Archiv des Themenkreises ›100 Seiten‹


100-Seiten-Bücher – Teil 82
Magnus Florin: »Der Garten« (1995)

Düsseldorf, 14. Oktober 2013, 19:47 | von Luisa

Ziemlich früh am Mittwochmorgen, während die Buchmesse gerade öffnete, begann ich die in den letzten Tagen gesammelten Buchmessebeilagen der Zeitungen zu lesen, ordentlich der Reihe nach, und bis zum Frühstück hatte ich schon elf Rezensionen geschafft. Nach Kaffee und Cronuts ging es weiter, Seite um Seite, Text um Text, Buch um Buch. Mittags war ich dann fertig, doch immer noch unruhig und hungrig. Einen kurzen, störrischen Text hätte ich mir jetzt gewünscht über ein kurzes, störrisches, aber nicht zu störrisches Buch, das mir auf seltsame Weise eine Gegend zeigte, die ich nicht kannte, bewohnt von Menschen, die mir ganz fremd waren. Von Plänen und Ereignissen sollte die Rede sein, die mich nicht interessierten und eine Zeit betrafen, die längst vorbei war und unerreichbar. Durch solch ein Buch wollte ich mich Satz für Satz hangeln, ganz gemächlich, und nach jedem Punkt eine Pause machen und durchatmen und wieder weiter lesen.

Kurze Sätze zum Beispiel: »Die Tage vergehen. Herbst. Der Geruch rostiger Nägel in der morgendlichen Kälte.«

Aber auch lange: »Es sind Gerüchte, die bis nach Tjocksta, Vallby, Sävja, Krisslinge, Edeby, Söderby und Ängeby in der Gemeinde Danmark im Bezirk Vaksala gedrungen sind, bis zu Höfen der Gemeinde Funbo im Bezirk Rasbo und bis nach Kasby und Marma in der Gemeinde Lagga im Bezirk Långhundra.«

Und mittellange: »Dunkles Licht, dumpfer Klang, viele Ahnungen, nichts geschieht offen, ein träges Warten, ein Gefühl von Drohungen und Versprechen, vermischt.«

Das würde mir wirklich gefallen.

Die Gegend ist Hammarby in Schweden, die Zeit ist das 18. Jahrhun­dert, die Personen sind Carl von Linné, sein Gärtner, seine Schüler, ein Kutscher, ein Knecht und noch andere. Geschrieben wurde das Buch 1995, ins Deutsche übersetzt 2012, verlegt 2013. Zwischen seinen kurzen Absätzen ist viel Raum.

Länge des Buches: > 115.000 Zeichen. – Ausgaben:

Magnus Florin: Der Garten. Aus dem Schwedischen übersetzt und mit einem Nachwort von Benedikt Grabinski. Berlin: Edition Rugerup 2013.

(Einführung ins 100-Seiten-Projekt hier. Übersicht über alle Bände hier.)


100-Seiten-Bücher – Teil 81
John Kenneth Galbraith: »Eine kurze Geschichte der Spekulation« (1990)

Barcelona, 9. Oktober 2013, 10:58 | von Dique

John Kenneth Galbraith ist ein Vielschreiber der ökonomischen Literatur, eine Art Johannes Mario Simmel seines Genres. »The Great Crash, 1929«, der ganz nüchterne Account der größten Krise aller Zeiten, ist natürlich sein größter Hit. Der große Crash spielt auch in (Originaltitel:) »A Short History of Financial Euphoria« eine Rolle, aber diese kurze Geschichte ist nicht der kleine Bruder des großen Klassikers desselben Autors, sondern so was wie der kleine Stiefenkel von »Extraordinary Popular Delusions and the Madness of Crowds« von Charles Mackay.

