100-Seiten-Bücher – Teil 232
Christa Kożik: »Moritz in der Litfaßsäule« (1980)
Lindau-Insel, 29. August 2022, 18:50 | von Josik
In Christa Kożiks Kinderbuch »Moritz in der Litfaßsäule« heißt es über Moritz‘ drei Schwestern Suse, Salome und Sina: »Für irgendwas schwärmten sie immer, mal für Frank Schöbel, mal für einen Hosenanzug, mal für ein Häkelmuster« (S. 19). Nun wissen viele Kinder heutzutage vielleicht gar nicht mehr, dass Frank Schöbel keine erfundene Figur ist, sondern dass es sich bei Frank Schöbel, einem bedeutenden Schlagersänger, dem die meistverkaufte Platte der DDR zu verdanken ist, um eine Person der Zeitgeschichte handelt. Davon kann man sich u. a. in Frank Schöbels Autobiografie »Frank und frei« überzeugen, die 1998 im Verlag Das Neue Berlin erschienen ist (die nachfolgenden Seitenangaben beziehen sich auf diese Buchausgabe).
Man wird in diese Autobiografie sofort hineingezogen, weil Frank Schöbel uns alle duzt. Und da er so gut wie nichts weggeschmissen hat, sondern seine sämtlichen persönlichen Dokumente, Fotos und Terminkalender sowie sämtliche Kritiken seiner Konzerte fein säuberlich aufgehoben und abgeheftet hat, kann er seine Lebensgeschichte praktisch lückenlos dokumentieren. Einen Teil seiner Kindheit verbrachte Schöbel in Leipzig in der Tschaikowskistraße 23. Zur selben Zeit wohnte in diesem Haus auch der berühmte Literaturkritiker und Germanistikprofessor Hans Mayer, dem Schöbel einige Streiche spielte, »die von der Stinkbombenherstellung aus altem Film-Zelluloid bis zu dem Trick reichten, gefüllte Tonnen mit Küchenabfällen schräg an die Wohnungstür des Opfers zu lehnen und dann den Klingelknopf zu drücken« (S. 11).
Dass Schöbel Schlagerlieder nicht nur gesungen, sondern auch selber getextet hat, dürfte nicht zuletzt auf seine Lektüre des Autors Johannes R. Becher zurückzuführen sein, den er gleich eingangs zitiert. Der persönliche Zugang zu einem anderen Autor wird ihm später allerdings verwehrt: Er geht zu DDR-Offiziellen, Abteilung Kultur, um ihnen ein paar Anliegen vorzutragen, »[u]nd schließlich fragte ich noch so ganz naiv, schwejkhaft, ob sie mir ein Gespräch mit Stefan Heym ausmachen könnten. Der Mann interessierte mich kolossal. ›Würde ich Ihnen von abraten‹, meinte man leicht süffisant« (S. 399).
Klavier spielen lernt Schöbel bei Frau Jutta Grimm, zweite Pianistin an der Thomas-Kirche in Leipzig: »Dabei war Bach für sie alles, und Mozart kam ihr schon wie Jazz vor« (S. 40). Von Jazz zu Rock ist es ein kurzer Weg, daher gehört zu den ersten pfiffigen Liedern, die Schöbel schreibt, »Wipp-Wapp-Rock«, aber »[w]eil Anglizismen wie das Wort Rock nicht erlaubt waren, meinte ich den Rock mit dem Petticoat drunter, und schon ging’s« (S. 58). Seinen größten Hit überhaupt landet Schöbel später mit dem Lied »Wie ein Stern«. Bei der Eröffnung der Fußball-Weltmeisterschaft 1974 singt er vor Hunderten Millionen Fernsehzuschauerinnen und -zuschauern. Aber noch stolzer als auf diese Episode ist Schöbel auf seine mit großer Sorgfalt vorbereitete, hervorragende Platte »Komm, wir malen eine Sonne«, die erste Kinderpop-LP der DDR mit dem zeitlos gute Laune machenden Titelsong.
Frank Schöbels Karriere ist wahrhaft atemberaubend. Schon zu DDR-Zeiten trat er nicht nur in der DDR, in der Sowjetunion und in Kuba auf, sondern auch in vergleichbaren Ländern wie z. B. Irak, Libanon, Japan und Norwegen. Seine Autobiografie liest sich wie ein Who’s Who der Showbusinessbranche, er kennt oder kannte sie wirklich alle persönlich: Nina Hagen, Eva-Maria Hagen, Udo Jürgens, Abi Ofarim, Paul Dessau, Harald Juhnke, Karat, die Puhdys, Arndt Bause, Dieter Thomas Heck, Achim Menzel, Roger Willemsen, Helga Hahnemann, Silly, Thomas Gottschalk, Dagmar Frederic, Otto Waalkes, Caterina Valente, Peter Ensikat, Egon Krenz, Wolfgang Lippert, Armin Mueller-Stahl, Gerhard Schöne, Leonid Breschnew, Drafi Deutscher jr., unzählige andere sowie Frank Elstner (S. 321: »Wir hatten sofort einen Draht, unter anderem auch deswegen, weil ich in Köpenick wohnte und da seine Tante auf’m Friedhof begraben liegt«). Auf ein Personenverzeichnis am Ende des 700 Seiten langen Buches hat der Verlag sicherlich deswegen verzichtet, weil das Buch sonst wohl nochmal 700 Seiten länger geworden wäre.
