Archiv des Themenkreises ›100 Seiten‹


Die großen Fritz-J.-Raddatz-Festwochen (Tag 14):
»Eine dritte deutsche Literatur« (1987)

Paris, 14. Dezember 2013, 08:10 | von Niwoabyl

(= 100-Seiten-Bücher – Teil 93)

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(Vorwort zur Festwoche hier. Inhaltsübersicht hier.)

Nach »Kuhauge« ist ein weiterer Fritz-J.-Raddatz-Hundertseiter Teil einer Trilogie, ganz so als hätte er endlich auf Goethes Auslassungen gegenüber Eckermann antworten wollen, der ja bekanntlich über den Mangel an guten deutschen Trilogien klagte. Allerdings steht das Buch diesmal am Ende der Trilogie, wie der Titel schon hinreichend ankündigt, und wenn es um eine »dritte« deutsche Literatur geht, bildet sie nicht nur einen Zusatz – das schärfen uns hier alle Paratexte ein –, sondern sie soll den Gegensatz von ost- und westdeutscher Literatur wunderbar hegelmäßig aufheben. Von einer derart didaktischen Sicht merkt man im Buch selbst dann erfreulicherweise wenig.

Auf dem ziemlich schmucklos und spartanisch gehaltenen Rowohlt-Taschenbuch steht auch noch, hier seien »statt zierlicher Akzente heftige Thesen« zu erwarten. Aber mehr als die versprochene Heftigkeit, die sich mir nicht ganz erschlossen hat, gefiel mir, wie Raddatz seine kleine Sammlung kritischer Essays zu einer mosaikartigen Collage von Zitaten, Anspielungen und literatur- sowie zeitkritischen Analysen macht, die ganz ohne Unterteilungen, Kapitel oder gar Kapitelüberschriften auskommt. Hier wird Literatur- und Geistesgeschichte im Kempowskimodus praktiziert. Überall nur fließende Übergänge, von Robert Wilson zu Peter Stein, von Peter Stein zu Botho Strauß, von Botho Strauß zu Peter Handke, bis wir endlich über verschlungene Wege (Schütz, Schleef, Kunert, Kronauer, Christa Wolf, Manfred Frank) bei Martin Walser glücklich die Lektüre abschließen dürfen. Dass Raddatz in diesem Buch nicht vollständig auf Anführungszeichen verzichtet, ist in dieser Hinsicht fast zu bedauern.

Länge des Buches: ca. 251.000 Zeichen. – Ausgaben:

Fritz J. Raddatz: Eine dritte deutsche Literatur. Stichworte zu Texten der Gegenwart. (= Zur deutschen Literatur der Zeit. Band 3.) Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 1987. S. 3–125 (= 123 Textseiten).

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Die großen Fritz-J.-Raddatz-Festwochen (Tag 13):
»Pyrenäenreise im Herbst« (1985)

Berlin, 13. Dezember 2013, 08:10 | von Cetrois

(= 100-Seiten-Bücher – Teil 92)

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(Vorwort zur Festwoche hier. Inhaltsübersicht hier.)

Sehr pragmatisch findet man Fritz J. Raddatz’ »Pyrenäenreise im Herbst« im Regal der Kreuzberger Amerika-Gedenkbibliothek eingeordnet zwischen dem Vorbild von 1927, Kurt Tucholskys »Pyrenäenbuch«, und Jürgen Engels »Mit dem Wohnmobil durch die Pyrenäen«, das 2007 bereits in dritter Auflage erschienen ist. Engel verspricht im Klappentext »Burgen, Gletscher, Höhlen und Schluchten« und, etwas mysteriös, »genaue Hinweise auf Ver- und Entsorgungs­möglichkeiten«; Raddatz verspricht im Untertitel eine Reise »auf den Spuren Kurt Tucholskys«.