Charles Mackay veröffentlichte seinen Ziegelstein bereits 1841 und reißt neben der Tulipomanie und der South Sea Bubble auch gleich mal die Geschichte der Alchemie und Scharlatanerie mit ab. Ein irres Buch, ein schönes Buch, aber eben ein Ziegelstein. Galbraith tanzt mindestens genauso elegant durch die Geschichte der Spekulation, aber leichter und flockiger und mit viel weniger Schnörkel und Detail. Ab und an klaut er sich auch mal eine Anekdote von Mackay. Zum Beispiel die mittlerweile berühmte mit dem Seemann, der nach Holland kommt und einen reichen Händler in seinem Warenhaus aufsucht, um ihm das Eintreffen seiner Waren zu melden.

Der Händler ist natürlich, wie quasi jeder im Holland des Tulpenwahns, ein Tulpenspekulant. Zwischen Samt und Seide im Warenhaus sieht der Seemann, der gern Zwiebel isst, auch etwas liegen, das er für eine solche hält, und lässt sie in seiner Tasche verschwinden. Kaum hat er das Lagerhaus verlassen, bemerkt der Händler das Fehlen der Zwiebel. Es handelt sich um eine Semper Augustus, die teuerste Tulpenart. Rasend vor Wut durchforstet er das ganze Lager und kann die Semper Augustus nicht finden.

Da erinnert er sich an den Besuch des Seemanns. Zusammen mit seinen Angestellten stürmt er hinunter zum Quai. Dort sehen sie den Seemann sitzen, er hängt zufrieden in einer großen Rolle Seil und verzehrt genüsslich das letzte Stück seiner ›Zwiebel‹. Von dem Wert dieser Semper Augustus hätte man ein ganzes Jahr lang die Besatzung des Schiffes ernähren können. Als ich das las, saß ich gerade im Bordrestaurant bei Königsberger Klopsen mit Butterreis und hätte mir auch fast eine rohe Zwiebel dazu bestellt.

Man kann natürlich für alle Hundertseiter sagen, dass sie sich bestens auf einer Bahnfahrt erledigen lassen. Man beginnt dann Reise und Buch gleichzeitig und schließt beide auch zur selben Zeit ab. Der letzte Schrei zur Geschichte der Spekulation ist übrigens »Devil Take the Hindmost: A History of Financial Speculation« von Edward Chancellor. Doch dieses Buch ist dann auch wieder etwas umfangreicher, wenn auch noch kein Ziegelstein. Trotzdem muss man dann schon eine längere Zugreise wagen, Hamburg–München und zurück und das ganze zwei Mal, zum Beispiel.

Länge des Buches: > 115.000 Zeichen. – Ausgaben:

John Kenneth Galbraith: Finanzgenies. Eine kurze Geschichte der Spekulation. Aus dem Amerikanischen von Wolfgang Rhiel. Frankfurt/M.: Eichborn 1992.

John Kenneth Galbraith: Eine kurze Geschichte der Spekulation. Aus dem Amerikanischen von Wolfgang Rhiel. Frankfurt/M.: Eichborn 2010.

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100-Seiten-Bücher – Teil 80
Ilija Trojanow: »Der überflüssige Mensch« (2013)

Solingen, 8. Oktober 2013, 17:10 | von Bonaventura

Es ist natürlich eine hübsche Sache, dass Ilija Trojanow, auf dessen Anwesenheit nach der Auffassung US-amerikanischen Sicherheitsorgane beruhigt verzichtet werden kann, kurz zuvor ein Buch mit dem Titel »Der überflüssige Mensch« veröffentlicht hat. Allerdings geht es in dem Büchlein weniger um den Autor als um die Frage, wie der Reichtum in der Welt gerechterweise zu verteilen sei.

»Gerechtigkeit«, sagt Sancho Pansa, »ist etwas so Gutes, dass sie sogar unter den Spitzbuben notwendig ist.« Kein Wunder also, dass die Verteilungsgerechtigkeit – eines der Hauptprobleme jeder Räuberbande, also auch der, deren Mitglieder wir sind – seit 2.500 Jahren auf der Agenda der kleinen und großen Philosophen zu finden ist. Eigentlich sollte dies Problem in der sogenannten christlich-abendländischen Kultur allein aufgrund der Tatsache, dass am Grunde der christlichen Ideologie eine solide Verachtung jeglichen weltlichen Besitzes zu finden ist, durch die umfassende Armut aller ihrer Mitglieder gelöst sein. Ist es aber nicht.

