Archiv des Themenkreises ›100 Seiten‹


Die großen Fritz-J.-Raddatz-Festwochen (Tag 27):
»Tucholsky. Eine biografische Momentaufnahme« (2010)

Basel, 27. Dezember 2013, 08:25 | von Baumanski

(= 100-Seiten-Bücher – Teil 103)

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(Vorwort zur Festwoche hier. Inhaltsübersicht hier.)

Von Raddatz’ Rechenkünsten war an dieser Stelle ja unlängst schon die Rede. Die Lektüre seines vierten und bis dato letzten Tucholsky-Hundertseiters – es geht hier vor allem um Tucholskys Beziehung zu seiner zweiten Frau Mary Gerold – bietet neuerlichen Anlass zum Lob der »Genau«-igkeit. Auf Seite 81 zitiert Raddatz nämlich ein paar Sätze aus Marys Tagebuch und notiert dazu: »Das stammt aus dem November 1920. Doch schon genau ein Jahr später, im August 1921, muß sie sich eingestehen: (…)«.

Kurz vor Ende des Buchs verlassen wir dann Tucholskys kindisches Liebesleben (FJR, S. 120: »Phallokratie«) für einen 25-seitigen Exkurs über seine Fehde mit dem nicht minder kindischen Karl Kraus, was natürlich dem Unterhaltungswert der Lektüre zuträglich ist. Für den »Great Hater« Kraus war Tucholsky eine »fünfdeutige Gestalt« und, viel schlimmer, »der Herr Tucholsky«, und er meinte dann auch: »Mit Pantern, Tigern und selbst zahmeren Haustieren werde ich bestimmt noch fertig.« Als Leser fragt man sich bei Betrachtung dieser Fiesheiten unweigerlich, was Karl Kraus wohl über Fritz J. Raddatz geschrieben hätte, aber hier spielt natürlich einmal mehr die, hehe, Gnade der späten Geburt.

Länge des Buches: > 150.000 Zeichen. – Ausgaben:

Fritz J. Raddatz: Kurt Tucholsky. Eine biografische Momentaufnahme. Freiburg/Br.; Basel; Wien: Herder 2010. S. 3–144 (= 142 Textseiten).

(Einführung ins 100-Seiten-Projekt hier. Übersicht über alle Bände hier.)


Die großen Fritz-J.-Raddatz-Festwochen (Tag 23):
»Nizza – mon amour« (2010)

Berlin, 23. Dezember 2013, 08:10 | von Göttke

(= 100-Seiten-Bücher – Teil 102)

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(Vorwort zur Festwoche hier. Inhaltsübersicht hier.)

Als ich gestern Abend bei IKEA an der Kasse stand, rannte ein etwa zehnjähriges Mädchen mit französischem Zopf spontan und schnell auf ihren kleineren Bruder zu. »Ich schneck‘ dich jetzt ab!«, rief sie dabei zwei Mal. Während der kleine Junge durch die Luft flog, zauberte mir das »schneck‘ dich jetzt ab« ein Lächeln auf mein genervtes Kassen-Ansteh-Gesicht. Denn, das bringen die Fritz-J.-Raddatz-Festwochen nun einmal mit sich, mir fiel das Radiointerview zwischen Denis Scheck und Fritz J. Raddatz ein, gesendet am 30. August 2011 um 16:10 Uhr im Deutschlandfunk.

Befragt nach seiner schrecklichen Kindheit, antwortete Fritz J. Raddatz da, dass er sich »in fremde, andere Welten, in Gebäude, in Seele und Geist hineinschnecken« könne. »Wie ein Wurm sich in den Apfel hinein bohrt.« Leider weist Denis Scheck sogleich harsch und unterbrecherisch auf Raddatz‘ stellvertretende Verlagsleitertätigkeit mit Anfang 20 hin und lässt ihn das Bild vom »Sich-Hinein-Schnecken« und »Sich-Hinein-Bohren« nicht superlativisch zu Ende ausführen.