Indes muss er, um dieses Versprechen einzulösen, sich gleich zu Anfang ein wenig sputen, denn während Tucholsky schon zum Stierkampf in Bayonne weilt, beginnt Raddatz’ Roadtrip, spätsommer­lich elegisch, natürlich auf Sylt. Und während Tucholsky sich aus den Absurditäten des Pass- und Grenzregimes zu einer ätzenden Kritik des Nationalstaats als Ersatzreligion aufschwingt, ist Raddatz erst einmal froh, dass die »Säsong« vorbei ist, in der »die Düsseldorfer Gebrauchtwagenhändler Grillparties mit Sekkkt feiern« (S. 9).

Allein, vor den geschmacklichen Todsünden der nouveaux riches aller Epochen ist Raddatz auch im französisch-spanischen Baskenborder­land nicht gefeit. Was ihn dann immer wieder, und besonders bei der Besichtigung von Heinrichs IV. Château de Pau, schockiert: der frappante »Unterschied der ästhetischen Sensibilität« (S. 13) – zwischen seiner und der Tucholskys nämlich, dem es in Pau offenbar gar nicht schlecht gefiel. Vor allem aber plagt Raddatz »das eisern durchgehaltene Ritual« der Franzosen: »zwei Stunden Mittagessen« (S. 55) – eine Raddatz verhasste Mahlzeit, die in seinem eigenen, delikat ritualisierten Tagesablauf niemals vorkommt, ja, die er nach eigenem Bekunden (zuletzt im großen Stil-Interview in der FAZ) nicht einmal kennt.

Länge des Buches: ca. 142.000 Zeichen. – Ausgaben:

Fritz J. Raddatz: Pyrenäenreise im Herbst. Auf den Spuren Kurt Tucholskys. Mit Zeichnungen von Hans-Georg Rauch. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 1985. S. 3–122 (= 120 Textseiten).

Fritz J. Raddatz: Pyrenäenreise im Herbst. Auf den Spuren Kurt Tucholskys. In: Unterwegs. Literarische Reiseessays. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 1991. S. 7–75 (= 69 Textseiten).

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Die großen Fritz-J.-Raddatz-Festwochen (Tag 12):
»Kuhauge« (1984)

Jena, 12. Dezember 2013, 08:05 | von Montúfar

(= 100-Seiten-Bücher – Teil 91)

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»Kuhauge« ist der erste Teil der Trilogie »Eine Erziehung in Deutschland«. Und das Bildungsromaneske ist nur die eine Seite dieses furiosen Buches, die andere ist die erschütternde Darstellung einer verhinderten Jugend während und nach dem Zweiten Weltkrieg. Beides wird so genial miteinander verquickt, dass man meinen könnte, die Erzählung stamme von Johann Wolfgang Koeppen.

Kuhauge ist aber auch der Spitzname des Helden, der nur entfernt etwas mit seinem Verfasser zu tun hat, denn obwohl er 1931 in Berlin geboren wird usw., steht seine Mittelinitiale nicht für Joachim, sondern für »Jörn«: Bernd Jörn Walther. Dieser nun leidet zwar an »Nervosi­tätsschnupfen« (S. 13), meistert aber alle Widrigkeiten in seiner Familie und im Krieg. Als er wegen der zunehmenden Bombardierung Berlins zu Bekannten nach Görlitz muss, einem Oberst a. D. und dessen Gattin, fallen seine Lateinstudien trotzdem nicht aus.

Wenn nach dem Essen der Terrier namens Stalingrad die nackten Füße seines Herrchens begattet, brütet Bernd über der Passivform von »amare«, mit Erfolg: »Als Stalingrad erloschen war, nahm der Oberst a. D. Bauschan ein altes Küchenhandtuch, und Bernd fiel es ein: ›amatur‹.« (S. 41) So entdeckt der Junge am Ende der Erzählung seine Geistigkeit und seine Körperlichkeit und stürzt sich genussvoll in beide. Die letzte Szene wird nicht verraten. Aber der erste Satz ist so wunderschön, dass er hier zitiert werden muss: »›Das Suppenhuhn hat Trompetengold geklaut, das Suppenhuhn hat Trompetengold geklaut‹ – Koboldbösartigkeit überglitzerte die Kinderstimme des zehnjährigen Bernd.« (S. 7)

Länge des Buches: ca. 187.000 Zeichen. – Ausgaben:

Fritz J. Raddatz: Kuhauge. Erzählung. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 1984. S. 5–123 (= 119 Textseiten).