Da das Christentum unserer Räuberbande also nicht zur inneren und äußeren Gerechtigkeit verholfen hat, hat vor etwa 150 Jahren ein Mann aus Trier eine Theorie zur Umverteilung allen Kapitals entwickelt. Auf der Basis dieser Theorie wurde vor etwa hundert Jahren ein praktischer Versuch gestartet, der, wahrscheinlich bedingt durch anthropologische Schwächen der Theorie, musterhaft gescheitert ist. Seitdem ist der Name des Trierers zum Tabuwort und kein neuer Großversuch einer Theorie der Verteilungsgerechtigkeit bekannt geworden. Und wo es keine Lösung gibt, bleibt nur das Klagen. Das tut Trojanow denn auch.

(Ausführliche Besprechung des Buches hier.)

Länge des Buches: > 115.000 Zeichen. – Ausgaben:

Ilija Trojanow: Der überflüssige Mensch. Unruhe bewahren. St. Pölten: Residenz 2013.

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100-Seiten-Bücher – Teil 79
Thomas Mann: »Tonio Kröger« (1903)

Freiburg, 4. Oktober 2013, 11:26 | von Mynaral

Ja, im Ministerialblatt des Sächsischen Staatsministeriums für Kultus und Sport Nr. 8/2010 unter Aktenzeichen 35-6615.30/973/1 auf S. 320 steht, dass »zum potenziellen Prüfungsstoff« des Grundkurses neben »Jakob der Lügner« und »Die Physiker« eben auch die »Ganzschrift« »Tonio Kröger« von »T. Mann« gehört.

Der mittellanghaarige, fortschrittsgewandte Referendar hatte eben etwas kumpelmäßig – in Abstimmung und kurzem Blickkontakt mit der Lehrerin – die Tonio-Kröger-Wikipedia-Seite in den ersten Minuten der Behandlung des Werks zu einer ausnahmsweise vertrauenswürdigen Quelle erhoben. Dadurch ermutigt erklärte ein nach dem Thema des Buches befragter, pflichtbewusster Mitschüler links hinter mir, es ginge hauptsächlich um den »unüberbrückbaren Gegensatz zwischen Künstlertum und Bürgerlichkeit«.

Ich war überrascht, hatte ich nach gewissenhafter Lektüre der ersten paar Seiten doch eher mit einer sich weiter fortsetzenden homoerotischen Lovestory gerechnet. Deswegen und aufgrund der augenscheinlichen Abneigung der versammelten Klassenzimmer­insassen gegenüber der Erzählung – sie stellten sie wohl alle ebenfalls höchstens auf eine Stufe mit »Grete Minde« – … jedenfalls wurde ich zur weiteren Lektüre angespornt. Und stellte etwas später – hinter mir die mit

dunkeläugig   blauäugig
brünett   blond
träumerisch   sportlich
etc.

beschriebene Kreidetafel – mindestens zwanzig Merkmale vor, die den Novellencharakter der Erzählung beweisen.

Die Dresdner hauts fonctionnaires haben das aus dem Kanon enttäuschend hervorstechende Werk mittlerweile detektiert und (so vermerkt im Ministerialblatt des SMK Nr. 7/2011 unter den Hinweisen zur Vorbereitung auf die Abiturprüfung und die Ergänzungsprüfungen 2013 an allgemeinbildenden Gymnasien, Abendgymnasien und Kollegs im Freistaat Sachsen, Az. 35-6615.30/1016/1, S. 184) den gänzlich funkzellen­überwachungsunkritischen »Tonio Kröger« mit Juli Zehs »Corpus Delicti« ersetzt.

Länge des Buches: ca. 136.000 Zeichen. – Ausgaben:

Thomas Mann: Tonio Kröger. Berlin: S. Fischer 1913.

Thomas Mann: Tonio Kröger. In: Tonio Kröger / Mario und der Zauberer. Ein tragisches Reiseerlebnis. Frankfurt/M.: Fischer-Taschenbuch-Verlag 1994.