Als Frank Schöbel und seine erste Frau, die Schlagersängerin Chris Doerk, sich scheiden lassen wollen, überlegen sie, wie sie das ihren Fans beibringen sollen, ohne dass für diese eine Welt zusammenbricht (was dann natürlich trotzdem passiert): »Ich dachte immerzu, wie würden die Leute reagieren, wenn die Scheidung publik wird. In Briefen standen Sätze wie: ›Die Beatles sind tot, die Stones sind krank, es leben die Fans von Chris und Frank‹« (S. 227). Und so sehr es den Fans selbstverständlich gegönnt sei, dass sie leben, so merkwürdig mutet dieser Zweizeiler aber doch an, da nicht recht ersichtlich ist, warum die Fans eben sich selbst und nicht Chris und Frank dafür feiern, dass sie leben.
Zum Glück hat Schöbel immer einen lockeren Spruch auf den Lippen. Wenn er gefragt wird, wer an der Scheidung nun schuld sei, kommt die Antwort: »Na, schuld war nur der Bossanova. Das sagte ich immer, wenn es um politische Dinge ging, das mußte auch privat gehen« (S. 241). Kleine Gags, Epigramme und Aperçus verstreut Schöbel ohnehin großflächig über das ganze Buch: »Du kennst den Spruch ›Paris sehen und sterben‹ – ersteres machte ich ausgiebig« (S. 353). Die Gabe, solche Jokes zu machen, scheint in seiner Verwandtschaft verbreitet zu sein, jedenfalls wünschte sich Schöbels Onkel Theo, der von Beruf Schornsteinfeger war, für seinen Grabstein die Aufschrift: »Er kehrt nie wieder« (S. 37). Und den lieben Gott nennt Frank Schöbel nicht »Gott«, sondern »Chef«.
Zugegebenermaßen hatte Schöbel nicht nur Fans, sondern auch Neider. Er berichtet von einem Nachbarn, der eines Abends mit einer Axt vor Schöbels Wohnungstür aufgewartet habe: »Er fuchtelte mit der Axt rum […], aber er hat sie nicht geworfen, rief nur: ›Schöbel […], [w]eißte, was du bist? Du bist ein Westberliner.‹ Das war für ihn wahrscheinlich das allerschlimmste Schimpfwort« (S. 152). Schöbel sieht ganz nüchtern die Vorzüge der DDR ebenso wie ihre Nachteile. Als er einmal eine Trommel braucht, fährt er nach Weißenfels, meldet sich bei einem Werkdirektor und sagt ihm: »›Ich brauch ’ne große Trommel, die so richtig beschissen klingt.‹ Sichtlich erleichtert sprudelte es aus ihm heraus: ›Frank, ham wa. Kein Problem‹« (S. 384). Den Unterschied zwischen dem Osten und dem Westen macht Schöbel ganz konkret deutlich, wenn er beschreibt, dass es für seine Einkünfte aus den Plattenverkäufen ein oberes Limit gab: »nämlich 500 Mark, minus 20 Prozent Steuern, also 400 Mark auf die Hand. Egal ob die Platte millionenmal verkauft wurde oder nur einmal. Das war natürlich nicht vorstellbar für Menschen, die aus einer Welt kamen, wo von früh bis spät Monopoly gespielt wird« (S. 191).
Schöbel ist absolut nicht unpolitisch. Die Stagnation in der DDR der späten 1970er- und 1980er-Jahre, die sinnlosen unendlichen Komiteesitzungen missfallen ihm zunehmend. Er macht sich lustig über den offiziellen Jargon, wie er etwa in einem Referat zum Ausdruck kam, das nach dem VIII. Parteitag im Komitee für Unterhaltungskunst gehalten wurde: »Um der Differenziertheit der Ansprüche und der Vielfalt der Funktionen, die Tanzmusik im Rahmen der Freizeittätigkeiten der Werktätigen erfüllt, gerecht werden zu können, benötigen wir das Stimmungs- oder Tanzlied wie den Schlager oder den Beattitel, der Alltägliches erlebbar macht, der Partei ergreift in den Klassenauseinandersetzungen unserer Zeit« (S. 297). Schöbel kommentiert: »Ich stellte mir einen Sänger vor, der singt: ›Bis zum Horizont ist alles blond‹, oder ein anderer etwa ›Alles im Eimer, Christina Marie‹, wie die Partei ergreifen in den Massenauseinandersetzungen unserer Zeit« (S. 297). Als eine Zeitung ihre Leserinnen und Leser auffordert, die Frage zu beantworten, was sie vom Schlagertext und von der Schlagermusik fordern und inwiefern ihr Lebensgefühl in einer qualitätsvollen Schlagermusik, die der sozialistischen Lebensweise würdig ist, zum Ausdruck komme, ereifert sich Schöbel: »Plötzlich war Demokratie angesagt. Jeder durfte zum Schlager seine Meinung sagen; kein Mensch ging zum Bäcker und zettelte eine Diskussion an, kleine Brötchen, große Brötchen, mehr Mehl, weniger Mehl, sozialistische Brötchen oder … beim Schlager aber konnte endlich jeder mitreden« (S. 174).
1989 schließlich, vor dem Mauerfall, singt Schöbel ein Lied mit dem anspielungsreichen Titel: »Wir brauchen keine Lügen mehr«. Einmal wird es im Radio direkt nach einer Ansprache von Margot Honecker gespielt: »Das gab Ärger« (S. 538). Großen Ärger gibt es später dann auch mit der »Bild«-Zeitung. Einmal soll Schöbel für sie an die 60 Fragen beantworten. »Eine hieß: Wen würden Sie als Bundeskanzler wählen? Ich ironisch: ›Meinen Nachbarn Siegfried Lehmann.‹ Ich habe gar keinen Nachbarn, der so heißt« (S. 638).
Hiermit möchte ich meine kleine Rezension von Christa Kożiks Buch »Moritz in der Litfaßsäule« gerne beenden.