Nun gut. Auf nach Nizza. Ab in Raddatz‘ Winter-Cocoon, ins Schmetterlingsmuseum (S. 15), ins Chagall-Museum (S. 17), ins Hotel »Negresco« (S. 21). »Dabei bietet Nizza dem mußevollen Flaneur so unendlich viel Schönes, jene ›Verzückungsspitze der Welt‹«. (S. 26) »Schließlich ist die Stadt ihr eigenes Freilichtmuseum, öffnet dem Bummelnden immer neue Perspektiven.« (S. 89)

Nizza ist so ganz anders als IKEA. Und während ich mich nun in mein aufgewärmtes Essen von gestern wühle, denke ich, wie viel ugandische Schule sich wohl aus diesem schwedischen Hackklöpschen ergäbe, wenn an Raddatz‘ nizzardischer Rechenfrage: »1 Auster weniger = 4 Wochen Schule für ein Kind in Uganda« (S. 59) etwas dran wäre.

Länge des Buches: > 100.000 Zeichen. – Ausgaben:

Fritz J. Raddatz: Nizza – mon amour. Zürich; Hamburg: Arche 2010. S. 3–118 (= 116 Textseiten).

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Die großen Fritz-J.-Raddatz-Festwochen (Tag 22):
»Mein Sylt« (2006)

Berlin, 22. Dezember 2013, 08:20 | von Papageno

(= 100-Seiten-Bücher – Teil 101)

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(Vorwort zur Festwoche hier. Inhaltsübersicht hier.)

Was für ein hammermäßiger Beginn, FJR fällt wieder mal mit der Tür ins Haus: »Dinieren Möwen? Küssen Quallen? Wispern Igel?« (S. 5) Ganz klar, wer so fragt, ist ein Verfallener, einer, der vom Wunder seiner Insel geradewegs in die Metaphernhölle fährt, weg vom »Heizdecken­paradies des Billigtourismus« (S. 125) – Sylt, das ist ihm ein »schwar­zes Paillettenkleid« (S. 11), Sylt, das ist ihm »ein Juwel in schim­merndem Blütensamt« (S. 11f.).

FJR nimmt sie alle mit und »innerlich gewaschen« (S. 37) kehren sie wieder: Thomas Mann, Hubert Fichte, Kurt Tucholsky, Pastor Traugott, Alexander Mitscherlich, Alfred Kantorowicz, Peter Suhrkamp, Barkeeper Karlchen, Carl Zuckmayer und die »Kreissparkassendirektoren mit zu grünen Jacken, zu blonden Zweitfrauen« (S. 24), ganz zu schweigen vom »wendischen Wettergott« (S. 107). Das Meer zieht ihnen allen »den Schmutz aus der Seele« (S. 37). »Das Meer erzählt seine Märchen« (S. 9), FJR erzählt seine Anekdoten. Unter anderem erfährt man, dass die Gemeindevertretung von Kampen Hermann Göring im Jahre 2005 die Ehrenbürgerschaft aberkannt hat (vgl. S. 63). FJR ist in »Mein Sylt« keineswegs »nur der leicht hinkende weißhaarige Alte, der in verbeulten Cordhosen in Kampen durchs Dorf schlurft« (S. 19, S. 23); er ist ein Sylt-Prediger, der »in lauter kleinen Devotionalienbildern« (S. 37) huldigt.

In FJRs Sylt-Spaziergängen kommt man vorbei am Keitumer Friedhof, an »hellgelbgrünen Weidenkätzchen« (S. 10) oder an »Uta und Armin Findeisens Ziegenkäserei« (S. 139). Der Himmel – der dem »Perlmutt einer umgestülpten Riesenmuschel« gleicht – ist ganz groß, und man denkt: Sylt ist eigentlich doch ganz okay.

Länge des Buches: > 100.000 Zeichen. – Ausgaben:

Fritz J. Raddatz: Mein Sylt. Mit Fotografien von Karin Székessy. Hamburg: Marebuchverlag 2006. S. 3–156 (= 154 Textseiten).

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Die großen Fritz-J.-Raddatz-Festwochen (Tag 21):
»Günter Grass. Unerbittliche Freunde« (2002)

Hamburg, 21. Dezember 2013, 08:15 | von Maltus

(= 100-Seiten-Bücher – Teil 100)

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(Vorwort zur Festwoche hier. Inhaltsübersicht hier.)

Wieder einmal habe ich es nicht geschafft, frühmorgens das Hambur­ger Holthusenbad zu besuchen, um dort im Außenbecken Fritz J. Rad­datz seine Kreise ziehen zu sehen. Klar, in einem Bad soll man Linien ziehen, sonst fängt man sich von deutschen Bademeisterinnen und ‑meistern, die darin viel mit deutschen Literaturkritikern und ‑kritikerinnen gemein haben, schnell einen Rüffel ein.