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100-Seiten-Bücher – Teil 78
Lewis Carroll: »Alice im Wunderland« (1865)

Berlin, 20. September 2013, 10:16 | von Göttke

Als ich mich letztens wieder einmal auf der Homepage des Fachbereiches Soziologie der Universität Trier herum trieb, entdeckte ich ein Zitat:

»Könntest du mir bitte sagen, welchen Weg ich von hier aus nehmen soll?« , fragte Alice auf ihrem Weg durch das Wunderland die Katze. Worauf die Katze antwortete: »Das hängt von einem guten Teil davon ab, wohin du willst.« Ach darüber mache ich mir keine besonderen Gedanken« sagte Alice. Die Katze antwortete: »Dann ist es auch egal, welchen Weg du weitergehst.«

Keine Angabe über die Ausgabe, aus der zitiert wurde. Ich setzte sofort eine E-Mail an den PD Dr. Waldemar Vogelgesang auf und bat ihn um einen Quellenhinweis. Mir war der Wortlaut ein wenig anders, doch ebenfalls deutsch in Erinnerung, und so schlug ich in der Insel-Ausgabe nach, Seite 67:

»Würdest du mir bitte sagen, wie ich von hier aus weitergehen soll? (…) Das hängt zum großen Teil davon ab, wohin du möchtest«, sagte die Katze. »Ach, wohin ist mir eigentlich gleich –«, sagte Alice. »Dann ist es auch egal, wie du weitergehst«, sagte die Katze.

Als ich dann etwas später meinen Müll runter brachte, vernahm ich folgende Gesprächsfetzen, die, mir unvergesslich, über den Hinterhof schallten:

»Übrigens, was ist aus dem Baby geworden? (…) Fast hätte ich vergessen, danach zu fragen.«
»Es hat sich in ein Ferkel verwandelt.« (…)
»Das hab ich mir gleich gedacht.« (Insel-Ausgabe, Seite 68)

Dieser Wortwechsel beeindruckte mich derart, dass ich ihn unbedingt auf meine Homepage schreiben will, sollte ich jemals an einem Soziologie-Lehrstuhl der Uni Trier arbeiten. Vor Begeisterung merkte ich dann zurück am Bildschirm erst gar nicht, dass Dr. Vogelgesang inzwischen geantwortet hatte, so pfeilschnell und sympathisch, dass ich mich fast für meine freche, lahme Anfrage schämte. Die »Alice«-Zeilen seien seine eigene kleine Übersetzung, schrieb er, und das leuchtete mir trotz der über 30 vollständigen deutschen Übertragungen sofort ein und ich machte mich an die Arbeit:

»Hey, watt is’n aus (sic!) den Kleen jewordn?« fragte die Katze. »Fast hätt ick fajessn zu fragn.«
»Er is’n kleenet Ferkel jewordn«, antwortete Alice, gerade als wie wenn die Katze auf ganz jewöhnliche Weise zurückgekomm wär.
»Hab icks mir doch jedacht«, sagte die Katze und verschwand wieder.

Länge des Buches: ca. 142.000 Zeichen (engl.), ca. 151.000 Zeichen (dt. Erstübersetzung von Antonie Zimmermann, 1869). – Ausgaben:

Lewis Carroll: Alices Abenteuer im Wunderland. Mit Bildern von Jonathan Wolstenholme. Nach der ersten dt. Übers. von Antonie Zimmermann. Getreu & behutsam erneuert von Gerd Haffmans. Leipzig: Haffmans Verlag bei Zweitausendeins 2012.

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100-Seiten-Bücher – Teil 77
Philip Roth: »Die Brust« (1972)

Solingen, 14. August 2013, 18:49 | von Bonaventura

In den frühen Morgenstunden des 18. Februar 1971 erleidet der New Yorker Literaturprofessor David Kepesh in seiner Wohnung einen körperlichen Zusammenbruch und wird ohnmächtig. Als er im Krankenhaus wieder erwacht, hat er sein Sehvermögen eingebüßt und kann sich nicht mehr bewegen. Ihm wird mitgeteilt, er habe sich in eine 155 Pfund schwere, weibliche Brust verwandelt. Dabei bleibt’s. Handlung in einem wesentlichen Sinn hat die Erzählung weiter keine; Kepesh verbringt seine Tage als Brust zwischen Erinnerungen, Gesprächen, Selbstbespiegelungen und erotischen Fantasien.

