehr gefallende Sibylle Lewitscharoff hat es sogar fertiggebracht, in ihrer Dankesrede zur Verleihung des Büchnerpreises Büchner nicht nur, MRR lässt grüßen, »das begabte Bürschle« zu nennen, sondern sich für den Büchnerpreis mit ihrer bemüht-aufrührerischen, pseudo-uneinverstandenen Haltung selbst zu disqualifizieren: »Anmerken möchte ich gleich, daß mir der Theaterautor Büchner wenig bedeutet.« Liane Bednarz also fragt, woher die ungebrochene Faszination für die Klassiker (u. a. der von Papst Franziskus gern zitierte Hölderlin, aber auch Dante, Eichendorff, Chesterton, Bernanos sowie, warum auch nicht, Evelyn Waugh) rühre und kommt zu dem Schluss: Der Grund liege in ihrem »Klassikersein«. Was irgendwie tautologisch klingt, ist nichts weniger als die These (die von Deutschlehrern erst noch falsifiziert werden müsste), dass Klassiker generell gut gefunden werden. Für die zeitgenössische Literatur, so stellt Liane Bednarz fest, gilt das aber nicht: »Wer die Internet-Seite ›www.perlentaucher.de‹, auf der Rezensionszitate aus den Leitfeuilletons zusammengestellt werden, regelmäßig studiert, weiß, dass ein Roman höchst selten einhellig gelobt wird.« Es sei denn, versteht sich, wir warten einfach noch die nächsten zweihundert Jahre ab.
8. Margarethe Mark
Die wahre Liebe. In: ZEITmagazin 23, 29. 5. 2013. S. 28–33.
Nach der Lektüre Ende Mai haben sich alle sofort gegenseitig gefragt: Was ist das für ein Text? Wo kommt der her? Und wer ist Margarethe Mark? Also, der Text ist ein Porträt über Susie Haneke. Sie und die Autorin sitzen anfangs im Café Landtmann in Wien und tragen denselben Lippenstift. Betont vorsichtig, aber auch nachsichtig soll die Frau hinter der Frau des »Weltregisseurs« Haneke kennengelernt werden. Hanekes Film »Amour« und die zugehörige Oscar-Prämierung spielen eine Rolle, außerdem die Hilfestellungen seiner Frau beim Set-Design: »Eines Tages werden Filmgeschichtler den Einfluss von Susie Haneke auf Michael Hanekes cineastisches Werk untersuchen.« Man merkt es recht schnell, einen wirklich guten Text über Susie Haneke kann man eigentlich nicht schreiben. Aber Margarethe Mark hat es trotzdem getan. Dieser Text ist gleichzeitig nichts weniger als die versuchte Neuerfindung des »ZEITmagazins«. Und wie immer bei solchen Sachen gibt es Widerspruch, die Leserkommentare sind harsch, »pratentiös, schwach und selbstherrlich« sei das Porträt. Was natürlich hundertprozentig stimmt, was aber, siehe oben, auch gar nicht anders möglich ist. Ende November haben wir vom Tod der Autorin erfahren und außerdem, dass es sich um die berühmte Boulevardjournalistin Marga Swoboda handelte, die »mit 58 Jahren unter ihrem Klarnamen Margarethe Mark noch einmal neu anfangen und ZEIT-Autorin werden« wollte, wie Sabine Rückert im Nachruf schreibt. »Doch wir haben nur noch einen Zipfel von ihr erwischt. (…) Und wir sind sehr traurig über ihren Tod und über jeden Text, den sie nicht mehr für uns schreibt.«
9. Peter Unfried
Auf der Suche nach Adorno. In: die tageszeitung (sonntaz), 29. 6. 2013. S. 20–22.