Fritz J. Raddatz: Kuhauge. Erzählung. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 1989.

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Die großen Fritz-J.-Raddatz-Festwochen (Tag 11):
»Warum« (1982)

Berlin, 11. Dezember 2013, 08:00 | von Josik

(= 100-Seiten-Bücher – Teil 90)

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(Vorwort zur Festwoche hier. Inhaltsübersicht hier.)

Diese Kolumne, die über ein Jahr lang in einer renommierten Hamburger Wochenzeitung erschien, begann immer mit dem W-Wort »Warum«; doch wollte Raddatz hier die dargebotenen Fragen nicht eigentlich beantworten, sondern nur stellen, in seinem ganz eigenen kulturkritisch-ironischen Stil, dessen Ironie er oft so ausnehmend gut verborgen hat, dass nur er selbst sie zu finden in der Lage ist: »Warum ergötzen Menschen sich so lustvoll am Unglück anderer?« (S. 32) »Warum drängeln Menschen sich vor, auch dort, wo es gar keinen Sinn gibt?« (S. 40) »Warum betrügen Menschen – sich oder andere?« (S. 44) »Warum lassen Menschen neuerdings Konventionen so leicht außer acht?« (S. 62) »Warum gehen Menschen auseinander, die ihren Weg gemeinsam gehen wollten?« (S. 64) »Warum scheuen Menschen sich, den eigenen Tod in ihr Leben mit einzudenken?« (S. 68) »Warum haben Menschen so weitgehend die Fähigkeit zur Anteilnahme verloren, zu Erbarmen – gar Barmherzigkeit?« (S. 116) »Warum scheuen Menschen Verantwortung?« (S. 122)

Hier schrieb der Girolamo Savonarola des 20. Jahrhunderts, ja mehr noch, hier schrieb der Peter Hahne des 20. Jahrhunderts; immer auf dem hohen stilistischen Niveau einer oberkonsistorialrätlichen Gewissenserforschung. Hans Magnus Enzensberger, so berichtet Fritz J. Raddatz im Nachklapp, habe diese Kolumne »eine der amüsantesten Rubriken der ZEIT« (S. 133f.) genannt, und Irenäus Eibl-Eibesfeldt habe »einen kleinen Widerlegungsessay« geschickt, »auf imposantem Briefbogen« (S. 134). Schade, dass dieser Widerlegungsessay nicht mit abgedruckt ist; man wüsste doch gerne, wie etwa die seit jeher unwiderlegbar richtige Beobachtung, dass Menschen neuerdings Konventionen so leicht außer acht lassen, widerlegt worden sein soll.

Länge des Buches: > 100.000 Zeichen. – Ausgaben:

Fritz J. Raddatz: Warum. Frage-Geschichten aus der ZEIT. Mit Zeichnungen von Hans-Georg Rauch. Hamburg: Hoffmann und Campe 1982. S. 5–136 (= 132 Textseiten).

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Die großen Fritz-J.-Raddatz-Festwochen (Tag 10):
»Das Tage-Buch« (1981)

Düsseldorf, 10. Dezember 2013, 08:10 | von Luisa

(= 100-Seiten-Bücher – Teil 89)

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(Vorwort zur Festwoche hier. Inhaltsübersicht hier.)

Neulich erzählte FJR in der LW, wie sehr er den Baron de Charlus bewundere, seines unfehlbaren Geschmacks wegen. Wem käme da nicht gleich das ebenso elegante wie unauffällige complet in den Sinn, in dem der Baron in Balbec vor die Leser tritt? Jedoch: »Ein dunkelgrüner Faden im Gewebe des Hosenstoffs war (…) auf das Streifenmuster der Strümpfe mit einem Raffinement abgestimmt, das deutlich eine sonst überall bezähmte Neigung verriet«. Eine eingewebte Enthüllung also, ein dezentes Fadenverrätertum, das Marcel natürlich sofort entdeckte.