Im Vergleich jedenfalls zu den ganzen Leichtmatrosen im Außenbecken des Literaturbetriebs entspricht der Jahrhundertfeuilletonist FJR mit seinem mächtigen Bart einem Walfisch, der die See nach Krill durchsiebt und nur ab und zu noch einmal an die Wasseroberfläche steigt, um dort die gelangweilten Passagiere von Kreuzfahrtschiffen mit seinen lustigen Sprüngen zu erheitern.

Womit wir beim einzigen Thema wären, das Raddatz und Günter Grass noch verbindet: Beide sind jahrzehntelange Bartträger. Das war’s dann aber auch schon. Sie waren mal »unerbittliche Freunde«, so der schöne Untertitel, den Raddatz für seine schmale Sammlung von Texten zu Grass gefunden hat. Eine lebenslange literarische Liebe und doch, wie soll es im Literaturbetrieb anders sein, immer von Verletzlichkeiten hier, Eitelkeiten da gebrochen.

Am Ende des 2002 bei Arche erschienenen Bändchens scheint noch Hoffnung, da druckt Raddatz zwei Briefe ab: Im ersten beschwert er sich bei Grass, der ihn aus dem Hinterhalt in einem Interview als »rechtsgebeugt« (S. 137) bezeichnet habe. Raddatz tief verletzt. Grass antwortet, sich keiner Schuld bewusst. Schuld sei der Journalist. Nie käme er auf die Idee, den lieben Fritz unter dem Sammelbegriff ›rechtsgebeugt‹ in die Gesellschaft von Botho Strauß zu bringen. »Und doch bleibt am Ende ein Rest, für den ich mich nicht entschuldigen und den ich nicht erklären kann« (S. 141).

Es waren Raddatz‘ später erschienene Tagebücher, diese champagnertrunkenen Sudelbücher aus dem Literaturbetrieb, die Grass endgültig vergrätzten. Als ich ihn vor einigen Monaten interviewte, sprach er bereitwillig über alles. Nur Raddatz war ihm am Ende keine Silbe wert, der musste rausgestrichen werden.

Länge des Buches: > 150.000 Zeichen. – Ausgaben:

Fritz J. Raddatz: Günter Grass. Unerbittliche Freunde. Ein Kritiker. Ein Autor. Zürich; Hamburg: Arche 2002. S. 3–143 (= 141 Textseiten).

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Die großen Fritz-J.-Raddatz-Festwochen (Tag 20):
»Ich habe dich anders gedacht« (2001)

Berlin, 20. Dezember 2013, 08:05 | von Göttke

(= 100-Seiten-Bücher – Teil 99)

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(Vorwort zur Festwoche hier. Inhaltsübersicht hier.)

Ich bin auf dem Weg ins LWL-Museum für Naturkunde in Münster, als ich Fritz J. Raddatz‘ »Ich habe dich anders gedacht« auslese. Am Stadtrand von Münster angelangt, betrete ich die Sonderausstellung »Sex und Evolution«, die es ebenso in sich hat wie Raddatz‘ Erzählung. Ich sehe sich paarende Igel, einen Enten-Gangbang mit wahrscheinlich tödlichem Ausgang fürs Weibchen und einen halbseiten-hermaphroditischen Falter, der, genau in der Mitte geteilt, auf der einen Seite männlich und der anderen Seite weiblich ist. Den stärksten Eindruck auf mich machen jedoch die Delfine. Viele Minuten lang starre ich auf das männliche Delfinpärchen mit Genital und Blasloch über mir an der Decke.

Mein ponyhofhafter Mädchentraum zerplatzt endgültig, als mich einer der beiden mit tiefer männlicher Stimme wie folgt anspricht:

Delfin: »Träumst Du?« (S. 21)
Ich: »Ich bin eine dumme Eule« (S. 21), »ich wußte ja nichts von diesem (…) Unsinn.« (S. 61)
Delfin: »Du bist jetzt kein Kind mehr, ich muß mit dir sprechen.« (S. 61) »Ich bewundere den glatten, unbehaarten, muskulösen Körper des kleinen Mannes, er verdrängt den gemütlichen Teddy Onkel Sami aus meiner Sehnsucht.« (S. 49)
Ich: »Schluß. Es ist genug. Ich habe dich anders gedacht.« (S. 60)
Delfin: »Erwachsenwerden ist nicht mehr Spiel. Und um zu beweisen, daß wir Freunde sind, trinke ich den Weinbrand und rauche die Zigarette.« (S. 86) Denn: »Fleiß, Kameradschaft, Verantwortungsfreude – das ist das Geheimnis« (S. 81).