»Die Brust« ist einerseits ein selbstironischer und leicht satirischer Erguss über die immerwährende Präsenz der weiblichen Brust in der männlichen Psyche, andererseits ein hübsches Beispiel für Literatur aus Literatur. Die Erzählung speist sich im Wesentlichen aus drei literarischen Quellen: Franz Kafkas »Die Verwandlung«, Nikolai Gogols »Die Nase« (die Kepesh als Professor regelmäßig in seinen Kursen behandelt) und Jonathan Swifts »Gullivers Reisen« (speziell der Reise nach Brobdingnag). Damit das auch der US-amerikanische Leser begreift, hat es Roth freundlicherweise gleich mit ins Buch hineingeschrieben. Irgendjemand muss halt gebildet sein.

Die in der »Brust« erfundene Figur Kepesh hat sich dann noch als sehr fruchtbar erwiesen: Roth hat zwei weitere, deutlich umfangreichere Bücher – »Der Professor der Begierde« (1977) und »Das sterbende Tier« (2001) – aus der narzisstischen Gedankenwelt des Professors erzeugen können.

(Gesamtbesprechung der Kepesh-Trilogie hier.)

Länge des Buches: ca. 93.000 Zeichen (engl.) (?). – Ausgaben:

Philip Roth: Die Brust. Aus dem Amerikanischen von Kai Molvig. München; Wien: Hanser 1979.

Philip Roth: Die Brust. Deutsch von Kai Molvig. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt-Taschenbuch-Verlag 2004.

(Einführung ins 100-Seiten-Projekt hier. Übersicht über alle Bände hier.)


100-Seiten-Bücher – Teil 76
Wilhelm Genazino: »Das Licht brennt ein Loch in den Tag« (1996)

Berlin, 12. August 2013, 10:43 | von Cetrois

Eigentlich hätte ich gerne mit der Rezension von Paul Watzlawicks »Anleitung zum Unglücklichsein« begonnen, hätte ich doch mit der Anekdote aufwarten können, dass uns die Verfilmung dieses Werks vor unserer damals noch kölnischen Haustür einmal einen autofreien Sonntag beschert hat, dazu die gelangweilte, ponchotragende Johanna Wokalek und einen schlappohrigen Filmhund, der stundenlang an der Aufgabe scheiterte, einen Zebrastreifen zu überqueren.

Allerdings wurde Watzlawicks Ratgeber im 100-Seiten-Projekt schon die gebührende Aufmerksamkeit zuteil und außerdem habe ich weder das Buch gelesen noch den Film gesehen. Gesehen habe ich am Wochenende nach Jahren mal wieder Christopher Nolans »Memento«. Anders als Hauptdarsteller Guy Pearce tätowiert sich W. in W. Genazinos Briefroman »Das Licht brennt ein Loch in den Tag« die Erinnerungen nicht mit Kugelschreibertinte auf die Brust, sondern schreibt sie, vermutlich mit Füllfederhaltertinte, an seine Freunde, die mit ihm alt geworden sind.

Genazino sind einige Inkonsistenzen anzukreiden: Zum Beispiel schildert W., wie der Kellner eines italienischen Cafés jedes Mal zusammenzuckt, wenn seine Gäste »Fleischwurst mit Cappuccino und Rippchen mit Kakao« bestellen (S. 36) – selbst dieses Mindestmaß an kulinarischem Feingefühl darf man jedoch vom Kellner eines italienischen Cafés, das allen Ernstes Fleischwurst und Rippchen führt, plausiblerweise gar nicht erst erwarten.