Da der Sinn für solche Feinheiten inzwischen ausgestorben ist, konnte FJR bei seinem großen Fernsehauftritt mit Peter Voss bedenkenlos rote Socken tragen. Ob er damit etwas verriet, weiß ich nicht. Die dunkelgrünen, kaschierten Leinenfäden des 78-Seiters »Das Tage-Buch« signalisieren jedenfalls Seriosität, und die ist, im Gegensatz zu FJRs lärmend-losem 938-Seiter »Tagebücher«, tatsächlich die Grundlage dieser kleinen Schrift. »Das Tage-Buch« war eine 1920 gegründete Zeitschrift, deren Herausgeber und Autor Leopold Schwarzschild nach Paris und später in die USA fliehen musste. Schwarzschilds Artikel und Urteile waren klarsichtig, Thomas Mann und andere Schriftsteller publizierten dort, trotzdem ist die Zeitschrift längst nicht so berühmt geworden wie Ossietzkys »Weltbühne«. FJR erinnert an sie, zitiert und huldigt, und dafür soll er gepriesen sein auch dann noch, wenn Socken und Sottisen längst dahin sind.

Länge des Buches: > 100.000 Zeichen. – Ausgaben:

Fritz J. Raddatz: Das Tage-Buch. Porträt einer Zeitschrift. Königstein (Ts.): Athenäum 1981. S. 3–78 (= 76 Textseiten).

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Die großen Fritz-J.-Raddatz-Festwochen (Tag 9):
»Von Geist und Geld« (1980)

Berlin, 9. Dezember 2013, 08:10 | von Miroljub

(= 100-Seiten-Bücher – Teil 88)

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(Vorwort zur Festwoche hier. Inhaltsübersicht hier.)

Dieses Buch ist ein ökonomisches Wunder: Der Schriftgrad ist geschätzte 28 Punkt groß, selten passen auf eine Zeile mehr als drei Wörter, und das das Buch abschließende Heine-Zitat reicht von Seite 91 bis 99 – ein Lesevergnügen der riesenbuchstabigen Art! Die familiäre Schieflage zwischen dem armen, aber geistreichen Heinrich Heine und seinem Onkel, dem reichen, aber geistarmen Salomon Heine, dient Raddatz dazu, folgende raffiniert einfache Wahrheit zu äußern: Literatur sei immer »querbalkig« (S. 46). Damit ist für Fritz J. Raddatz das eigentliche, ja auch wirklich nicht mehr Beachtung verdienende Thema erschöpfend behandelt, denn im weiteren Verlauf – »und damit gleiten wir einen Augenblick aus der historischen Argumentation heraus« (S. 73) – spricht der Autor endlich über das Wesentliche, nämlich über sich selbst und die auch ihm widerfahrenen Kränkungen: Darüber, dass die Gesellschaft nicht begreift, dass der Autor vor allem geliebt werden will und dass Geld allenfalls ein Gradmesser dieser Liebe sein kann; darüber, dass selbst Karl Liebknecht sich einmal gegen die Behandlung geschlechtlicher Dinge in der Literatur ausgesprochen hat; und darüber, dass ein Autor »per definitionem ein einsamer, sich bespiegelnder, bezweifelnder, an dem Schopf der eigenen Hoffart sich aus dem Sumpf der Verzweiflung ziehender Mensch« (S. 58) sei. Welch ästhetische Finte von Raddatz, dass er Günter Grass den Text mit Zeichnungen von Schnecken und Füßen hat aufhübschen lassen. Ein mir teures Buch, das antiquarisch noch billig zu haben ist.