Dieser Text hätte zwar eigentlich auch schon im Jahr 2010 kommen können, ja, müssen, aber: besser spät als nie. Es geht darum, dass nichts einfacher ist, als Richard David Precht schlecht zu finden und mit Häme zu überschütten. Peter Unfried, der rasende Chefreporter der »taz«, rast in Richard Davids Prechts Küche, um sich der eigentlichen Herausforderung zu stellen: nämlich Richard David Precht einmal, soweit das möglich ist, ganz neutral, objektiv und unvoreingenommen zu beschreiben; sich dem Phänomen Precht nicht mit Herablassung, sondern mit Aufgeschlossenheit, Empathie und Neugierde zu nähern! Unfried betrachtet die Ahnenreihe der deutschen Intellektuellen und ordnet sie auf eine sehr reizende Art gleich in eine größere historische Dimension ein: »Vielleicht ist es hilfreich, sich zu erinnern, was wir vor Adorno hatten. Wir hatten Hitler«. Und so halb in, halb zwischen den Zeilen steht die Analogie: Vielleicht ist es hilfreich, sich zu erinnern, was wir vor Precht hatten. Wir hatten Grass. Nebenbei erfährt man, dass Precht überraschenderweise über Robert Musil promoviert hat, und wenn man das nachrecherchiert, stellt sich heraus, dass Prechts Dissertationsschrift tatsächlich den schönen Titel trägt: »Die gleitende Logik der Seele«. Unfried erinnert daran, dass, wer Precht gegen Adorno aufrechnen will, eines übersieht: »Adorno war auch ein Medienstar«. Während Precht redet und Unfried Notizen macht, kommt es zu einem kleinen Adjektivdisput: »›Das ist bierernst, was ich jetzt hier schreibe, das soll auch bierernst genommen werden.‹ – Er schaut auf. – ›Jetzt schreiben Sie bitte nicht ›bierernst‹ auf.‹ – ›Jetzt wollte ich gerade ›bierernst‹ aufschreiben.‹ – ›Schreiben Sie ernst. Bitte nicht ›bierernst‹.‹« Wären alle Porträts so wie dieses, man müsste sich um den Journalismus keine Sorgen mehr machen. Aber das tun wir ja ohnehin nicht.
10. Joachim Lottmann
Klaus Maria Brandauer. Der Schauspieler trinkt Schnaps und tanzt um den Computer herum. (Webtitel: Klaus Maria Brandauer und der ganz große Hunger.) In: Die Welt, 18. 5. 2013. S. 27.
Lange und erbittert hat das Consortium darüber diskutiert, ob es überhaupt angebracht ist, Joachim Lottmann einen Goldenen Maulwurf zu verleihen. Eine starke Gegenpartei bildete sich, die das gewichtige Argument vorbrachte: Das wäre ungefähr so, als ob man Gott einen Ehrenpreis für sein Lebenswerk zuerkennen wollte; doch für Gott, und damit auch für Lottmann, müsse jeder Preis, und sei er nach irdischem Ermessen auch noch so bedeutsam, zwangsläufig eine Herabsetzung und Erniedrigung darstellen. Durchgesetzt hat sich dann aber die Pro-Fraktion mit dem noch schwerer zu widerlegenden Argument: Ein anderes Mittel haben wir ja nun mal nicht, und deswegen geht Lottmann diesmal eben nicht schon wieder leer aus. Für die Rubrik »Tischgespräch« also hat sich der aus besten Gründen von Berlin nach Wien übersiedelte Lottmann mit Klaus Maria Brandauer himself getroffen, und zwar ausnahmsweise mal nicht in einem Restaurant, sondern bei Brandauer zu Hause, oben im sechsten Stock. »Schon der Beginn wird eiskalt inszeniert: der Aufzug sei leider defekt, kichert er fast diabolisch durch die Gegensprechanlage.« Lottmann hat entsetzlichen Hunger, aber erst einmal wird Vogelbeerschnaps kredenzt. Die Rede kommt u. a. auf Ben Becker (»unbestritten der schlechteste Mime aller Zeiten«), und auch über die Showtime-Serie »Homeland« wird alles Nötige gesagt (»Schrott«). Nach wie vor gibt es keinen Nachtisch, geschweige denn ein Hauptgericht oder überhaupt nur eine Vorspeise, einfach nur Vogelbeerschnaps (und einen Kaffee, okay). Und doch nimmt das »Tischgespräch«, wie im richtigen Märchen, ein glückliches Ende: KMB will den Text vorab lesen und ist zu Recht so begeistert, dass er sich selbst und Lottmann und beider Frauen gleich am nächsten Tag in ein Fünf-Sterne-Restaurant einlädt. All das ist sicher wieder »based on a true story«, eigentlich wird hier natürlich aus purer Lottmannhaftigkeit heraus einfach nur das Genre des Tischgesprächs unterwandert, aber Lottmannwahrheiten gehören ja zu den schönsten Wahrheiten. Das Ende der Geschichte wurde in der Print-Ausgabe übrigens ausgelassen, deshalb sollte man in diesem Fall unbedingt die Online-Version des Artikels lesen, denn nur dort wird auch über Ben Becker geredet.
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[ veröffentlicht am 14. 1. 2014 ]