Zurück im Zug habe ich noch lange den Geschmack von Weinbrand und Zigarette im Mund.

Länge des Buches: > 150.000 Zeichen. – Ausgaben:

Fritz J. Raddatz: Ich habe dich anders gedacht. Erzählung. Zürich; Hamburg: Arche 2001. S. 5–110 (= 106 Textseiten).

Fritz J. Raddatz: Ich habe dich anders gedacht. Erzählung. Berlin: List 2004.

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Die großen Fritz-J.-Raddatz-Festwochen (Tag 19):
»Süchtig nach Kunst« (1995)

Leipzig, 19. Dezember 2013, 08:25 | von Paco

(= 100-Seiten-Bücher – Teil 98)

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(Vorwort zur Festwoche hier. Inhaltsübersicht hier.)

Raddatz ist nicht nur Literaturkritiker, sondern hat sich auch als professioneller Künstlerbesucher einen Namen gemacht. Einen ganzen Packen Künstlerbesuchsprotokolle, zwischen 1982 und 1992 größtenteils im »ZEITmagazin« erschienen, hat er 1995 gebündelt und unter dem Titel »Süchtig nach Kunst« herausgegeben.

Der Untertitel des Buches geht so: »Bekenntnisse zur Figuration«. Denn Raddatz hält Malewitschs schwarzes Quadrat einfach nur für ein schwarzes Quadrat. Und so besucht er Künstler, die nicht nur schwarze Quadrate geschaffen haben, sondern auch Sachen, die man versteht. Er schaut bei Francis Bacon vorbei und beschreibt dessen Tierhaftigkeit, sein »Raubvogelgesicht« (S. 17), unterhält sich mit Breyten Breytenbach (»daß er auch Maler ist, wissen wenige«, S. 29) und besucht Paul Delvaux in dessen eigenem Museum in Sint-Idesbald, wo er etwas befangen ist und nicht weiß, wie er beginnen soll: »Sagt man zu Celan ›Ich schreibe auch Gedichte‹?« (S. 44)

Renato Guttuso steht auf Raddatz’ Besuchsliste, ebenso Rudolf Hausner und Alfred Hrdlicka, die Künstlerhelden der Generation Raddatz. Der »Vater der surrealistischen Malerei« Matta bezeichnet Picasso als »einen gewöhnlichen Mann, der gerne Nasen malt« (S. 92), was Raddatz gern notiert. Wenn er sonst Erkenntnisse anderer anpumpt, sind das meistens die des Kunsthistorikers Wieland Schmied.

Michael Schoenholtz wird noch besucht und Paul Wunderlich, den Raddatz fragt, ob es eigentlich noch ein Kunstwerk Wunderlichs sei, wenn es lediglich nach seinen, Wunderlichs, Vorgaben von einem Gießer gegossen oder einer Näherin genäht wird. Wie neulich bei der Diskussion um Kippenbergers nicht von ihm selbst gemaltes »Paris Bar«-Gemälde lautet die Antwort natürlich: ja.

Wer übrigens alle Ausgaben des »ZEITmagazins« sowieso vorliegen hat, für den gibt es in diesem Sammelband trotzdem noch was Neues zu entdecken, denn das Vorwort ist, wohl überraschenderweise, »bislang unveröffentlicht« (S. 127).

Länge des Buches: > 150.000 Zeichen. – Ausgaben:

Fritz J. Raddatz: Süchtig nach Kunst. Bekenntnisse zur Figuration. Begegnungen mit Francis Bacon, Breyten Breytenbach, Paul Delvaux, Renato Guttuso, Rudolf Hausner, Alfred Hrdlicka, Matta, Michael Schoenholtz, Paul Wunderlich. Regensburg: Lindinger und Schmid 1995. S. 3–128 (= 126 Textseiten).

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Die großen Fritz-J.-Raddatz-Festwochen (Tag 18):
»Tucholsky. Ein Pseudonym« (1989)

Berlin, 18. Dezember 2013, 08:15 | von Josik

(= 100-Seiten-Bücher – Teil 97)

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(Vorwort zur Festwoche hier. Inhaltsübersicht hier.)