Davon abgesehen sind Genazino aber eine Vielzahl genauer und oft anrührender Beobachtungen gelungen: Vom Wind etwa, der unter das Leichentuch eines Eisenbahnselbstmörders fährt, der wie so viele den Tod auf der Strecke von Bonn nach Köln gefunden hat, auf der ich damals, erinnere ich mich jetzt, pendelnd zum ersten Mal »Das Licht brennt ein Loch in den Tag« las.

Länge des Buches: ca. 132.000 Zeichen. – Ausgaben:

Wilhelm Genazino: Das Licht brennt ein Loch in den Tag. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 1996. S. 5–126 (= 122 Textseiten).

Wilhelm Genazino: Das Licht brennt ein Loch in den Tag. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt-Taschenbuch-Verlag 2000.

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100-Seiten-Bücher – Teil 75
Martin Walser: »Ein fliehendes Pferd« (1978)

Düsseldorf, 9. August 2013, 08:12 | von Luisa

Irgendwann wollte ich mal ein Buch von Walser lesen und weil Kritiker geschworen hatten, dass »Ein fliehendes Pferd« sein bestes sei und ewig bleiben werde, kaufte ich das. Es hatte bloß 151 Seiten, ein klarer Vorzug, und nach der Lektüre habe ich dann guten Gewissens mit Walser abgeschlossen und jedes Jahr den neuen Walser an mir vorbei ziehen lassen, bis es mich jetzt zum ersten Mal an den Bodensee verschlug, nach Wasserburg. Dort hat der Arzt, mit dem ich reiste, als Kind sehr eindrucksvolle Ferien verbracht, auf dem Grundstück des berühmten Professors Felix Hoppe-Seyler, der gegen 1860 die Physiologische Chemie erfand und sich direkt am See ein großes Haus hingebaut hatte, das lange in der Familie blieb. Zu beiden Seiten des Grundstücktors pflanzte er Mammutbäume, die nach und nach so riesig wurden, wie der Name versprach.

Während der Arzt mit dem Fahrrad in Wasserburg herum fuhr, um die Bäume zu finden, habe ich »Ein springender Brunnen« zu lesen begonnen. Darin fand ich die Mammutbäume schon auf Seite 20, denn der kleine Martin Walser, der im Buch Johann heißt, trifft einen Wanderfotografen, der ihn genau vor die Hoppe-Seyler-Gartenmauer dirigiert und ein Foto von ihm und den Mammutbäumen macht. Gleich auf der nächsten Seite erscheint dann auch das alte Fräulein Hoppe-Seyler, die Tochter des Professors, die sich jedes Jahr vom Gastwirt und Kohlenhändler Walser die Briketts liefern lässt, zehn, zwölf Zentner, mit dem Handwagen herangeschoben, und der kleine Martin muss schieben helfen. Da geht er dann natürlich jedes Mal staunend zwischen den Mammutbäumen durch, von denen manche Wasserburger behaupten, sie stammen aus Kalifornien, andere dagegen, der Professor habe sie aus Sumatra mitgebracht, und der kleine Martin überlegt, wem er glauben soll.

Als ich gerade mit dem zweiten Kapitel fertig bin, kommt der Arzt zurück und hat die Bäume gefunden. Sie anzuschauen ist wunderbar, ihnen im Buch zu begegnen auch, aber noch wunderbarer ist es, von Helmer Gierers Hermine zu lesen, die »ohne sich etwas zu vergeben« bei Fräulein Hoppe-Seyler putzt. Ihrer Meinung nach stammen die Bäume aus Sumatra und fertig. Einmal ist das Fräulein Hoppe-Seyler nicht daheim, als die Briketts angefahren werden, und da kümmert sich natürlich Helmer Gierers Hermine darum. Vorsichtig, damit sie nicht brechen und es möglichst wenig staubt, müssen die Walsers sie in die Kelleröffnung schütten, deshalb ruft Hermine hofele-hofele aus dem Keller herauf, das heißt sachte-sachte.

Dieses hofele-hofele gefiel mir so gut, dass ich, wieder zuhause, »Ein fliehendes Pferd« aus dem Regal zog und ein bisschen darin blätterte, und ja, zweifellos, das Pferd mag rennen, wie es will, hinter hofele-hofele bleibt es ewig zurück.