Länge des Buches: > 35.000 Zeichen. – Ausgaben:

Fritz J. Raddatz: Von Geist und Geld. Heinrich Heine und sein Onkel, der Bankier Salomon. Eine Skizze. Mit 6 Radierungen von Günter Grass. Köln: Bund-Verlag 1980. S. 3–99 (= 97 Textseiten).

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Die großen Fritz-J.-Raddatz-Festwochen (Tag 8):
»Heine. Ein deutsches Märchen« (1977)

Freiburg, 8. Dezember 2013, 08:15 | von Mynaral

(= 100-Seiten-Bücher – Teil 87)

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(Vorwort zur Festwoche hier. Inhaltsübersicht hier.)

Mal wieder so einen längeren Essay von Fritz J. Raddatz zu lesen ist spätestens seit der Abrechnung von Hellmuth »Was kostet der Fisch?« Karasek ein lohnenswertes Wagnis. Und wer sich, jetzt wo die Tage wieder trüber geworden sind, auch ab und zu fragt, welche Augenfarbe Heinrich Heine eigentlich hatte, der kommt an Raddatz einfach nicht vorbei. Heine sei »von strahlender Blauäugigkeit und mit stechend schwarzem Semitenblick« (S. 10) gewesen, wird da zusammenzitiert, und seine Todesursache ist ebenso unumstritten: an Syphilis sei er gestorben, wie jeder halbwegs große Stilist eben.

So geht es weiter, so werden hundert Seiten herrlich runtergelabert, wobei – in Zeiten von Online-Praktikanten-Zwischen-Überschriften – die komplette Nichtstrukturierung des Textes besonders angenehm auffällt. Am schönsten ist es natürlich, wenn die Zusammenhänge komplett reißen, Raddatz eine Seite über das großartige Leben des patriarchalisch-sozialistischen Barthélemy Prosper Enfantin referiert oder der Proust’sche Swann von ihm für die Beschreibung des Heine’schen Ehelebens in Beschlag genommen und gute fünfzehn Zeilen später – mit einem »und auch wieder nicht« (S. 30) – schon wieder verworfen wird.

Noch schöner, wenn wir mit ihm kurz vom Sturz Napoleons »in die ferne Gegenwart schweifen« (S. 17), wenn er dann noch die interessante Information unterbringt, dass »ja ein Condom üblicherweise gerade gewisse Gefahren zu verhindern« (S. 26) pflege, und sogar »noch im Archivexemplar einer Dissertation« – in welcher die Benachteiligung der Juden nach den Freiheitskriegen geschildert wird – findet, »wie sich ein Anonymus unserer Tage mit einem Bleistift-Fragezeichen verewigt« hat (S. 17). Usw.

Länge des Buches: > 150.000 Zeichen. – Ausgaben:

Fritz J. Raddatz: Heine. Ein deutsches Märchen. Essay. Hamburg: Hoffmann und Campe 1977.

Fritz J. Raddatz: Heine. Ein deutsches Märchen. Essay. Ungekürzte Ausgabe. Frankfurt/M.: Fischer-Taschenbuch-Verlag 1979. S. 3–135 (= 133 Textseiten).

Fritz J. Raddatz: Heine. Ein deutsches Märchen. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 1988.

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Die großen Fritz-J.-Raddatz-Festwochen (Tag 5):
»Georg Lukács« (1972)

New Haven, 5. Dezember 2013, 08:10 | von Srifo

(= 100-Seiten-Bücher – Teil 86)

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(Vorwort zur Festwoche hier. Inhaltsübersicht hier.)