Der erste Satz ein Paukenschlag: »Das Lottchen heißt nicht Lottchen, Malzen nicht Malzen, Nuuna nicht Nuuna und Kurt Tucholsky nicht Kurt Tucholsky« (S. 7). Hatte man diesen Sound nicht schon mal irgendwo gehört? Ach ja richtig, der Raddatz-Hundertseiter »Heine. Ein deutsches Märchen« (1977) begann genauso: »Die Mouche hieß nicht Mouche, Mathilde nicht Mathilde, und Heinrich Heine hieß nicht Heinrich Heine.« (S. 7)

In diesem Pseudonymbuch also lüftet Fritz J. Raddatz das Geheimnis, warum Kurt Tucholsky – with all due respect und unbeschadet seiner sonstigen überragenden Leistungen auf allen anderen Gebieten – immer derart unterirdische, ja nachgerade minderbemittelte Literaturkritiken verfasst hat:

»Von Bertolt Brecht bis James Joyce hat Tucholsky große literarische Begabungen ganz früh erkannt, auch Franz Kafka oder Gottfried Benn. Befreundet war er mit keinem einzigen, die meisten kannte er persönlich gar nicht. Er hat George Grosz bewundert, Walter Mehring bejubelt, Erich Kästner reserviert respektiert, John Heartfield verehrt und Heinrich Mann hoch geachtet – mit keinem von ihnen hat er Umgang gepflegt. Brecht hat er einmal gesehen. Benn ist er flüchtig begegnet, Heinrich Mann wenige Male, den – ungeliebten – Thomas Mann sprach er ebenfalls nur ein einziges Mal (…). Erich Maria Remarque oder Ludwig Renn, Erwin Piscator oder Max Reinhardt, Friedrich Hollaender oder Hanns Eisler: nichts.« (S. 32)

Fritz J. Raddatz hingegen ist mit tout le monde bekannt und eben das verleiht seinen Kritiken ihren unermesslichen Wert. Da hält er es nämlich ganz mit Karl Kraus, der bekanntlich sagte: »Ein Gedicht ist so lange gut, bis man weiß, von wem es ist.« (Fackel Nr. 406–412, S. 131) In diesem Sinn ist Fritz J. Raddatz auch ein würdiger Preisträger des Karl Kraus-Preises 1986; vermutlich der einzige Preis in seinem Leben, den er nicht angenommen hat.

Länge des Buches: > 150.000 Zeichen. – Ausgaben:

Fritz J. Raddatz: Tucholsky, ein Pseudonym. Essay. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 1989. S. 3–155 (= 153 Textseiten).

Fritz J. Raddatz: Tucholsky, ein Pseudonym. Essay. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 1993.

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Die großen Fritz-J.-Raddatz-Festwochen (Tag 17):
»Bilder einer Reise« (1989)

Leipzig, 17. Dezember 2013, 08:20 | von Marcuccio

(= 100-Seiten-Bücher – Teil 96)

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»Ené, Iné, Aini, Hänne?« Die wichtigste Frage dieses Hundertseiters kommt spät, aber sie kommt: »wie (…) spricht man Heine auf italienisch aus?« (S. 95). Gute Frage. Raddatz, gerade in Bagni di Lucca angekommen, will den Genius loci finden; nur doof, wenn ihn dabei keiner versteht, weil er Heine deutsch ausspricht. Und dann passiert eine echte Pioniertat auf dem Gebiet der Völkerverständigung: Jahre bevor der erste »Lonely Planet« mit Grazie-Ausspracheanweisung erscheint, lässt Lonely Raddatz deutsche Feuilletonleser wissen, wie man Italienern erfolgreich verständlich macht, dass man über Heine parliert: Es muss klingen wie »Imi« (S. 106), das einstige Waschmittel.

Als Imi-Vertreter in Italien macht Raddatz einen großartigen Job, um nicht zu sagen: er startet den feuilletonistischen Schleuderwaschgang. Wobei: Die »›Bedeutung des tollen Lärms‹« (S. 72), die Heine in der Scala empfand, erschließt sich Raddatz bei seinem Besuch nicht so ganz: Stockhausens »Montag aus Licht« scheint ihm eine typische Montagsoper zu sein, die nichts anderes als »Spiegel-Schnippischkeit« verdient habe: »›Wird es laut, klingt es nach Orff, weicht es auf, säuselt es wie ›Cats‹.‹« (S. 72f.)