Länge des Buches: ca. 169.000 Zeichen. – Ausgaben:

Martin Walser: Ein fliehendes Pferd. Novelle. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1978.

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100-Seiten-Bücher – Teil 74
Boris Pasternak: »Über mich selbst« (1956)

Berlin, 7. August 2013, 08:33 | von Josik

Boris Pasternak hat zwei Autobiografien geschrieben, eine am Ende seines Lebens und die andere schon in seinen Dreißigern. Hier soll natürlich nur die Autobiografie besprochen werden, die er am Ende seines Lebens geschrieben hat. Es wäre ja Unfug, sich mit einer in jungen Jahren entstandenen Autobiografie auseinanderzusetzen, wenn das Leben dieses Autors dann seltsamerweise noch jahrzehntelang weitergeht. Am meisten hat mich in diesem »Versuch einer Autobiografie« die folgende Stelle bestürzt. Über sein Verhältnis zu Sergej Jessenin schreibt Pasternak: »Mal schwuren wir uns in Tränen zerfließend ewige Treue, mal prügelten wir uns bis aufs Blut, und man mußte uns gewaltsam trennen.« Ein sich prügelnder Pasternak? Der zukünftige Nobelpreisträger ein Lausejunge und Raufbold? Das kann man sich schwer vorstellen, wo er doch auf sämtlichen Porträts immer so durchgeistigt aussieht. Diese Autobiografie hält also die eine oder andere schöne Überraschung bereit und man freut sich darüber sehr, denn die hier berichteten Episoden machen Pasternak nahbar und menschlich.

Länge des Buches: > 115.000 Zeichen. – Ausgaben:

Boris Pasternak: Über mich selbst. Versuch einer Autobiographie. Aus d. Russ. von Reinhold von Walter. Anm. von Victor Frank. Frankfurt/M.: S. Fischer 1959.

Boris Pasternak: Über mich selbst. Versuch einer Autobiographie. Überarb. u. erg. von Heddy Pross-Weerth. Überarb. u. erg. Ausg. Frankfurt/M.: Fischer-Taschenbuch-Verlag 1990.

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100-Seiten-Bücher – Teil 73
Jeremias Gotthelf: »Die schwarze Spinne« (1842)

Berlin, 5. August 2013, 08:40 | von Josik

Der nachherige Welterfolg »Fifty Shades of Grey« war anfangs bekanntlich nichts anderes als Fanfiction, eine Fortschreibung von »Twilight«. Was sich aber mindestens ebenso gut für eine selbstausgedachte und selbstgeschriebene Fortführung anbieten würde, wäre »Die schwarze Spinne«, eine Novelle, in welcher der Falke eine Spinne ist. Ähnlich wie bei »Twilight« ist nämlich »Die schwarze Spinne« gleichermaßen durchsetzt von realistischen und aber auch Fantasy-Elementen. So verwandelt sich z. B. eine Frau in eine Spinne und einer anderen Frau schwillt das Gesicht auf, »wochenlang konnte man weder Nase noch Augen sehen, den Mund mit Mühe finden«.

Der Gruselfaktor ist wirklich enorm hoch. Und auch die Frage, warum in ungerechten politischen und sozialen Systemen die doch längst überfälligen Revolutionen so oft ausbleiben, wird, im Hinblick auf die kleinen Leute, ganz nebenbei beantwortet: »Not und Plage hatten den Mut ihnen ausgelöscht, so daß sie keine Kraft mehr zum Zorne hatten, sondern nur noch zum Jammer.« Fazit: Wenn die Uni Bern sich sputet, dann geht es hoffentlich sehr viel schneller als die angekündigten »mindestens 30 Jahre«, bis alle ca. 67 Bände der Historisch-Kritischen Gesamtausgabe der Werke von Jeremias Gotthelf erschienen sind.

Länge des Buches: ca. 181.000 Zeichen. – Ausgaben:

Jeremias Gotthelf: Die schwarze Spinne. Novelle. Hrsg. von Joseph Kiermeier-Debre. München: Dt. Taschenbuch-Verlag 1997.

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