Rauschhaft versetzt einen das Cover sofort in die 70er-Jahre zurück: der stumpenhaltende Lukács im bourgeoisen Tweedjacket, ganz in Ro-Ro-Rot gefärbt. Im Text selbst geht’s dann noch weiter zurück – alles zentrifugiert um und auf das im Thomas-Mann-Style verfasste Kapitel »Naphta im Exil« zu (S. 52ff.). Schon im Kick-off-Abschnitt »Budapest als geistige Lebensform« (S. 7ff.) surrt uns feinster Castorp um die Ohren. Raddatz beginnt seine Erzählung nicht etwa mit Lukács‘ Kinderjahren, sondern mit Lukács‘ Tod. An den Zeilenlängen der Nekrologe liest er die Wirkmächtigkeit des Verstorbenen wie auch glatte Weltpolitik ab (bitte Wort- und Ziffernwahl der Zahlenmystik beachten!):

»Die ›Prawda‹ brachte auf Seite 4 eine Fünf-Zeilen-Notiz, das ›Neue Deutschland‹ versteckte die Nachricht in elf Klein-Zeilen; ›Le Monde‹ dagegen druckte eine Seite, in ›L’Humanité‹ schrieb der französische Schriftsteller André Wurmser seine Würdigung auf Seite 1, alle deutschsprachigen Zeitungen des Westens widmeten dem Ereignis ganzseitige Artikel […]: des sechsundachtzigjährigen Georg Lukács‘ Tod am 4. Juni 1971 war nicht nur das Ende einer (theoretischen) Kunstperiode, sondern gab auch, auf verquere Weise, die Summe eines Lebens: Akklamation und Würdigung in der alten Welt, deren Ende er hatte mit herbeiführen wollen.« (S. 7)

Zu konstatieren, der Autor sei in »Höchstform«, ist nach dieser Lektüre des vierten von über zwei Dutzend Hundertseitern keinesfalls vorschnell: Angesichts der Erscheinung, die FJR darstellt, müssen wir schon jetzt erkennen, dass es offenkundig die Möglichkeit gibt, sich im permanenten stilistischen Superlativzustand zu befinden.

Länge des Buches: > 100.000 Zeichen. – Ausgaben:

Fritz J. Raddatz: Georg Lukács in Selbstzeugnissen und Bilddokumenten. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 1972. S. 3–126 (= 124 Textseiten).

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Die großen Fritz-J.-Raddatz-Festwochen (Tag 4):
»Erfolg oder Wirkung« (1972)

Berlin, 4. Dezember 2013, 08:05 | von Josik

(= 100-Seiten-Bücher – Teil 85)

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(Vorwort zur Festwoche hier. Inhaltsübersicht hier.)

Fritz J. Raddatz porträtiert in diesem Buch Kurt Tucholsky, Carl von Ossietzky, Erich Mühsam, Willi Münzenberg, Ernst Niekisch und Robert Havemann. Es sind meisterliche impressionistische Genrebilder, die er mit leichter Hand skizziert, absolute Pflichtlektüre für alle, vielleicht nur für den Erdkunde- oder Geschichtsunterricht nicht unbedingt. Aus Raddatz spricht die ungestillte Sehnsucht nach dem Süden, wenn er einen Kreis junger Naturalisten nach »Friedrichshafen am Müggelsee« (S. 55) verlegt; aus ihm spricht der klare Wunsch, dass Hitler schon viel früher hätte weggeräumt werden müssen, wenn er das berühmte Attentat auf den »20. Juli 1940« (S. 130) datiert; und dass eine zweibändige Erich-Mühsam-Auswahl, die 1958 in der DDR erschien, dort »nie wieder aufgelegt« (S. 53) worden sei, ist natürlich ebenfalls falsch.

Cool sind die lebenspraktischen Tipps: Indirekt empfiehlt Raddatz, in keine Autos zu steigen, in denen vom Rückspiegel eine Zottelhexe hängt. Allen Geheimdiensten gemeinsam nämlich sei eine »Atmosphäre von Blechkaffeekanne, Blümchen auf dem Fensterbrett und die Zottelhexe am Rückspiegel der Abholautos« (S. 129). Muffige Zottelhexen am Rückspiegel kann der Stilexperte Raddatz nicht gutheißen; und gerade in Stilfragen sollte man sich generell auf Raddatz’ Urteil verlassen, seit er im FAZ-Interview erklärte: »Ob Sie einer schwangeren Frau den Bauch aufschneiden oder sechs Millionen Juden vergasen – das hat alles mit Stil überhaupt nichts mehr zu tun« und darüber hinaus auch noch lehrte, dass man normalerweise die Unterwäsche jeden »zweiten« Tag wechselt.