Weiteres Pointenrumpeln auf S. 90, als Raddatz aus dem Heine-Rachestück des Grafen August von Platen zitiert: Heine sei ein »Laubhüttenpetrarca«. Kurz vor Schluss, das muss jetzt schon Kalauer-Endschleudern sein, teilt uns der Imi-Experte mit: »in restauro«, »non toccare« und »chiuso« – man könne diese »Namen von Italiens drei berühmtesten Künstlern (…) bald nicht mehr hören« (S. 120).

Länge des Buches: ca. 130.000 Zeichen. – Ausgaben:

Fritz J. Raddatz: Bilder einer Reise. Heinrich Heine in Italien. Mit Fotografien von Dirk Reinartz. München; Luzern: Bucher 1989. S. 3–127 (= 125 Textseiten).

Fritz J. Raddatz: Bilder einer Reise. Heinrich Heine in Italien. In: Unterwegs. Literarische Reiseessays. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 1991. S. 203–263 (= 61 Textseiten).

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Die großen Fritz-J.-Raddatz-Festwochen (Tag 16):
»Die Wirklichkeit der tropischen Mythen« (1988)

Barcelona, 16. Dezember 2013, 08:05 | von Dique

(= 100-Seiten-Bücher – Teil 95)

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Unsere Mütter, unsere Väter, noch im Krieg geboren oder kurz danach, hat Fritz J. Raddatz ihr ganzes Leben lang begleitet, er schwebt über ihnen und ihrem kulturellen Leben wie ein Schatten, aber ein weißer weicher, gleich einer Kumuluswolke.

Unsere Generation kennt Raddatz dagegen eher aus dem Kellinghusenbad in Hamburg, in dem er regelmäßig seine Runden im Außenpool dreht und sich danach aufregt, wenn mal jemand ohne Socken in seine Bootsschuhe schlüpft oder die Chinos direkt auf der Haut trägt, weil frische Boxershorts gerade nicht zur Hand sind. Unter Hamburger Intellektuellen ist es schon seit einiger Zeit Funsport, Raddatz morgens im Kellinghusenbad aufzulauern und dann vor seinen Augen im Umkleideraum Bekleidungsverbrechen zu begehen und sich danach über die entsetzten Blicke des wunderbaren Literaturkolosses und Ästhetikers zu amüsieren.

1988 machte sich Fritz J. Raddatz auf nach Kolumbien, mit der Lufthansa und in freudiger Erregung. Er begab sich auf die Spuren von García Márquez, der »Stimme Lateinamerikas«. Bei Márquez denkt man natürlich sofort an sein Jahrhundertwerk, »Hundert Jahre Einsamkeit«, das steht auch gleich auf dem Klappentext, schon damals eine Auflage von 10 Millionen Exemplaren, so viele Exemplare sind es heute mit Sicherheit allein in der Schweiz. Zu »Hundert Jahre Einsamkeit« heißt es, dass Borges gefragt haben soll, ob es hundert Tage nicht auch getan hätten. Eine Fragestellung, mit der Borges bei Kurzbuchfana­tikern und Leseökonomen wie uns natürlich offene Türen einrennt.

Raddatz fliegt also mit der Lufthansa nach Bogotá und liegt nicht faul am Strand, von der Sonne braungebrannt (in der kolumbianischen Hauptstadt gibt’s ja auch gar keinen Strand), sondern zirkelt von dort aus durch ganz Kolumbien, immer auf den Spuren von Márquez. Während der Reise kreisen seine Gedanken um dessen Schriften. Er versucht zu ergründen und zu begreifen, hier vor Ort, an der Wiege, und so spiegelt er durch das ganze Buch hindurch seine Erlebnisse gegen Originalzitate von Márquez. Dabei sind die Ereignisse, an denen Raddatz teilhat, nur selten magisch-realistisch, sondern zumeist banal-real und würden gut in den von Hans Magnus Enzensberger herausgegebenen Sammelband »Nie wieder! oder Die schlimmsten Reisen der Welt« passen:

»Hier tauchen leider auch Touristen auf. In Cartagena sind es unerklärlicherweise vor allem Kanadier, riesige, fahlhäutige Geschöpfe, Frauen von immensem Umfang, die sich gleich orientierungslos an Land gespülten Walen in Rudeln zwischen die tänzelnd-fragilen Kreolen, Mestizen und Neger verirrt haben. Sie werden gegen Mittag aus den ›Traumschiff‹ genannten schwimmenden Altersheimen gebaggert …« (S. 74)

Ein gutes Buch, ein schönes Buch, und wie bei so vielen Büchern dieser Reihe besticht auch dieses durch seine Länge, genau richtig dosiert, viel mehr würde ich davon nicht haben wollen.