Länge des Buches: > 100.000 Zeichen. – Ausgaben:

Fritz J. Raddatz: Erfolg oder Wirkung. Schicksale politischer Publizisten in Deutschland. München: Hanser 1972. S. 3–137 (= 135 Textseiten).

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Die großen Fritz-J.-Raddatz-Festwochen (Tag 3):
»Tucholsky« (1961)

Berlin, 3. Dezember 2013, 08:00 | von Josik

(= 100-Seiten-Bücher – Teil 84)

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(Vorwort zur Festwoche hier. Inhaltsübersicht hier.)

Dieses Kleinod ist die erste von mehreren Tucholsky-Betrachtungen aus Fritz J. Raddatz’ Feder. Der direkte Vergleich zeigt, dass Raddatz in späteren Tucholsky-Essays gravierendste Änderungen vorgenommen hat, betreffen sie nun Jahreszahlen, Monatszahlen, Tageszahlen oder einfach ganz natürliche Zahlen.

Heißt es in dieser Bildbiografie von 1961 noch: »Mord wurde die legitime politische Waffe, sie stand billig im Kurs: (…) am 8. Oktober 1919 Hugo Haase« (S. 60), so steht 1989 in »Tucholsky. Ein Pseudonym« plötzlich etwas völlig anderes: »Mord wurde die legitime politische Waffe: (…) am 7. November 1919 Hugo Haase« (S. 24).

Heißt es 1961 noch: »Am 23. Februar 1922 erschien der Artikel Die Reichswehr, dessen Klarsicht uns noch heute entsetzen kann (…). Schon sieben Jahre später, 1929, zog Hitler mit 106 Abgeordneten in den Reichstag« (S. 63), so heißt es 1989: »Am 23. Februar 1922 erscheint der Artikel ›Die Reichswehr‹, dessen Klarsicht uns noch heute entsetzen kann (…). Genau acht Jahre später – 1930 – zieht Hitler mit 107 Abgeordneten in den Reichstag« (S. 24). Am 23. Februar 1922 erschien Tucholskys Artikel und tatsächlich fanden die Reichstagswahlen genau acht Jahre später statt, am 14. September 1930. Auf Genauigkeit legt Raddatz nämlich besonderen Wert und 1922+8 ist, das wird jeder Mathematiker bestätigen, genau 1930.

Auffallende optische Verbesserungen hatte Raddatz bereits in dem 1972 erschienenen Band »Erfolg oder Wirkung« vorgenommen, dort war z. B. die Zahl 106 ausgeschrieben: »Mord wurde die legitime politische Waffe: (…) am 8. Oktober 1919 Hugo Haase (…). Am 23. Februar 1922 erschien der Artikel ›Die Reichswehr‹, dessen Klarsicht uns noch heute entsetzen kann (…). Sieben Jahre später – 1929 – zog Hitler mit hundertsechs Abgeordneten in den Reichstag« (S. 17f.) Seltsam, dass Raddatz dann wiederum im Jahr 1989 die Zahl 107 nicht ausgeschrieben hat. Hoffentlich bringt Klett-Cotta bald eine historisch-kritische buntscheckige mehrfarbige Synopse dieser höchst unterschiedlichen Tucholsky-Abhandlungen heraus, damit man ihre Genese kritisch nachverfolgen kann; was für Ernst Jüngers »In Stahlgewittern« recht ist, sollte für Raddatz doch billig sein.

Länge des Buches: > 100.000 Zeichen. – Ausgaben:

Fritz J. Raddatz: Tucholsky. Eine Bildbiographie. München: Kindler 1961. S. 3–141 (= 139 Textseiten).

(Einführung ins 100-Seiten-Projekt hier. Übersicht über alle Bände hier.)