Länge des Buches: ca. 159.000 Zeichen. – Ausgaben:

Fritz J. Raddatz: Die Wirklichkeit der tropischen Mythen. Auf den Spuren von Gabriel García Márquez in Kolumbien. Mit Zeichnungen von Hans-Georg Rauch. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 1988. S. 3–156 (= 154 Textseiten).

Fritz J. Raddatz: Die Wirklichkeit der tropischen Mythen. Auf den Spuren von Gabriel García Márquez in Kolumbien. In: Unterwegs. Literarische Reiseessays. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 1991. S. 129–202 (= 74 Textseiten).

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Die großen Fritz-J.-Raddatz-Festwochen (Tag 15):
»Lügner von Beruf« (1987)

New Haven, 15. Dezember 2013, 08:20 | von Srifo

(= 100-Seiten-Bücher – Teil 94)

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Keine der zwei Bibliotheken der Ostküste, die es in irgendeinem Außenmagazin haben, verlieh »Lügner von Beruf« und erst nach langem Warten kam dann ein tadelloses Exemplar aus der Regenstein Library in Chicago. Gerade um dieses Buch hatten sie sich hier nicht gerissen. Dass es einen zu dem Mann aus Robbe-Grillets »Jalousie« macht, der stets halb mit den Lamellen vor dem Fenster, halb mit dem Geschehen draußen konfrontiert wird, das wäre dem Pursuit of Happiness nicht zuträglich gewesen.

Im »Lügner von Beruf« gibt es Lamellen von langen Faulknerpassagen, verschränkt mit Raddatz’ eigenen Erlebnissen »auf den Spuren William Faulkners«. Und es ist ganz unklar, worauf man jetzt jaloux sein soll, ob auf die Faulknertexte, die man gern ganz gelesen hätte, oder auf die Raddatz-Reise, bei der man gern schon von Seite 7 an – »Der Mississippi beginnt am Pont-Neuf« – dabeigewesen wäre.

Es ist jedenfalls 1987, Baudrillard hat grade »Amérique« rausgebracht, Keanu Reeves steht kurz vor seinem breakthrough mit »Bill & Ted’s Excellent Adventure« (»History is about to be rewritten by two guys who can’t spell«) und so gonzojournalismiert Raddatz durch die Südstaaten. Vom Jardin du Luxembourg ist es nach New Orleans gegangen, weiter nach Oxford, MS, wo Faulkner liegt, davor gab es noch einen nördlichen Abstecher rüber nach Tennessee zu Presleys Graceland: »Hier wackeln gleichsam die Accessoires noch mit den Hüften, die rosa Rüschenhemden und samtenen Hös’chen und die goldene Badezimmerwaage mit Pelzbezug (viel zu klein für einen fetten Nascher).« (S. 116) Elvis ist nur dick, nicht verdrogt, die Postmoderne genießt ihr fear and loathing, vor Faulkners Grabstein angekommen nennt FJR den Nobelpreisträger einen »Hurenbock« (S. 120), was schon damals sicher so affirmativ gemeint war wie vor ein paar Tagen sein Meinungsbeitrag in der »Welt« (»Honey, are you going to the Puff tonight?«).

Länge des Buches: ca. 113.000 Zeichen. – Ausgaben:

Fritz J. Raddatz: Lügner von Beruf. Auf den Spuren William Faulkners. Mit Zeichnungen von Hans-Georg Rauch. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 1987. S. 3–122 (= 120 Textseiten).

Fritz J. Raddatz: Lügner von Beruf. Auf den Spuren William Faulkners. In: Unterwegs. Literarische Reiseessays. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 1991. S. 76–128 (= 53 Textseiten).

(Einführung ins 100-Seiten-Projekt hier. Übersicht über alle Bände hier.)